Tagebuch
7
von Hans-Joachim Heyer
25.7. - 2.8.2002
Stichwörter: weißes Rauschen - Gnade - Glückseligkeit - das
EGO ist vom Teufel - Opfer & Täter, passiv & aktiv, tot & lebendig
- Überzeugungskraft & Arroganz - Kommunikationsprobleme - Meme von
Menschen in Menschen - Existenz nur bei freiem Willen - ICH bin immer die wollende
Instanz, und da diese frei und autonom ist, gibt es keine Instanz über
und unter mir!- Denglisch - Pöbel ist das Fleisch in der Wassersuppe -
Steuerung und Entwicklung: Elite & Pöbel - Definition: Pöbel -
Christa Wolf, die DDRschamanin - Arbeitsamt & Attersee - Ringelnatz -
25.7.2002:
Ordnung: Das Universum ist ein ewiger Kampf zwischen Licht und Finsternis,
zwischen Chaos und Ordnung. Meine Heimseite ebenso. Mein Buchprojekt erfordert,
daß ich meine Tagebücher ein wenig sortiere, denn in ihnen sind Informationen
verborgen, die ich für meine Sachthemen benötige.
Apropos Licht und Finsternis, Chaos und Ordnung: Licht und Ordnung sind keineswegs
gut und Finsternis und Chaos nicht böse oder schlecht: Wir brauchen stets
beides! Genaugenommen bilden Licht und Chaos ein Pärchen, sowie Finsternis
und Ordnung, denn Ersteres nannte ich auch "Weißes Rauschen";
Zweiteres zB "dunkles Ungeheuer" (im Gedicht "Ungeheure
Wissenschaft", wo die Ordnung der Wissenschaft mit Chaos bekämpft
wird: "verknotet sind nun deine sieben Hälse, unentwirrbar, ein Chaos,
wahrhaftig!").
Solange meine Heimseite lebt, wird es dort nie völlig chaotisch und nie
völlig geordnet zugehen. Es wird immer ein Kampf bleiben, ein Kampf um
die Mitte....
Lob
auf das Schreiben: Als ich gestern einem Freund ein Loblied auf das Schreiben
"sang", indem ich ihm erzählte, daß alle, die erfolgreich
in ihrem Streben nach seelischem Weiterkommen sind, dies schreibend sind, denn
nur wenn man alle Schritte, die man tue, aufschreibt, habe man wirklich Kontrolle
über seine kleinen und großen Fortschritte und nur dann habe man
die Chance, Widersprüche im Denken zu finden und auszumerzen. Und jeder
Widerspruch weniger im Denken führe uns näher an das Leben in der
Wahrheit - an die Glückseligkeit - heran.
Er konterte und sagte, daß man sich keinerlei Fortschritte in Richtung Glückseligkeit erarbeiten könne. Glückseligkeit sei nicht erzwingbar, sondern eine Gnade. Es gebe zwischen uns und diesem Glück keine Kausalverknüpfung, kein Band aus Ursachen und Wirkungen.
Meine Antwort: Doch! Allerdings habe er Recht, was die fehlende Kausalität zwischen einzelnen Erscheinungen anlange, aber zwischen Seele und Erscheinungen bestehe eine Kausalität: die Seele verursache die Erscheinungswelten und das Ego. Die Seele müsse aktiv ihre Verquickung mit ihren Traumwelten und Egos erforschen und beherrschen lernen; sie muß ihr materielles Verfallensein durchschauen und kontrollieren, ohne die Illusionen aufheben zu wollen. Ihr Problem ist, daß sie alles, was sie tut, von einem "externen" Standpunkt aus sieht - vom empirischen Ich, dem EGO, aus, was sehr verwirrend ist. Sie muß an diesem Ego-Standpunkt etwas tun: einen neuen Standpunkt, ein neues Ich, kreieren. Dieses neue, um eine Dimension erweiterte Ich kann dann Glückseligkeit erfahren. Die Seele selbst sei nicht glückselig. Glückseligkeit sei auch eine Kreation.
Der Freund bestand auf seiner Position. Er sagte, es gebe für ihn hier nichts zu philosophieren, nichts du diskutieren, nichts zu bedenken. Alles sei Gnade. Ich genösse vielleicht die Gnade zu philosophieren oder die der Glückseligkeit. Er nicht. Er selber habe es endgültig aufgegeben, um irgendwas zu kämpfen, da ein Scheitern vorprogrammiert sei. Alles, was ein "Ich" will, ist zum Scheitern verurteilt. Egal, was man tut - wenn ein "Ich" beteiligt ist, ist die Sache vom Teufel!
