Tagebuch 19
von Hans-Joachim Heyer

26.4. - 11.6.2003

Stichwörter: Pöbel - Folter - übergesetzlicher Notstand - neuer Lebensabschnitt - Richtiges Lesen - Hüter der Schwelle - Gefühlsmensch - Dämonen - Brückenbau - Engel - Verschmelzung von Vorder- und Hintergrund in der Physik - Rilke - Schöpfung und Schöpfer zugleich - Vermieter - Philosoph als Mensch - Aktien - Geldvernichtung - Krieg als Motor des Fortschritts? - Def.: Fortschritt - Krankheit und Gesundheit - Kapitalisierung der Moral - aktive und passive Freiheit - Unterschied zwischen Totem und Lebendigem - Das Bleibende stiften die Dichter

26.4.2003: Stammtischgespräche: Während eines langen Spazierganges mit einem Freund diskutierte ich meine Sorge, ein besseres Wort für "Pöbel" zu finden. Mein derzeitiger Favorit: "Leute"! - Ich müßte allerdings einige Dutzend bis hundert Stellen meiner HP ändern. Der Freund meinte, ich solle es ruhig bei "Pöbel" belassen, denn er habe wieder einmal genau diesen elenden Pöbel erlebt. Es sei zum Kotzen, dieses Pöbelverhalten, und da sei ein Wort, das dem Pöbel nicht gefalle, angemessen. Dem Pöbel gefalle NIEMALS ein Wort, das ihn angemessen beschreibe, denn es zeichne ihn aus, daß er in der Tiefe seiner Seele große Berge von fauligem Unrat und so manche Leiche berge. Selbsterkenntnis bedeute ihm immer, diesem faulen Schleim aufzurühren: dem Pöbel eine unzumutbare Aufgabe.

Er habe Gelegenheit gehabt, einem Stammtischgespräch zuzuhören. Es ging um die beiden Kindermörder, die vor Kurzem gefaßt worden sind. Einhellige Meinung der Stammtischrunde: "Schwanz ab, Kopf ab, kurzer Prozeß, gar Lynchjustiz! Zustimmung zur populistischen Rede eines CDU-Politikers, der die Ausrufung eines "übergesetzlichen Notstandes" forderte, um die Folter wieder einzuführen."

Des Freundes Einwand gegenüber der Stammtischrunde, was hier gefordert wurde, sei allgemeine Anarchie und Willkür, wurde mit Befremden abgewehrt. Er sagte zu ihnen: Wer dem, was hier gefordert wurde, zustimme, sei schlimmer, als die Kindermörder, denn was diese im Einzelfall taten: Anarchie, Gesetzlosigkeit und Willkür, fordere diese Stammtischrunde und dieser CDU-Politiker nun im Allgemeinen! Die Kindermörder begingen "bloß" ein einziges Verbrechen, aber was der Stammtisch und dieser Politiker fordere, seien Verbrechen im ganz großen Maßstab: die Zerstörung unserer gesamten Zivilisation und Kultur!

Dieser Pöbel sehe einfach nicht, daß zB eine Wiedereinführung der Folter für Straftäter aufgrund fehlender klarer Abgrenzbarkeit eine Ausweitung des Folterns zur Folge hätte: Irgendwann würde man auch andere, geringere Straftäter, dann auch Zeugen und irgendwann jedermann foltern! Schlimmer noch sei die Ausrufung des "übergesetzlichen Notstandes". Wer das tue, stelle sich über das Gesetz! Das dürfe es nicht geben, denn kein Mensch habe dazu das Recht! Schließlich handele es sich um etwas Übergesetzliches = Außergesetzliches! Da könne es also sein, daß es jemandem nicht gefalle, sich an die Gesetze zu halten. Er ruft den übergesetzlichen Notstand aus. Dann könne er jedes Verbrechen (einschließlich Mord an Kindern!) begehen und es schön reden. Siehe die Bush-Regierung: Sie gebe vor, Terrorismus zu bekämpfen, habe faktisch bereits eine Art "übergesetzlichen Notstand" ausgerufen: Die USA sehen sich nicht mehr an internationale Gesetze und Verträge gebunden: Das sei Welt- und Staats- Terrorismus pur! Die US-Regierung sei zum größten Terroristen geworden, töte bedenkenlos tausende Kinder und zeige nun mit dem Finger auf die kleinen Ganoven wie Saddam! "Ihr seid nicht besser als Bush, zum Glück jedoch ungefährlicher!"

Der Freund meinte zu mir, ich sei in letzter Zeit ja schon härter gegenüber diesem Gesindel geworden - ich würde mit dem Pöbel bereits nicht mehr diskutieren, sondern nur noch Fragen beantworten. Das sei richtig. Gurdjieff allerdings sei noch viel härter gewesen als ich: Er forderte keine Bezahlung von seinen Schülern, sondern ihren gesamten Besitz! Erst dann hatte er sich bereit erklärt, aus diesem Gesindel Menschen zu machen. Meine Antwort war, ich sei nicht Gurdjieff, und ich werde trotzdem versuchen, das Wort "Pöbel" durch "Leute" zu ersetzen.

Ich halte "Leute" für angemessener, als "Pöbel", denn dieser Begriff sei genauso neutral, wie die Leute, die ich damit benennen wolle. Und ich wolle selbst die blödesten Stammtischbrüder nicht zusätzlich verletzen; sie seien bereits Schwerverletzte - beleidigte Seelen. Ihr Wort sei entzaubert - nichts wert. Ich messe die Leute nicht an dem, was sie sagen. Sie sind Schafe, denen diese unflätigen Worte von BILD oder anderen Schmierblättern und Meinungsmachern in den Mund gelegt seien. Diese Stammtischbrüder sind für mich denkunfähige Schafe, die von guten Hirten geführt werden müssen und nicht verachtet werden sollten. Verantwortungsbewußte Hirten müssen den Leuten bessere Worte in den Mund legen. Ich sagte zum Freund: "Du gibst den Leuten die Schuld. Damit unterstellst du ihnen einen freien Willen. Ich tu das nicht. Ich gebe denen die Schuld, die diese Leute dermaßen zerstört haben. Ich beschuldige diese Meinungsmacher und Menschenverächter, wie sie sich zB in den BILD- Redaktionen tummeln, die die Leute mit simplen, aber falschen Worten unmerklich in Lebenssackgassen führen."