Ich konterte, daß das doch nur stimme, wenn das Ich herrsche, aber doch nicht, wenn es diene. Welchen Sinn habe sein Leben, wenn er so denke, wie er eben geschildert habe? Die Seele eines Regenwurms wird doch nicht durch Gnade zu einer höheren Seele zB einer Maus. Sie werde es durch Lernen oder?
Er: "Ich befasse mich nicht mit solchen abstrakten Konstruktionen wie der Theorie von wachsenden Seelen. Ich befasse mich überhaupt mit gar nichts mehr. Ich lese schon seit Jahren keine Zeitungen mehr, seit Monaten keine Bücher! Das sind alles Kopfgeburten, alles nichtsnutziges Geschwafel. Ich treibe nur noch dahin und warte auf Gnade."
Der Freund, der früher so überaus aktiv gewesen war - was hat ihn dermaßen gelähmt, sodaß er zu nichts mehr imstande ist? Nicht einmal Gnade wird er empfangen können! Es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Er hat viel Geld geerbt. Dadurch war er von einem Tag zum andern frei von allem Druck, und er fiel in ein großes Nichts. Einen Tag vor diesem Erlebnis hatte ich schon ein ähnliches gehabt: ein Bekannter, der von Arbeitslosengeld lebt, vegetiert ebenso saft- und kraftlos dahin, ohne Perspektive, zutiefst gelangweilt und frustiert. Als ich ihn fragte, warum er nicht irgendein schönes Projekt auf die Beine stelle - wie ich zB mit meiner Schule für Lebenskunst - antwortete er müde: Ich kriege ja Arbeitslosenhilfe. Wozu sollte ich etwas tun? (mehr zum Thema "Arbeitslosigkeit" unten).
26.7.2002: Komputerspiele: Aus Erlebnissen mit mehreren realen Freunden und Bekannten filterte, kombinierte und konstruierte ich dieses fiktive Gespräch:
Der Freund, so sehr er sich aus dem lebendigen Geflecht der Welt herausgezogen zu haben glaubt, so sehr hat er sich in Komputerspiele hineinbegeben. In der Welt tut er nur noch das Nötigste: schlafen, essen, trinken, einkaufen gehen. Aber in den virtuellen Welten der Spiele lebt er auf. Da kämpft er, lacht er, freut und ärgert er sich. Mit dunklen Rändern um den Augen spielt er die Nächte durch. Ort der Handlung ist die Welt nach einem Atomkrieg. Verkrüppelte Mutanten, meist schwerbewaffnet, beherrschen die verstrahlte Oberfläche. Die Heldin entsteigt einem Atombunker, um die verseuchte Oberfläche der Erde zu erkunden. Sie muß gegen diese Mutanten, drachenähnliche Monster, Wegelagerer, Riesenskorpione aus Genlaboratorien und andere Häßlichkeiten kämpfen, muß Rüstungen, Gesundheitspacks, Munition und Waffen sammeln, Erfahrungspunkte anhäufen, mit Wesen in irgendwelchen Höhlen, Ruinen und unterirdischen Katakomben vorgestanzte Dialoge führen, um Informationen über bevorstehende Abenteuer zu erhalten, bis der Level geschafft ist. Die ultimate Waffe in diesem Spiel nennt sich "save game" und "load game". Kurz vor einem Kampf wird "save game" geklickt. Verliert die Heldin den Kampf, drückt er "load game" und die Heldin erhält eine weitere Chance, bis sie siegt. Könnte ich sie fragen; sie würde antworten, daß sie noch nie einen Kampf verloren habe.
Will ich mit ihm über die Welt sprechen, sagt er, er diskutiere grundsätzlich nicht mehr. Er habe sämtliche Platt- und Spitzfindigkeiten satt. Frage ich ihm nach seinem Komputerspiel, ich glaube es heißt "Fall Out", beginnen die Augen zu leuchten, und er erzählt von seinen Abenteuern, die er höchstpersönlich ausgefochten habe. Und er erzählt von anderen Komputerspielen, bei denen er zB 300 Jahre lang König von Spanien war, England und Frankreich besiegt und fast ganz Amerika erobert oder bei denen er die Schlachten des Hannibal gegen die Römer nachvollzogen hatte.
Mir ist nicht wohl bei dem, was ich höre und sehe. Und ich wundere mich nicht, daß ihn die reale Welt langweilt; schließlich trägt er einen überlebten Atomkrieg, Napoleons Siege und General Paulus' Fiasko in seiner Erinnerung mit sich herum; da kann Alltag nur noch farblos sein! Ich frage ihn, warum er bei diesen Spielen so begeistert sei, obwohl er früher jahrelang über die Politik schimpfte: über die Kriegstreiber, Massenmörder, Manipulateure. Seine Antwort, auf einen Satz reduziert: "Weil ich Opfer war, nicht Täter!" In den Spielen sei er Täter, nicht Opfer. Ich frage, warum er in dieser Welt nicht Täter sei, mit anderen Worten: schöpferisch tätig. Er fragt zurück: "Wie denn? - Was zum Beispiel hätte ich tun können? Wo bist du denn schöpferisch tätig?"