27.4.2003: Eine Weitere Alternative für "Pöbel" wäre "Gemeine" oder "der gemeine Mann". Auch "Bürger" wäre möglich, denn als Bürger wurden jene Menschen bezeichnet, die den Schutz der Stadtmauern genossen. Das paßt gut zur Bunkermentalität des Bürgers. Meine Suche für die beste Bezeichnung für die Menschengruppe der Bewußtseinsstufen 1 und 2 (Gesetz der Macht) ist noch nicht zu Ende.

3.5.2003: Neuer Lebensabschnitt. Es sind "stürmische "Zeiten. Ein weiterer Umzug steht an. Kaum wohne ich in Düren (seit dem 1.3.), haben neue "Zufälligkeiten" ergeben, daß meine Lebensgefährtin und ich in etwa einem Monat in den Hunsrück nach Dienstweiler (bei Birkenfeld, meinem Geburtsort) in mein Elternhaus umziehen werden. Dort werden wir die untere Etage bewohnen. Was wird sich ändern? Nun, wir werden viel mehr Zeit in der Natur verbringen: im Wald und im großen Garten, den wir bewirtschaften wollen. Wir werden ruhiger leben: kein Autolärm mehr wie hier in Düren. Wir werden kostengünstiger leben: Weniger Miete samt Nebenkosten, weniger Ausgaben für Lebensmittel und Heizung (Kartoffeln, Obst, Gemüse etc. aus dem Garten, Holz zum Heizen aus Garten und Wald). Ich werde mich wieder mehr der Bonsaipflege widmen und im Wald Pilze sammeln und lange Wanderungen unternehmen. Für mich wird das eine Rückkehr zu den Wurzeln sein...

4.5.2003: Lesen und Erinnern: Ich werde nun ein großes Geheimnis verraten: Wenn ich ein Buch lese, streiche ich mit weichem Bleistift alles an, was mich erregt: was mich begeistert oder abstößt, alles, was mich aus meiner Neutralität herausreißt. Alles, was Emotionen in mir weckt, kann Nahrung meiner Seele sein. Diese Nahrung kommt allerdings aus dem Inneren der Seele, aus ihrem "Kuhmagen"! Alles Verdrängte, Unverdaute, was sie ansammelte in ihrem Kuhmagen, muß "auf den Tisch" und muß wiedergekäut werden, bis es verdaut werden kann. Eine Analyse aller von mir unterstrichenen Sätze eines Buches zeigte, daß diese nichts Neues (Fremdes) enthielten, sondern eigene Erinnerungen waren, die andere Menschen für mich bloß formuliert hatten. Mit guten Büchern, in denen ich also Vieles unterstreichen kann, feiere ich Feste der Erinnerns!

Mit Hilfe des Bücherlesens förderte ich auf diese Weise fast alles Unbewußte zu Tage. Und dann war der Punkt erreicht, gefahrlos magisch tätig zu werden. Der Hüter der Schwelle* war überwunden. Bei anderen Menschen, bei denen ich beobachtet hatte, daß sie die "Kernsätze" guter Bücher nicht gefunden hatten, fand ich, daß ihre Funde einem andern Zweck dienten, als mir, nämlich der Verstärkung des Deckels auf dem Kellereingang ihrer Seelen. Menschen mit allzuvielen Leichen im Keller, mit allzuvielem Unrat und Unverdautem am Grunde ihrer Seelen, erleben bei ihren Selbstbewußtwerdungsversuchen Schreckliches. Diese Schreckensgeister, die sich dem Unreifen, der Selbsterkenntnis sucht, zeigen, nennt man in magischer Literatur den "Hüter der Schwelle". Menschen, die diesen Unrat nicht fördern, sondern ihn verstecken und mehren, sind "böse". Sie fallen tiefer und tiefer...

Vor Jahren lieh mir ein selbsternannter "Anthroposoph", der mir in Gesprächen schon den haarsträubensten Unsinn erzählt hatte, ein Buch von Jean Gebser. Das Buch war gut, aber das von diesem "Anthroposophen" Unterstrichene zeigte mir, warum er diesen Unsinn erzählte. Unterstrichen waren sämtliche Gefühlsbezeugungen und bildstarke, anschauliche Beispiele. Nie unterstrichen waren Theorien und rationale Erklärungen für die Beispiele. Ich hatte es mit einem Gefühlsmenschen zu tun. Er strebte nicht nach Einsicht, sondern nach "großen" Gefühlen, bzw. nach "großen" Bildern! Da er für Rationales unzugänglich war, konnte er an seinen Gefühlen nicht arbeiten. Wo er beispielsweise haßte, konnte ihm keine Macht der Welt diesen Haß austreiben. Dazu wäre rationale Reflektion erforderlich gewesen. Seine Gefühle - die inneren Bilder - entwickelten sich nicht. Da sich alles, was sich nicht entwickelt, zurückentwickelt, wurden die Gefühle/Bilder noch größer, genauer: noch gröber. Er war ein "unverbesserlicher Schwärmer", der jedem Demagogen begeistert folgte, der in markigen Worten kräftige Bilder, in denen sein Gefühl schwelgen konnte, zeichnete. So wunderte es mich nicht, daß er das Bild eines Göbbels mit seinem "Wollt ihr den totalen Krieg?" zunehmend faszinierend fand. Er stellte sich ein Flammenmeer vor, und lauter kämpfende Helden im Feuer, ihren Untergang johlend begrüßend. Aus einem sentimentalen Freund der Natur war ein rechtsradikaler Fanatiker geworden.

Da ich meine Theorie, daß er "starke Bilder" brauchte, prüfen wollte und er sich immer noch als Naturliebhaber bezeichnete, überredete ich ihn zu einem gemeinsamen Waldspaziergang. Dieser Spaziergang entwickelte sich zu einem Abenteuer. Der Anthroposoph, der immer so begeistert von den Naturgewalten erzählte, zeigte, daß er in einem deutschen Wald ein Fremdkörper war. Er ging immer genau in der Mitte des Weges aus Angst vor Zecken; pausenlos schlug er um sich, um vermeintliche und reale Mücken abzuwehren, und als wir uns auf eine Bank setzten, zappelte er mit den Füßen herum, aus Angst, es könnten Ameisen in seinem Hosenbein hochkrabbeln. Währenddessen erzählte er von der Attacke eines Eichhörnchens, welches ihm aus unerfindlichen Gründen auf den Kopf gesprungen war und ihn die Kopfhaut zerkratzt hatte! Ich dachte nur: Er wehrt ab! Für ihn war der gesamte Spaziergang in der Natur ein Abwehrkampf! Das sah ich! Und was redete er? - Er schwärmte von der Natur, genauer: von starken, gefühlsschwangeren Bildern der Natur, die er Büchern entnommen hatte. Dieses Große hatte ihn blind gemacht für die leisen Töne. Er nahm nur noch starke Reize wahr.

So sah er nicht die leisen Zeichen der Zuneigung einer Frau, die ihn liebte. Er beachtete sie nicht. Stattdessen folgte er einem Schwätzer der Anthroposophenszene. Die Folge war ein "großes Scheitern": ein johlender Untergang im Flammenmeer der Welt. Die Hüter der Schwelle hatten seine Seele abgewiesen. Heute würde ich ihm als Lektüre (Werkstatt.html#1110) empfehlen, aber ich bezweifele, daß er diese Informationen hätte wahrnehmen können.

Es gehört zu den großen Mysterien der Menschen, daß sie Meister der selektiven Wahrnehmung sind. Dies ist ja auch der Grund, weshalb ich es wage, meine Erkenntnisse zu veröffentlichen. Unreife oder Unwürdige werden sich bereits im Vorfeld von meinen Texten angewidert abwenden. Sie werden Argumente zu Hauf finden, die ihnen die Unhaltbarkeit meiner Behauptungen beweisen werden. Jeder versteht, was er verstehen KANN. Ein Jeder kann sich nur erinnern dessen, was bereits in ihm liegt. Und erst, wenn alle Erinnerungen "auf dem Tisch" liegen und verstanden sind - ich erinnere an Castanedas Rekapitulation seines gesamten Lebens - ist die Seele ruhig und kann Zauberer werden: Konstrukteur seiner selbst und seinem materiellen Spiegelbild, der Welt.

* Hüter der Schwelle (5.5.): Um höhere Bewußtseinsstufen zu erklimmen, müssen die "Prüfungen" auf der Stufe des alten Bewußtseins gemeistert sein. Das heißt, daß alles Verdrängte verarbeitet sein muß. Alles Unangenehme und Unpassende, was der Neophyt ins Unbewußte geschoben hat, organisiert sich - unkontrollliert vom Wachbewußtsein - von allein weiter und wächst zu einem autonomen "bösartigen" Gedankenkomplex heran (der sich dann auch körperlich als Krebs manifestieren kann). Früher nannte man solche abgestoßenen selbstdenkenden Untereinheiten unserer Seele "Dämonen". Sie sind unsere größten inneren Feinde, die alles zu zerstören trachten, was wir im Wachbewußtsein wollen. Sie sind verantwortlich für unsere gescheiterten Pläne, für unser Unglück. Außerdem verhindern diese Dämonen unser seelisches Wachstum, wenn wir sie nicht in unsere Seele integrieren. Aus diesem Grund nennen Magier sie "Hüter der Schwelle" zur höheren Welt. Wie man diese Widersacher in die eigene Seele integriert, ohne Schaden zu nehmen, lernt man in der Schule für Lebenskunst.

5.5.2003: Einfach: Bei der Erstellung meines Stichwortverzeichnisses fiel mir auf, daß ich in meinen Texten stets folgendermaßen vorgegangen war: Ein Problem aus der Welt wurde an mich herangetragen. Ich griff es auf und führte es auf meine Philosophie zurück, wo stets die Lösung zu finden war. Das Problem war stets in eine komplexe, komplizierte Sachlage eingebunden; die Lösung war stets einfach. Mir fiel ein, daß meine vielen Texte einem Brückenbau dienen. Ich baute mit ihnen Brücken von den unendlich mannigfaltigen Erscheinungen der dinglichen Welt mit ihren Milliarden glitzernden Facetten und verwirrenden illusorischen Spiegelungen und Reflexen hin zu meiner einfachen philosophisch gegründeten Welt. Mir wurde bewußt, daß nicht meine Welt, sondern die zerbrochene materielle Welt kompliziert ist. Nicht das Denken der Menschen, welche glauben, was sie sehen, ist einfach, sondern meines! Mein Philosphieren diente nicht der Komplexitätszunahme, sondern der Vereinfachung (Generalisierung). Erst diese eröffnete mir dann neue Freiräume zur Erforschung höherer Seinsweisen und Freiheitsgrade. In jener höheren Welt allerdings nahm die Komplexität meiner Präsenz zu. In "Schule" berücksichtigte ich soeben diese Erkenntnis.

7.5.2003: Engel: In der klassischen Physik liegt eine Spaltung des "?" in Vorder- und Hintergrund vor. Vordergrund ist die Materie und ihre Energien; Hintergrund ist das Raum-Zeit-System. Alle physikalischen Prozesse finden in Raum und Zeit statt. Jeder Atomphysiker weiß, daß es im Mikrokosmos eine Grenze gibt, jenseits derer Vorder- und Hintergrund verschmelzen: Bühne und Schauspiel werden eine Einheit. Raum und Zeit werden zu Akteuren im Nirgendwo und Nirgendwann. Es gibt hier keine Kausalität, nichts Beschreibbares, also weder Raum noch Zeit noch Materie. Beobachter und Beobachtetes unterscheiden sich nicht mehr. Es gibt überhaupt keine (materiellen) Unterschiede im "?" mehr. Es gibt nur noch Strukturen des "?", und es gibt sie nicht nur im Mikrokosmos, sondern auch im Makrokosmos, denn auch diese Unterscheidung wird von bewußten Wesen gemacht. Es ist auch nicht so, daß Raum, Zeit, Materie miteinander verwoben wären, nein, als Verwobenes gibt es weder Raum, noch Zeit, noch Materie, sondern nur ein verwobenes "?".