Antwort: "Ich spiele keine Komputerspiele. Ich verstehe mich, bzw. meine Seele, als in einem realen geistigen Netz befindlich, in dem ich tatsächlich Fäden ziehe, neue Maschen stricke, Fäden knüpfe und andere auftrenne. Mein Spiel findet wirklich statt. Ich merke es daran, daß ich mich dabei verändere. Es ist mein existentielles Spiel. Es geht um Leben, tatsächlich gelebte Lebensweise und um den Tod. Meine Abenteuer sind real. Wir sprachen vor Kurzem über die Überzeugungskraft. Für dich war das alles langweiliges leeres Geschwätz, abstrakte Philosopheme, sinnlose, fruchtlose Gehirnakrobatik, die mit dem wahren Leben nichts gemein habe. Nun, für mich ist die Entdeckung und Steuerung dieser Energie lebenswichtig. Existentiell. Und ungemein real. Ohne diese Kraft habe ich nichts. Sie ist meine Lebensversicherung. Ich habe sie geschaffen, und nun lebe ich von ihr. Ich bin mit keiner Faser meines Seins passiv. Ich bin reine Aktivität. Also bin ich Täter, nicht Opfer. Ich bin zu 100 % Schöpfer meiner Welt und meiner selbst. Ich habe sogar geschaffen, was ich nicht geschaffen habe, denn wenn ich Vorliegendes akzeptiere, akzeptiere ich es aktiv. Ich binde es in meine Aktivitäten ein. Ich beherrsche es; nichts beherrscht mich. Wer auf mich trifft, wird aus seiner virtuellen Scheinrealität herausgerissen. ZB du: Nicht meine Überzeugungskraft ist leeres Geschwätz, sondern dein Gerede von deinen Komputerabenteuern. Du hast dich dermaßen in deinen virtuellen Welten verstrickt, daß du nicht mehr merkst, was du sagst. Denken über die reale Welt erscheint dir fruchtlos; Denken über Komputerwelten ist dir wichtig. Meine Kraft ist dir nur Geschwätz, weil du dich davor bisher erfolgreich hast wehren können, indem du nie zuhörtest. Überhaupt: Du hörst echten Menschen nicht mehr zu. Darum erscheinen sie dir so leer, so hohl. Zugegeben: Viele können sich selber nicht mehr zuhören und erscheinen folglich sich sich selber leer und hohl. Aber Menschen mit Wahrnehmung sehen hinter der Leere die Fülle. Ich bin stolz darauf, es geschafft zu haben, daß Leute mich real dafür bezahlen, daß ich sie aus ihren virtuellen Welten, ihren Vor- und Fehlurteilen, die ihnen den Blick behindern, heraushole und ihnen die Wirklichkeit zeige, die reale Welt, in der man auch leben kann. Auch? Falsch: in der man genaugenommen ausschließlich lebt! Alles andere ist Irrtum."
Er meint, was ich Überzeugungskraft nenne, sei meine Arroganz: "Du erhebst dich über Andere, denn du stellst deine Überzeugungen über die anderer Menschen. Das ist Arroganz!" Antwort: "Da ist was dran. Meine Kraft wendet sich gegen deine Komputerspielsucht, prallt an ihr ab, und du fühlst diese Energie als meinen Angriff, meine Arroganz. Dasselbe gilt aber auch umgekehrt: Du führst mir deine Spiele vor, in der Hoffnung, ich würde wie du dieser Energie erliegen und dich dadurch bestätigen. Aus Diskussionen mit anderen Menschen hast du dich zurückgezogen, weil deren Überzeugungskraft (Arroganz) der deinen überlegen war. Statt deine Kraft zu stärken, hast du dich zurückgezogen in die letzte Bastion: die Komputerspiele, und diese letzte Stellung verteidigst du mit Händen und Klauen. Verständlich, aber nicht gut! Ich sage dir das, und du nennst es Arroganz. Andere, die dich in deine jetzige verkümmerte Position gebracht haben, verurteilst du nicht. Deren Kräften hast du nachgegeben, weil du sie für natürliche Kräfte der Außenwelt hältst. Nur mich, bzw. meine Kraft, wehrst du ab, weil ich mit offenen Karten spiele, weil du vor mir keine Angst hast und weil du mich zu kennen glaubst. Ich nenne meine Diskussionsbereitschaft nicht Arroganz, wohl aber dein Schweigen, deine Unwilligkeit zur Kommunikation.