Diese Grenze, ab der die Physik aufhört, ist nicht physikalisch bestimmt! Sie ist abhängig allein von der Relation des "?" zu einem bewußten Wesen, einem Physiker zum Beispiel! Nicht materielle Atome bringen die Wahrscheinlichkeitsfunktion (Wellenaspekt der Materie) zum Kollaps (-> Teilchenaspekt), sondern der "Aspekt", der Blick eines bewußten Wesens, also eines Wesens, das bereits Innen- und Außenwelt hat und zu träumen vermag! Ausschließlich bewußte Wesen haben eine Innenwelt, sind eine "?"-Materie-Relation. Alles andere bleibt "?". Alles, was Innenwelt hat, hat die Wellenfunktion zum Kollaps gebracht und hat damit eine materielle (Traum-) Welt geschaffen. Materie gibt es nur für bewußte Wesen. Denn alle Materie ist geträumt. Der "Traumgenerator" funktioniert, indem er eine Grenze schafft zwischen Vorder- und Hintergrund. Er erschafft einen Rahmen und in diesen Rahmen hinein wird der "Rest" gestellt: als Materie in Raum und Zeit. Bewußtsein ist ein "?"-Materie-Relation-System.

Diese Spaltung in Vorder- und Hintergrund ist nicht real, sondern bloß eine andere Sichtweise. Mit Hilfe einer ganz bestimmten Philosophie ("Welt- und Selbsterkenntnis") ist ein Mensch in der Lage, die Deckungsgleichheit der Strukturen von Innen (Selbst) und Außen (Welt) zu erkennen und den Dualismus intellektuell aufzuheben: Der Philosoph selber ist dann Einheit von Innen- und Außenwelt im ewigen Hier und Jetzt. Und er ist es, ohne den dualistischen Standpunkt zu verlieren. Dieser Erkenntnisprozeß allerdings ist real. Der Erleuchtete lebt im Ewigen und Vergänglichen zugleich. Er ist unsterblich und sterblich zugleich.

Rilke schrieb in seiner Ersten Elegie: "Denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt. ... Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben, Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben; das, was wir in unendlich ängstlichen Händen, nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug. Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam, alles, was sich bezog, so lose im Raume flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig Ewigkeit spürt. - Aber Lebendige machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterschieden. Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung reißt durch beide Bereiche aller Alter immer mit sich und übertönt sie in beiden."

Rilke beschreibt Wesen, die die Außenwelt als sichtbar gewordene Innenwelt, beides schwimmend im "?", erkennen, als Engel. Sie erkennen das Materielle als Totes, das Lebendes beschreibt. "Seltsam" nennt Rilke die Lockerung ("Flattern") der Weltbesessenheit, indem man erkennt, daß man Schöpfung und Schöpfer zugleich ist. Wer sich als Einheit von Schöpfung und Schöpfer erkennt, dem beginnt die Schöpfung zu "flattern", denn sie wird flexibel und man erkennt die Aufeinanderbezogenheit von Innen und Außen.

Nicht mehr "so stark (zu) unterscheiden" bedeutet, selber außerhalb des Bezugssystems Innen/Außen zu sein, indem man dieses System erkennt. Die Grenze zwischen Innen und Außen verschwimmt, wenn man sie durchschaut. Der Engel unterscheidet nicht mehr so stark. Aus diesem Grund sind für ihn auch Gebräuche nicht mehr bindend. Selbst der eigene Name ist nicht mehr maßgeblich. Die "ewige Strömung", die beides, Subjekt und Objekt, umfaßt, ist wohl jenes "?".

9.5.2003: Widerstand: Ich hatte wieder einmal Gelegenheit, die Widerständigkeit der Welt kennenzulernen. Wie vor ein paar Wochen in "Spiele" geschehen, geschah es diesmal, daß mir die neue Vermieterin als rein funktionaler Agent des Geldsystems gegenübertrat, als ich die Modalitäten meiner schnellstmöglichen Wohnungskündigung mit ihr besprach. Mir zeigte sich, daß ich es hier mit einem Menschen (Vermieterin) zu tun hatte, der sich mir überhaupt nicht als Mensch zeigte, sondern ausschließlich als Verkörperung der Intelligenz des Geldes. Diese Frau hatte nicht einen einzigen persönlichen Gedanken geäußert. Sie war, zumindest in meiner Gegenwart, vollständig Geschäftsfrau. Ihr Verhalten war ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu verstehen.

Es war für mich faszinierend, solch ein Exemplar der menschlichen Gattung zu erleben. Eine persönliche Beziehung ließ sich nicht herstellen - auch vorher bei Schließung des Mietvertrages und in den Zeiten danach nicht. Man kann das Verhalten natürlich verstehen: Die Frau besitzt womöglich mehrere Mietshäuser, die sie als Einnahmequelle betrachtet. Ständig zieht hier jemand ein, und ein anderer aus, sodaß die Vermieterin es aufgegeben haben mag, zu jedem Mieter ein persönliches Verhältnis einzugehen. Ihr Verhältnis zu den Mietern ist rein geschäftlich. Sie in die Kategorien wie "Gut" und "Böse" einstufen zu wollen, wäre unangemessen.

Die Widerständigkeit erlebte ich dadurch, daß sie nicht meinem Willen nachkam, - vielleicht nicht einmal ihrem eigenen - sondern ausschließlich nach den Spielregeln des Kapitalismus spielte. Ich spielte, als ich das streng deterministische, nicht von einem Bewußtsein gesteuerte Verhalten der Frau verstand, sofort mit und machte nur noch emotionsfreie Aussagen im Rahmen der kapitalistischen Regeln, die ausschließlich meinen Eigennutz im Sinne hatten, womit ich das Weltbild der Frau natürlich bestätigte. Sie wird weiterhin behaupten können, daß alle Menschen nur an eines denken: ans liebe Geld!

Meine Magie hatte innerhalb dieses Regelsystems keine Chance. Sie kann hier nur "umfangend" wirken - um das Gesamtsystem herum. Anders war es bei meiner Vermieterin in Mainz. Diese Frau war das Gegenteil einer Geschäftsfrau. Das hatte den Vorteil, daß es keinen Mietvertrag gab; alles basierte auf mündlichen Absprachen, was mir gut gefiel, denn ich hatte es mit einem Menschen zu tun, der fühlte und sich im Handeln von Gefühlen leiten ließ. Für mich hatte das natürlich nicht nur Vorteile: Ich war insgesamt dreimal gekündigt worden, freilich ohne Folgen; es gab immer wieder schöne Versöhnungsfeiern, bei denen wir uns gegenseitig entschuldigten. Mehrfach durfte ich ein leerstehendes Zimmer mitbenutzen und bei schlechter Laune der Vermieterin wurde dieses Zugeständnis grundlos zurückgenommen. Für die anderen Studenten der WG war dieses Verhalten der Vermieterin eine Zumutung. Ich fühlte mich in diesem Chaos, in dem nichts endgültig geregelt war, sehr wohl, denn hier konnten sich immer wieder meine "Regeln" - von allen unbemerkt - durchsetzen. Ich fühlte mich wie ein Fisch im Wasser.

Die Vermietern hier in Düren hingegen erlebe ich nicht als Mensch, sondern als Agentin des kapitalistischen Systems. Meine Magie konnte diesen Brocken nicht schlucken; meine Seele konnte ihn nur umfließen mit der Folge, daß meine Freundin und ich hier ausziehen und an einem Ort wohnen werden, der wesentlich schöner sein wird und an dem Geld weniger und soziale Kontake mehr zählen werden.

13.5.2003: "philosophenlexikon.de" bietet einen Service an, den ich seit ein paar Tagen auch auf meiner Startseite nutze. Wie nicht anders zu erwarten, gibt es in diesem Zitatenservice ab und zu Sprüche, mit denen ich nun gar nicht übereinstimme. Da wird zum Beispiel David Hume zitiert mit dem Spruch "Sei ein Philosoph, aber bleibe mitten in all deiner Philosophie ein Mensch." Dieser Spruch ist Unsinn! Ein Philosoph macht nichts anderes, als herauszufinden, was ein Mensch ist. Er kann also nicht anders, als mitten im Philosophieren ein Mensch zu bleiben. Würde er sein Menschsein verlieren, wäre er nicht länger Philosoph. Der Spruch impliziert die Aussage, daß es Philosophen geben könnte, die eine hochreflektierte Philosophie entwickeln. Diese sollen sie dann entsprechend Humes Empfehlung einem unreflektierten, naiven Menschenbild unterordnen. Sollte er seine Philosophie einem hochreflektierten, philosophisch reifen Menschenbild unterstellen, dann sollte er dieses Bild gleich zu seiner Philosophie machen und auf das notwendig falsche "Zweitsystem" verzichten.

Aktien: Früher dachte ich einmal, daß ich automatisch auf der Gewinnerseite stehe, wenn ich die Fronten wechsele: Von der Arbeitnehmer- zur Arbeitgeberseite. Die Arbeitnehmer sind immer die Verlierer. Das war mir damals schon vollkommen klar. Aber wie komme ich auf die Arbeitgeberseite? fragte ich mich, und meine naive Antworet lautete damals: Aktien kaufen. Dann besitze ich Firmenanteile und bin sozusagen an den Gewinnen der Arbeitgeber beteiligt. Die Sache ging natürlich schief!

Ich zahlte Lehrgeld, wie sich das für jeden Lehrling gehört. Oder mit anderen Worten: Ich verlor eine Menge Geld. Und was habe ich nun gelernt? - Antwort: Daß man im Börsengeschäft nur verdient, wenn man über Insiderinformationen verfügt. Was sind Insiderinformationen? Antwort: Wenn ich zB entscheide, diese oder jene Aktie zu kaufen oder zu verkaufen. Wenn es sich nur um ein paar tausend Euro handelt, die ich investiere, ist diese Info nicht viel wert, aber wenn ich über Milliardenbeträge verfüge, ist sie sehr viel wert. Dann kann ich nämlich den Kurs bestimmen: Wenn ich verkaufe, fallen die Aktien; wenn ich kaufe, steigen sie. Nur ich weiß dann, wann ich mich entscheide, zu kaufen oder zu verkaufen. Das ist eine Insiderinformation.

Da ich nicht über sie verfüge, gehöre ich automatisch zu den Verlierern in diesem Metier. Leser, die nun eine Menge Lehrgeld gespart zu haben glauben (und nicht ins Aktiengeschäft einsteigen), irren sich leider, denn sie müssen nun, wenn sie gelernt haben, ihr Lehrgeld auf mein Konto (siehe "Preisliste") überweisen. Sie irren sich, weil sie immer noch nicht verstanden haben, daß man als Verlierer nicht nur über die Börse geschröpft werden kann, sondern auch auf tausenderlei anderen Wegen, wenn man nicht etwas Grundsätzliches über die Machtverhältnisse der Welt begriffen hat. Und dies geht nicht über Selbststudien, sondern, wie mehrfach erklärt, nur über persönliche Einweihung. Selbstverständlich ist mir vollkommen klar, daß die Meisten mir nicht glauben werden und weiterhin denken, daß man durch Lesen unpersönlicher (nichtadressierter) Texte etwas lernen kann.

So gilt auch hier: Ich schreibe ausschließlich für mich und meine persönlichen (also zahlenden) Schüler.

20.5.2002: Geldvernichtung: Heute abend kommt in "Frontal 21" (ZDF) eine Sendung über die angebliche Geldvernichtung bei Telekom (T-Aktie). Ich bin nun mal gespannt, ob hier die Namen derer genannt werden, die die Neuemission dieser Aktie nutzten, um auf Kosten von Kleinanlegern ein paar hundert Milliönchen nebenbei zu verdienen.

Der Trick war meiner Ansicht nach folgender: Der reiche Großanleger kaufte kräftig mit. Das trieb die Aktie hoch. Der Kleinanleger freute sich, kaufte noch mehr Aktien. Was er nicht wußte, wohl aber der Großaktionär: Wann jener (mit Gewinn!) seine Aktien wieder abstößt und damit die Baisse einleitet. Der Großanleger nämlich kann den Kurs bestimmen. Der Kleinanleger nicht.

Es wurde kein Geld vernichtet! Es wurde bloß umgeschichtet: aus den Börsen der Kleinen in die Börsen der wenigen Großen. Der Große bestimmt den Höchststand der Aktie und kann den größten Gewinn einstreichen. Mich interessiert brennend, wer diese Großen sind. Aber wir werden es wohl nicht erfahren oder?