28.7.2002:
Kommunikationsprobleme: Im Tagebuch 6 schrieb ich am 19.7. über "Freiheit
und Glückseligkeit" und danach, am 22.7. "Bermerkungen zu "Kritik
3" über einige von Lothars Texten. Gestern hat er nun seinerseits
mit "Die Leute und
ihr Bild von mir" Stellung zu meinen Ausführungen bezogen. Er
schreibt in diesem Tagebucheintrag völlig richtig, daß ich ihn nicht
kenne, sondern mich in meiner Kritik ausschließlich auf seine intellektuelle
Fassade beziehen könne. Aus diesem Grund schrieb ich ja auch in meinem
kritisierten Tagebucheintrag vom 22.7.:
"Auch ich beziehe mich auf das, was ich verstehe und nicht auf das, was
Lothar sonst noch gemeint haben könnte", um zu zeigen, daß mir
völlig klar ist, daß ich nicht Lothar kritisiere, sondern das, was
von ihm bei mir angekommen ist - was die Filter meines Intellektes passiert
hat. Zwischen ihm und mir stehen also zwei Vermittlungsstufen: Zuerst sein Intellekt.
Er schreibt nur, was er für wert hält, geschrieben zu werden: seine
"Motive" zum Beispiel. In diesen Texten steht längst nicht alles,
was er meint, sondern nur ein Bruchteil davon, und von diesem Bruchteil verstehe
nun ich wiederum längst nicht alles. Aus diesem Grund verwendete ich relativ
häufig Begriffe wie "vielleicht" und "möglicherweise".
Was mein "Solipsismus
- Vorwurf" anlangt - möchte ich klarstellen, daß ich Lothar
nie für solipsistisch hielt. Diesen Schluß zog ich ausschließlich
aus dem, was ich von seinen Texten verstand: allein sein Geschriebenes faßte
ich mit "Solipsismus" zusammen. So schrieb ich:
"Das wäre dann wohl eine solipsistische Position, d.h.
er wäre allein im Universum, aber nicht als "er", sondern als
Ganzheit, Nichts oder Gott." Ich schrieb "wäre", weil ich
ihn als Person nicht für solipsistisch halte.
Ich versuche immer, zwischen Person und Geschriebenem zu unterscheiden. Wenn
L. zum Beispiel schreibt, er gehe keinen Weg, so nehme ich ihm das als intellektuelle
Fassade ab, aber nicht ihm als Person. Wenn ich aus seinen Texten erschließe,
daß er nicht an die Existenz von Seelen glaubt, so glaube ich trotzdem,
daß er eine ist.
Man könnte
sich fragen, wozu dieses "Diskussionen", wenn es derart viele Mißverständnisse
gibt, wenn klar ist, daß gar nicht "wir" kommunizieren, sondern
unsere Meme, die wir produzieren ("Meme" - s. Tagebuch 5). Mein Mem
"L." kommuniziert mit meinem Mem "J.".
Ich finde das überaus interessant. Da geschieht etwas Geheimnisvolles.
Dieses Geheimnis will ich erforschen. Da kommt ein Text von irgendwo zu mir
rüber, aus dem ich mir ein Bild, das ich L. nenne, mache. Dieser L. lebt
als Mem in meiner Seele. Auf dieses Bild hin reagiere "ich" (genauer:
das Bild, das meine Seele von sich hat: ihr Selbstmodell) und schreibe einen
Antworttext. Dieser Text erzeugt in einer von mir postulierten echten Person
L. ein Bild von mir, ein Mem, das in dessen Seele lebt. So geht das hin und
her. Die Bilder-Gestalten in uns wachsen immer weiter, solange wir kommunizieren.
Sie werden zu immer kohärenteren Vorstellungen, und zuweilen bemerke ich,
daß "L." - Strukturen in meiner Seele entstanden sind, die partiell
besser organisiert sind, als Strukturen, aus denen ich bisher mein Selbstmodell
gezimmert habe. Also übernehme ich diese zuerst L. zugeeignete Struktur
für mein Selbstmodell: Ich habe von L. etwas gelernt!
Ich habe von L. etwas gelernt, obwohl der "reale" L. in München
dies Gelernte möglicherweise selbst nie gewußt oder geschrieben hat.
Ich lernte von dem L., den meine Seele aufgrund von Interpretationen (nicht
Informationen) konstruiert hat. Das ist doch alles sehr seltsam oder?
1.8.2002: Veränderliche oder unveränderliche Seele? Gestern setzten mein Freund und ich unsere in "Tagebuch 4" geführte Diskussion über die Seele fort. Der Freund wiederholte seine Aussage, daß er glaube, es gebe nur eine einzige Seele, die Seele Gottes. Und die EGOs der Menschen seien von ihr abgekapselte illusorische Fragmente, welche mit dem Tod zerfielen. Die Körper der Menschen und die EGOs würden über keinerlei freien Willen verfügen. Sie seien rein mechanisch/funktional. Allein die Seele Gottes verfüge über einen freien Willen.
Ich stellte dieser Ansicht die meine entgegen, und während meiner Erklärung hatte ich dann diese wichtige Eingebung, derentwegen ich diese Notiz nun aufschreibe. Ich wiederholte also meine in "Tagebuch 4" geäußerte Theorie, daß ich an individuelle veränderliche, also lernfähige, aber auch zum Irrtum fähige, Seelen glaube, die allerdings nur individuell sind, sofern sie über eine solche Theorie verfügen. Die materielle Welt einschließlich eigenen Leibes und Ego sei die beste Theorie meiner Seele von Welt und Selbst, die sie habe. So habe meine Seele für mein Ego die Illusion des freien Willens kreiert, weil sie von sich selbst glaubt, frei zu sein. Die Seele habe nur dann einen Grund, materielle Welten zu schaffen, wenn sie dadurch lernen könne, und Lernen-Können impliziere Irren- und sich selbst Zerstörenkönnen (zB durch Empirie: glauben, was sie sieht). Demnach gebe es seelenlose und beseelte Menschen wie es in der Bibel Joh. 3.31 heißt.
Mein Freund
frage, ob ich es mir nicht vorstellen könne, daß auch die Seele determiniert,
als rein funktional sei. Ich antwortete, daß ich im Falle, daß meine
Seele keinen freien Willen habe, nicht existieren würde. Existenz ist
für mich an die Voraussetzung eines freien Willens gebunden, also daran,
daß ich mich dem Kategorischen Imperativ "unterworfen" habe.
Durch den Kategorischen Imperativ - die oberste moralische Instanz - habe ich
mich in die Existenz gerufen, denn durch ihn bin ich zum autonomen Wesen, zum
Selbsterschaffer, geworden. "Handle so, daß die Maxime deines Willens
jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."
(s. "Edelmann") Das heißt doch, daß wir so tun sollen,
als seien wir Gott. Wir sollen so denken und handeln, als ob wir damit Naturgesetze
schaffen würden. Nun, wenn wir real freie Seelen sind, schaffen wir
real: dann sind das echte Naturgesetze.
Wenn ich keinen freien Willen habe, sondern das höhere Wesen über
mir - höhere Mächte oder Gott - dann wirkt dieses Wesen durch mich.
Dann bin ich dieses höhere Wesen, denn Erlebnisse hat nur ein Wollendes!!!
Unter ihm ist nichts Wollendes mehr, sondern nur noch funktionales, ausführendes
Organ! ICH bin nicht als Illusion, denn Illusionen existieren nicht. ICH bin
stets das wollende Wesen. Entweder existiere ich als Leib mit freiem Willen,
als Seele mit freiem Willen und illusionärem Leib/Ego oder ich existiere
als Höheres Wesen, sei es Magier, Engel oder Gott mit freiem Willem und
illusionärer Seele und ebenso illusionärem Leib samt Ego. ICH bin
immer die wollende Instanz, und da diese frei und autonom ist, gibt es keine
Instanz über und unter mir!
Der Freund fand das überheblich. Ich nicht, denn ich habe soeben philosophiert und kein Egospielchen gespielt. Es sei ein wenn-dann-Spiel nach dem Muster: Wenn ich eine Million bekomme, bin ich Millionär! Das ist logisch, aber nicht größenwahnsinnig. Ich verstehe nicht, warum man mir Gedanken verbieten will, bloß weil es große Gedanken sind. Alle wollen mich klein sehen! Gut, seine Nichtexistenz zu behaupten, ist bescheidener, als meine Position. Aber ist sie deshalb auch richtiger?
Feuilletons:
In einer anderen Sache gebe ich meinem Feund recht: Meine "Denglisch"
- Kampagne schießt möglicherweise etwas über ihr Ziel hinaus.
Der Freund griff in meinen Stapel alter FAZ-Feuilletons, las queerbeet einige
Absätze vor und fragte mich nach "meinen" Anglizismen. Es waren
keine dabei. Auch ich machte eine Stichprobe, obwohl es nicht nötig war,
denn ich hatte in der Vergangenheit genug FAZ-Feuilletons gelesen, um zu wissen,
daß dort ein gutes Deutsch zu finden ist.
"Also", resümierte der Freund, "stellen wir fest, daß
nur die Sprache des ohnehin verworrenen Pöbels verwirrt wird. Die Elite
schreibt und liest Deutsch! Nur der unbewußte Pöbel wird anglifiziert.