Mal sehen, was das ZDF zum Thema sagt und was verschweigt.
Nachtrag 22.5.: Der Beitrag fiel meines Wissens aus. Ich kam zwar ein paar Minuten zu spät, sodaß ich ihn verpaßt haben könnte, aber auch im Internet auf der Frontal 21 - Seite war nichts zu finden.

Euro-Gejammer: Momentan jammert die TV-Expertenwelt über den starken Euro! Ich erinnere mich genau, daß es noch gar nicht lange her ist, als dieselben Experten über den schwachen Euro jammerten! Vermutlich dient das Gejammere dem "höheren Zweck", mögliche Lohnforderungen der Arbeitnehmerschaft gering zu halten.

22.5.2003: Fortschritt: Es gibt diesen Spruch, daß der Krieg die Mutter des Fortschritts sei. (Leider fällt mir augenblicklich der genaue Wortlaut dieses Zitats nicht ein. Wer kann mir hier weiterhelfen?). Meine Idee zu diesem Spruch:

Der Begriff "Fortschritt" erhält eine neue Definition, wenn man diesen Spruch glaubt. Es ist nicht so, daß man eine Art neutrale Definition von "Fortschritt" hat und dann stellt man fest, daß der Krieg diesen Fortschritt begünstigt.

Nein, solche "Feststellungen" sind immer auch Arbeit am Begriff selbst, sind keine passiven Feststellungen, sondern aktive Festlegungen: Wir erschaffen eine Definition, die den Krieg im Nachhinein begünstigt und rechtfertigt. Andere Definitionen werden schwächer. Man könnte "Fortschritt" auch so definieren: Fortschritt sei die Zunahme von Bewußtheit/ Intelligenz des Menschen. Dieser Fortschrittsglaube wird jedoch weniger gefördert, als der kriegerische.

Der Spruch vom Fortschritt aus dem Krieg kann nur von Leuten stammen, die kriegerisch denken und Krieg wollen. Fortschritt ist für sie nichts als die Weiterentwicklung von Waffentechnologie, Kriegstaktik und -strategie!

Hüten wir uns vor dem Glauben an diesen Spruch! Er ist lebensgefährlich, denn er suggeriert, daß wir Kriege befürworten müssen, wenn wir vorankommen wollen.

25.5.2003: Krankheit oder Gesundheit: Man kann Einunddasselbe auf zweierlei Weise deuten. Aber es stellt sich sofort die Frage, woher wir wissen wollen, ob "es" einunddieselbe" Sache ist? Vielleicht gibt es nicht "die" Sache, sondern immer nur Deutungen. Wer sagt, "Einunddasselbe ließe sich auf zweierlei Weise deuten", bietet bereits drei Deutungen an! Dieser "Tatsache" - eine vierte Deutung - muß man verstehen, um verstehen zu können, was ich meine.

In diesem Beitrag geht es mir um die "Krankheit", zB Depression, Eifersucht, Psychose, Neurose, Stimmungsschwankungen aller Art. Man kann eine Verstimmung oder Krankheit der Seele auf zweierlei Weise interpretieren: Der "Patient" ist krank in gesunder Umwelt! Aber da die Krankheit in Relation zu einer als gesund vorausgesetzten Umwelt definiert wird, gilt auch die Umkehrung: Der "Patient" ist ein Gesunder in kranker Umwelt. Ich empfehle seelisch Kranken, ihre Leiden zu externalisieren, indem sie ihre veränderten Bewußtseinszustände als Reisen in andere Bewußtseinsräume (= Welten) zu interpretieren lernen. Der Depressive ist dann nicht mehr depressiv in gesunder Welt, sondern ein Gesunder, der eine energiearme, kalte, düstere, kranke, Welt besucht. Das hat den eminenten Vorteil, daß der gesunde Anteil des Menschen, der Beobachter, der immerhin gesund genug ist, zu erkennen, daß er depressiv ist, gestärkt wird und wächst! Außerdem wäre es für die sog. "Gesunden" interessant, zu erfahren, wie die Welten aussehen, in die die seelisch Leidenden reisen.

Wichtig wäre dieses Unterfangen der magischen Umdeutung der seelischen Krankheit für die Volksgesundheit. Heute werden die Kranken abgeschoben in Krankenhäuser und Anstalten. Im individuellen Bereich nennt man solche Abschiebungen"Verdrängung", und jeder Psychiater weiß, daß das Verdrängte innerseelisch unkontrollierten Schaden anrichtet. Selbiges trifft auf ein Volk zu: Wenn es seine Kranken in Anstalten verdrängt, ist das ganze Volk - Umwelt des Einzelnen - krank! Ein Volk kann seelisch nur gesunden, wenn es durch die Pionierarbeit seelisch Kranker lernt, die Krankheit durch Externalisation in Gesundheit umzuwandeln.

Aufruf an alle seelisch Kranken: Werden Reisende von Welt zu Welt, werdet Weltenwanderer. Und veröffentlicht eure Abenteuer im internetz. (Schreibt mir, damit ich eure LINKS weiterempfehlen kann).

6.6.2003: Kapitalisierung der Moral

"NEW YORK TIMES"-FÄLSCHER BLAIR: "Ich war jung, ich war schwarz" Von Marc Pitzke, New York

Jayson Blair, der Plagiarist der "New York Times", bricht sein Schweigen - und zeigt weder Reue noch Einsicht. Stattdessen will er als Selbstdarsteller von dem Fälschungs-Skandal profitieren: Er bietet ein Exposé für ein "Enthüllungsbuch" und einen Hollywood-Thriller feil. Erhoffter Marktwert: eine Million Dollar.

AP / New York Times: "Times"-Fälscher Blair: "Ich konnte einfach nicht aufhören zu lachen"

New York - Jayson Blair kennt keine Reue. Im Gegenteil: Der Mann, der eine der wichtigsten Zeitungen der Welt zum Globalgespött machte und in die schwerste Sinnkrise ihrer Existenz stürzte, findet die Affäre ausgesprochen lustig. "Ich konnte einfach nicht aufhören zu lachen", sagt der Ex-Reporter der "New York Times" auf eine der dreistesten Räuberpistolen seiner Karriere angesprochen, eine fiktive Reportage über die Familie der im Irak gefangenen US-Soldatin Jessica Lynch.
Wer zuletzt lacht, kriegt die Filmrechte. So lautet jedenfalls die Moral dieser Medienfabel von Ehrgeiz und Verrat, Ethos und Ethnik. Denn während seine alten Kollegen weiter streiten, welche Köpfe noch rollen sollen, hat Blair, 27, den lästigen Redaktionsalltag längst hinter sich gelassen. Der schamlose Fälscher, der sich nun überdies als grandioser Selbstdarsteller entpuppt, strebt nach Höherem - ein "Tell-All"-Enthüllungsbuch über die "New York Times" (Preisfrage: Sachbuch oder Belletristik?), ein Hollywood-Thriller, Ruhm und Reichtum. "Dies ist eine riesige, riesige Story", freut sich Blairs Agent David Vigliano.

... Immerhin befindet sich Blair in illustrer Gesellschaft. Janet Cook, die 1981 den Pulitzer-Preis zurückgeben musste, weil ihre gekürte Reportage über einen heroinkranken Jungen in der "Washington Post" frei erfunden war, bekam 380.000 Dollar für die Filmrechte an ihrem Dichtwerk. Stephen Glass, vor Blair der letzte große Presse-Fälscher in den US-Schlagzeilen, brachte gerade ein (weithin verrissenes) Buch über seine Zeit beim Magazin "New Republic" heraus, ebenfalls für ein sechsstelliges Honorar.

Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,249770,00.html

Mein Kommentar: Die Spielregeln des Kapitalismus ersetzen zunehmend die des juristischen Gesetzes. Andernfalls müßten alle, die an Blairs Verbrechen mitverdienen wollen (Verleger, Filmemacher, die ihm die Rechte abgekauft haben), als Beihelfer der Straftat und Förderer künftiger ähnlicher Taten, bestraft werden. Wenn Blair schule macht, unterhölt er jegliches Vertrauen in die Nachrichtenblätter. Information wird durch Desinformation zerstört. Es wird keine Nachrichten, keine Information, mehr geben; wir werden von der Außenwelt abgeschnürt. Unser "Gesellschaftstraum" wird sich in Beliebigkeit auflösen. Da nur die Allerwenigsten das Zeugs zum Magier haben, also autark in ihrem eigenen Wertesystem zu leben, werden die weitaus meisten Menschen als Geisteskranke durch die kaputte Welt irren. Zum Glück sind die Gegenkräfte noch vorhanden: immerhin wurde Blair gefeuert. Aber wir müssen wachsam sein.

Vorgestern sah ich in RTL2 (?) einen Beitrag, in dem ein "Reklamationsprofi" vorbildhaft zeigte, wie er mit dem Kapitalismus zurechtkommt. Ohne eine Spur schlechten Gewissens oder anderer moralischer Regungen führte er vor, wie er seine Verbrechen beging. Keine Polizei, niemand, stoppte ihn. Vielmehr wurde er als der große Held dargestellt, der die Spielregeln des Kapitalismus in besonders reiner Form - also skrupellos - anwendet, wie es sich für einen vorbildlichen Konsumenten gehört.

Unser Held will einen besonders teuren Koffer haben. Er schleift ihn ein paar mal hart über den Fußboden des Geschäftes, bis die Rollen an der Unterseite Kratzer aufweisen. Beim Kauf reklamiert er diese selbstfabrizierten Gebrauchsspuren. Erfolg: 30 % Preisnachlaß! Beim Kauf von Eiern legt er Wert darauf, daß ein zersprungenes Ei im Karton ist. Die Reklamation an der Kasse bringt ihm 50 % Preisnachlaß für alle 10 Eier ein. Unser Held trägt auf Partys gerne teure Anzüge. Er kaufte sich ein Prachtexemplar für 400 Euro und trug ihn stolz eine Nacht. Am nächsten Tag brachte er ihn ins Geschäft zurück und bekam sein Geld zurück, nachdem er der Verkäuferin vorgelogen hatte, die Gebrauchsspuren würden von der Anprobe stammen. Was mich verblüffte, war die Gewissenlosigkeit des "Helden" und der Filmemacher, die nur einmal zaghaft fragten, ob das denn nicht am Rande der Legalität sei, was er da mache, aber unser Held schmetterte jede mögliche Kritik mit lockeren Worten ab, so nach dem Motto: "Wenn die Verkäufer so dumm sind, haben sie nichts anderes verdient!" Was für mich "Kulanz" oder Höflichkeit" im Geschäftsleben ist, ist für unseren Helden bloß Dummheit!

Wenn unser Held schule macht, wird der Kapitalismus noch unmenschlicher, als er schon ist. Wenn es kein Vertrauen mehr gibt, zerfällt die Gesellschaft. Ich sehe diesen Filmbeitrag und die Affäre um Blair als die Ausnutzung neuentdeckter Marktlücken. Früher wurde die Natur ausgebeutet (zerstört), um ein Geschaft daraus zu machen. Der (Umwelt) - Schaden wurde von der Allgemeinheit bezahlt; den Gewinn strichen Wenige ein. (Müßte zB die RWE die Schäden, die ihre Kohlekraftwerke anrichten, selbst bezahlen, würden sie keinen Gewinn damit erzielen können.) Da jeder Gewinn auf Kosten eines Schadens erzielt wird, gibt es Reingewinn nur dann, wenn hier eine Trennung eingeführt wird: wenn die Träger des Schadens Andere sind, als die Träger es Gewinns. Unsere Helden wie Blair haben nun die Moral als Geldquelle entdeckt. Man höhlt die Moral der Allgemeinheit aus, um persönlichen finanziellen Gewinn zu machen.

Wer sind die Drahtzieher dieser Berichterstattung, die diese Verbrecher zu Vorbildern stilisiert? Was wollen sie erreichen?