- Schlimm genug, denn die Elite wird vom Pöbel getragen. Sie steuert zwar,
aber die tragende Substanz ist der Pöbel. Der Pöbel ist das Fleisch
in der Wassersuppe. Deshalb sollte die Sprachverwirrung des Pöbels
nicht länger geduldet werden. Es verhält sich wie mit dem Verhältnis
des Bewußten zum Unbewußten. Der Pöbel ist das Unbewußte;
die Elite das Bewußte. Infiltriere man das Unbewußte mit Denglisch,
verliere zunächst nur das Unbewußte die Sprachtiefe, dann aber folge
mit Notwendigkeit das Bewußte."
Ich entgegnete, daß im Falle, daß alle Denkmuster und Verhaltensweisen des Pöbels früher oder später in die der Elite einsickere, die Selbstaufklärung der Elite erheblich behindert sei. Man dürfe den Pöbel nicht zuletzt deshalb nicht künstlich dumm und versklavt halten. Der Freund stimmte zu: Der Pöbel ziehe die Elite nach unten, wenn diese nicht stark genug sei. Die Unfreiheit stehe nicht in Gefahr, in die Elite einzusickern, wohl aber die Sprachverwirrung. Freie können sehrwohl unter Sklaven leben, auch wenn Sklavendenken und -handeln abfärbe. "Aber es geht! Die Frage ist nur, kann sich ein Freier seine edle Sprache erhalten, wenn alles um ihn herum Denglisch kauderwelscht? Kaum! Denn die ehemals magische Sprache ist heute weitgehend kraftlos."
Ich erinnerte mich an Ken Wilber, der einmal geschrieben hatte, daß die Elite bestenfalls zwei Bewußtseinsstufen (Dimensionen) über der Stufe des Pöbels einnehmen könne, und das liege exakt an dieser Schicksalsgemeinschaft von Elite und Pöbel. Mehr als zwei Stufen könne sich die Elite nicht über den Pöbel erheben, weil jener stets nach unten ziehe. Es sei deshalb die Pflicht der Elite, den Pöbel hochzuziehen, so hoch es gehe, damit auch auch sie selbst vorankommen und in höhere Dimensionen vorstoßen könne. Ich zog daraus den Schluß, daß die Verdummung des Pöbels mittels Sprachverwirrung ein insgesamt abzulehnendes Projekt sei.
Georg
Wetter, der auch zugegen war und sich bisher vornehm zurückgehalten hatte,
meldete sich nun zu Wort. Er wollte noch einmal darüber diskutieren, ob
es tatsächlich zutreffe, daß es seelenlose und unbeseelte Menschen
(Pöbel und Elite) gebe. Stimmt die Bibel in Joh. 3.31? Er sagte, er habe
die Feststellung gemacht, daß die Philosophie um so richtiger liege, je
weiter man in die Vergangenheit zurückgehe. Und die Alten hätten nun
mal in großer Übereinstimmung gesagt, daß es diese zwei Menschenarten
gebe: körperlich zwar identisch; die einen jedoch beseelt, die andern unbeseelt.
Der Freund lehnte ab. Er sagte, die sogenannten "Unbeseelten" seien
bloß abgekapselte Egos, die die Verbindung mit ihren Seelen verloren hätten.
Diese Egos seien unbeseelt, aber die dazugehörigen Seelen seien durchaus
existent.
Ich fügte hinzu, daß auch ich glaube, daß ein Mensch, solange
er einen Menschenkörper habe, beseelt sei. Nur daß beim notorischen
Empiriker diese Seele nichts mehr von sich wisse. Sie verschmelze mit der Kollektivseele.
Ergo ist meine Meinung zu diesem Komplex folgende: "Ich glaube, daß
die Elitemenschen solche sind, die im bewußten Kontakt mit ihren individuellen
Seelen stehen, während der Pöbel eine Kollektivseele mit vielen Körpern
ist, wobei den Körper-ichs die Seele unbekannt ist. Ich glaube außerdem,
daß die Kollektivseele jederzeit individuelle Seelen abspalten kann und,
umgekehrt: individuelle Seelen in sich aufnehmen kann. Menschen aus dem Pöbel
können zu individuellem Bewußtsein gelangen; Individuen können
ins Kollektiv zurückfallen. Da man jeden Menschen moralisch (kat. Imperativ!)
nach seinem Potential beurteilen muß, darf man den Pöbel nicht minderwertiger,
als die Elite einstufen. Wir sitzen alle in einem Boot! Die Elite soll der Herde
Hirte sein, aber nicht Wolf! Die Sprachverhunzung sollte deshalb gestoppt werden.
(Mehr zum Thema "Wolf": siehe unten!)