Die Philosophie, die hinter diesem Tun steckt, ist die, daß man "Freiheit" nur als "Freiheit von ..." kennt. Die "Freiheit zu ..." ist unbekannt. Konsequenz: Freiheit wird mit Beliebigkeit verwechselt. Man hat vergessen, daß Einschränkungen ein Steuerungswerkzeug zur Erlangung höherer Freiheitsgrade sein können. Wer alle Einschränkungen ablegt, versumpft, löst sich auf: Er ist dann zwar frei, aber zum Preis, nicht mehr zu existieren, kein "er" mehr zu sein. "Er" ist dann nur noch Rohmaterial für Menschen, die die Kunst der Selbstbefreiung durch Selbstbeschränkung wirklich verstehen. (Mehr zum Thema "Aktive und Passive Freiheit": siehe Stichwortverzeichnis "Freiheit" oder hier:
http://www.hanjoheyer.de/Tagebuch6.html#0719
http://www.hanjoheyer.de/Tagebuch7.html#frei
http://www.hanjoheyer.de/Tagebuch8.html#aktfrei
http://www.hanjoheyer.de/Tagebuch9.html#frei)

Gut zum Thema paßt auch http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,251945,00.html

7.6.2003: Unterschied zwischen Totem und Lebendigem: Der Stein im Garten verwittert. Er wird nie mehr sein wie jetzt. Die Pflanze daneben jedoch regeneriert sich ständig. Nächstes Jahr wird es hier wieder eine Pflanze geben, die dieselbe Blattform aufweist. Die Verwitterung des Steines ist linear, ein unumkehrbarer Prozeß; auch eine tote Pflanze verwittert. Im Unterschied zur lebendigen Pflanze weist sie keine Zyklen, keine Selbstbezüglichkeiten, auf. Das Tote ist der ENTROPIE ausgesetzt, verfällt zunehmend dem Chaos; das Lebendige hebt die Entropie auf: erhält und schafft Ordnung. Physiker sagen nun, daß die Aufhebung der Entropie im Lebewesen aufkosten höherer Entropie in der Umgebung gehe; insofern sei LEBEN keine Widerlegung dieses Naturgesetzes. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß die Physik ein mentales Modell ist und nicht die reale Grundlage des Mentalen (siehe Werkstatt5.html), gilt umgekehrt: daß die Realität ein geschlossenes System ist (behauptet sogar die Physik vom Weltganzen, womit bewiesen wäre, daß die Physik entweder mit dem Entropiegesetz oder mit ihrem kosmologischen Modell falsch liegt!!) und die Entropie ein mentales Modell ist!!!

Konsequenz: Der tote Stein ist Illusion; die lebendige Pflanze ist wirklich! Nur Lebendiges existiert. Wo Menschen Maschine sind oder sich dazu machen (indem sie dem Wissenschaftsmodell glauben), existieren sie nicht: werden zur Umgebung der Lebendigen, wie Steine zur Umgebung zählen. Sie sind EGO, nicht ICH, denken linear, nicht zyklisch, wissen ohne weise zu sein.

Die Wahrscheinlichkeit, daß meine Theorie stimmt, ist größer, als die, daß die Naturwissenschaft richtig liegt, denn meine Theorie ist widerspruchsfrei, die er Wissenschaft nicht - wie ich eben gezeigt habe.

11.6.2003 Das Bleibende: In "Gedichte" hatte ich vor ein paar Tagen über Rilke geschrieben (Zitat aus: Frenzel: Daten deutscher Dichtung - Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte, dtv 1962): "... Die Dinge sollen gerettet werden vor dem Zeitalter der Maschine. Sie werden durch des Dichters Rühmen und Sagen ins Gültige verwandelt. Die hiesige Welt wird durch den Dichter nicht nur gedeutet, sondern geheilt, in der Verwandlung durch den Dichter erscheint sie nur als andere Seite der jenseitigen, beide sind Ausdruck eines unteilbaren Ganzen. ...". Heute las ich von Hölderlin (im Gedicht: "Andenken" die Zeile: "Was bleibet aber, stiften die Dichter."

Was ist damit gemeint? Ist es nicht eher so, daß die Dichter ein unscheinbares Nischendasein fristen, unbeachtet von der Welt? Für die Meisten, die sich Dichter nennen, mag das zutreffen, aber für einen Hölderlin oder einen Rilke trifft es nicht zu. Diese beiden Dichter (und ein paar andere) sind/waren in der Lage, mit ihrem Bewußtsein tief in den Kollektivtraum einzudringen und dort schöpferisch zu wirken. In (Tagebuch7.html#frei) schrieb ich bereits darüber. Es gibt Menschen, die zu "aktiver Freiheit" fähig sind. "Passive Freiheit" nutzt Freiheitsgrade ausschließlich im vorgegebenen Rahmen einer Gesellschaft. Wer aktiv frei ist, ändert den Rahmen, und zwar vollkommen unsichtbar für den passiven Teil der Menschheit. Er verändert die ewige Allgegenwart, ändert damit rückwirkend die Vergangenheit, aus welcher die neue Gegenwart (mit neuem Rahmen) dann kausal determiniert folgt. Die passiven, vom jeweiligen Rahmen determinierten, Menschen bemerken die Veränderung nicht, denn ihre Relation zum Rahmen ist dieselbe geblieben. Wer den jeweiligen Rahmen zum Maßstab hat - also alle Herdenmitglieder - kann Rahmenwechsel nicht bemerken. Nur wer über seinen eigenen inneren Maßstab verfügt, wer also aktiv Arbeit am Maßstab verrichten kann, kann Änderungen bemerken und ausführen. Rilke änderte den Rahmen für Realitätswahrnehmung, um den menschlichen Seelen ein lebbares Zuhause zu geben: um Seelen zu heilen. Daß die Menschen noch nicht alle zu Maschinen geworden sind, haben wir Sinnstiftern wie Rilke und Hölderlin zu verdanken. Wo ein Volk seine Dichter nicht mehr kennt oder es Dichter nicht mehr von Stümpern zu unterscheiden vermag, ist es maschinenhaft geworden - zum Sklaven unbekannter Mächte.

Das Bleibende stiften die Dichter. Denn was die andern stiften, ist Vergängliches! Die andern leben auf der Filmebene - wie ich mich stets zu formulieren pflege - wo alles vergänglich ist. Sinn und wahres Sein gibt es erst in der Dimension darüber. Und wer dort lebt, hat Schöpferkraft. Im Film gibt es nur bewegte Schatten. Ähnliche Aussagen sind von Platon überliefert.

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