2.8.2002: Pöbel: Was ist "Pöbel"? Antwort: Kein Schimpfwort, sondern Bezeichnung für einen bestimmten Teil der Bevölkerung, nämlich der "naiven Realisten". Dies ist ein philosophischer Begriff, der jene Menschen bezeichnet, die "glauben, was sie sehen". Sie setzen irrtümlich (naiv) Erscheinung und Realität gleich. Da der Abbildungsprozeß unsichtbar ist, wissen sie nichts von ihm und leugnen ihn. Der Pöbel weiß nichts von ihm; der empirische Naturwissenschaftler übergeht ihn methodebedingt - unabhängig davon, ob er vom Abbildungsprozeß weiß oder nicht (aus diesem Grund dient der Wissenschaftler dem Pöbel). Da alle Erscheinungen materiell sind, sind naive Realisten zugleich Materialisten. In Joh. 3.31 heißt die Materie "Erde".
Da Erscheinungen
(=Bilder) über mindestens eine Dimension weniger verfügen, als das
"Original", fehlt den Materialisten mindestens eine Dimension: ein
Freiheitsgrad, und dieser heißt "positive Freiheit" oder die
"Freiheit zu..." oder die "Kreativität". Materialisten
verfügen im allergünstigsten Fall über die "negative Freiheit":
die "Freiheit von ...".
Menschen mit positiver Freiheit sind Schöpfer, Mächtige, Kreatoren
oder Künstler; Menschen mit negativer Freiheit Diener - und zwar aus Prinzip,
nicht aus Bosheit. Passiv Freie können prinzipiell nichts anderes als dienen.
Diese Menschen heißen Pöbel. Wer zu aktiver Freiheit fähig ist,
ist kein Pöbel.
Allein schöpferische Menschen können eine lebensfähige Zukunft kreieren. Der Pöbel kann nur gegenwärtige mechanische Prozesse fortführen, die notwendig in Katastrophen münden. Aus diesem Grund braucht der Pöbel die Elite. Aber umgekehrt braucht die Elite auch den Pöbel, denn ohne ihn gäbe es nichts, woran ihre Schöpferkraft ansetzen könnte. Die Soziologen nennen dies "Steuerungshierarchie" und "Entwicklungshierarchie". Die Elite steuert die Entwicklung des Pöbels. Oben werden die Ziele gesetzt, unten ist die Entwicklung der konkreten materiellen Welt. Das, was sichtbar da ist: Menschen, Autos, Straßen, Häuser, Städte, Technische Geräte - das alles ist die zu entwickelnde Welt des Pöbels. Unsichtbar darüber ist die geistige Welt der Steuerung, von der der Pöbel nichts weiß. Der Pöbel ist das Fleisch in der Wassersuppe. Das Fleisch sieht man; das Wasser nicht. Zur Suppe braucht man beides.
Christa Wolf, die DDR-Schamanin: Es gibt Menschen, die sich aufgrund ihrer Seelenweite zu Schamanen ganzer Staatengebilde herausstellen. Christa Wolf war eine kleine Schriftstellerin, die zu großer Wirksamkeit heranwuchs.
"Die Lust am Schreiben, erklärte sie in medizinischer Terminologie, ergebe sich daraus, daß sie einen "Riesenspaß am Diagnostizieren gesellschaftlicher Prozesse auf Grund von Symptomen" habe. Die behutsame Diagnose jedoch, das Benennen der wunden Punkte, betrachtete sie bereits als therapeutische Maßnahme und ersten Schritt zur Genesung. Krankheit ist dabei nichts Negatives, sondern eine Form gesteigerter künstlerischer Sensibilität. In "Kein Ort. Nirgends." wird Christa Wolf die Figur des Heinrich von Kleist sagen lassen: "Ich kann die Welt in Gut und Böse nicht teilen; nicht in zwei Zweige der Vernunft, nicht in gesund und krank. Wenn ich die Welt teilen wollte, müßte ich die Axt an mich selber legen, mein Innerstes spalten."" (FAZ, 16.3.2002)
Wolf sah den Gesundheitszustand des (eigenen und des andern) menschlichen Körpers als Metapher für den Gesundheitszustand der Gesellschaft und damit des Staates. Der massenhaft auftretende Herzinfarkt der Männer und der Krebs der Frauen in der DDR erkannte sie als Symptome gehinderter Lebensentfaltung aufgrund falscher Staatspolitik. Christa Wolf erkannte, welche Ventile man der gehinderten Energie öffnen müßte, um den Staat zu heilen. Aufgrund dieses Wissens, das ihr ihre enorme Seelenweite eingab, entpuppte sie sich als Staatsschamanin - und als inoffizielle Repräsentantin der DDR. Sie - und nicht die arschkriecherischen Schriftsteller des Landes, erhielt große persönliche Freiheiten, zB unbegrenzte Ausreisevisa. Nicht aus Gnaden Honneckers & Co., sondern aus Gnaden eigener Seelengröße! H. & Co. wußten das. Sie erkannten ihre "Kraft durch Bewußtheit" an. Es ist eine eigenartige Kraft: Wie gewaltig sie ist und wie leicht und sensibel. "Diese Lebenszeichen noch oder sie eben nicht mehr wahrnehmen zu können, war für mich eine existentielle Frage". Es ist ist keine zerstörerische, mechanische Kraft der Gewalttätigkeit, sondern die behutsame liebende Kraft des Lebens, die da wirkt. Christa Wolf schrieb:
"Ich bin
immer, auch als Autorin, sehr behutsam umgegangen mit allen, selbst bescheidenen
Anzeichen von schöpferischen Veränderungen in der gesellschaftlichen
Praxis. (Behutsam, nicht unkritisch, das darf ich sagen). Diese Lebenszeichen
noch oder sie eben nicht mehr wahrnehmen zu können war für mich eine
existentielle Frage...."
"Ich glaube nicht, daß das Aussprechen von krank machenden Sachverhalten
zerstört, sondern daß es heilt. Natürlich nur, wenn man es mit
der nötigen Behutsamkeit macht, nicht mit Brachialgewalt."
"Die behutsame Diagnose ... betrachtete sie bereits als therapeutische
Maßnahme ... zur Genesung." (zit. nach FAZ)
Warum behutsam? Weil Wolf eine Hüterin der Herde ist, und kein Wolf. Sie ist die DDR-Schamanin.
Passive und Aktive Freiheit: In der FAZ vom 16.3.2002 fand ich gestern zwei nebeneinanderstehende Artikel, die besonders prägnant das beschreiben, was ich unter passiver und aktiver Freiheit verstehe. Beginnen wir mit der passiven Freiheit, der "Freiheit von...". Der betreffende Artikel heißt: "Im Herzen der Depression - Deutsche Szene: Eine Visite im Nürnberger Arbeitsamt". Hier wird der trübe Alltag im Arbeitsamt beschrieben: Kaputte Existenzen, frei von Arbeit, frei von Fähigkeiten, warten darauf, daß etwas mit ihnen gemacht wird. Aber man braucht sie nicht, diese überflüssigen Menschen, die das Leben täglich straft.
Ganz
anders Christian Ludwig mit dem Künstlernamen "Attersee"! Im
Artikel (neben dem oben Genannten) "Don Giovannis Wetter - Malerzauberposse:
Attersees theatralische Bilder im Amsterdamer Stedelijk Museum" lernen
wir einen "Künstler" kennen, der meiner Meinung nach gar nichts
kann, aber diese Tatsache offensichtlich nicht kapiert hat. Statt vernünftig
zu sein und sich im Nürnberger Arbeitsamt in die lange Warteschlange einzureihen,
glaubt dieser Herr in seinem Wahn, ein Künstler zu sein. Er kann weder
ein Musikinstrument spielen, noch tanzen, und komponieren kann er auch nicht.
Drum nennt er seine dreisten Versuche "Improvisationen", und da er
nicht malen kann, nennt er seine "Bilder" "Parodien". Sein
"Possenverwandlungsspiel" betreibt Attersee seit den 60er Jahren,
und zwar erfolgreich.
Er hat das Arbeitsamt gar nicht nötig! Eiderdaus! Unserm Possenreißer,
der sein "Arbeitsleben" als "Selbstdarsteller" begann, hat
nicht gewartet, bis man etwas mit ihm macht oder ihn braucht; er hat sich einfach
in die Welt gestürzt und hat gerufen: "Da bin ich!" Und die Leute
haben ihm Platz gemacht! Das nenne ich aktive Freiheit oder die "Freiheit
zu ..." - Selbstinszenierungen.
Blättern wir diese FAZ-Seite um, finden wir auf demselben Blatt ein Gedicht von Joachim Ringelnatz.
Bumerang
War einmal ein
Bumerang;
War ein weniges zu lang.
Bumerang flog ein Stück.
Aber kam nicht mehr zurück.
Publikum - noch stundenlang -
Wartete auf Bumerang.
In diesem Publikum finden wir unsere Arbeitslosen problemlos wieder. Und in Ringelnatz unsern Attersee. Im Text zum Gedicht heißt es: "Joachim Ringelnatz, der eigentlich Hans Bötticher hieß und eigentlich ein Abenteuerleben ... lebte....usw.. Er war auch kein Fall fürs Arbeitamt. In "Bumerang" machte er sich über die Passiven lustig.
Lieber Leser:
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