Werkstatt 1
von Hans-Joachim Heyer

Inhalt dieser Seite:

10.11.99: EWIGKEIT , BEWUSSTSEIN oder das "Anhalten der Gedanken". Was ist der Unterschied zwischen Tun und Nichttun?
16.11.99: Existenz
18.11.99: Meditation
15.5.2001: Evolutionäre Objektivation der subjektiven Welten. - Über die "Zeit".


Wie erlangt man EWIGKEIT oder, was dasselbe ist: BEWUSSTSEIN oder das "Anhalten der Gedanken"? Was ist der Unterschied zwischen Tun (Roboter, Sklave sein) und Nichttun (heilig, selig, bewusst, weise sein)?

Dao De Jing

12.11.99: Im 63. Spruch des Dao De Jing heißt es: "Tut das Nichttun, / Beschäftigt euch mit Nichtbeschäftigung,  / Genießt das Nichtgenießen! ... Darum der Heilige also: / Er nimmt gleichsam schwer, / Darum hat er letztlich überhaupt keine Schwierigkeiten."

Der 47. Spruch: "Nicht aus dem Tore gehend, / Erkennt man die Welt, / Nicht aus dem Fenster spähend, / Erschaut man des Himmels Aufführung. / Je weiter einer schweift, / Umso geringer wird sein Erkennen. / Darum der Heilige (oder der Berufene): / Nicht hingehend erkennt er doch, / Nicht hinsehend benennt er doch, / Nicht handelnd vollendet er doch."

Und wer Pessoa als Gescheiterten sieht: Spruch 45: "Große Vollkommenheit scheint wie mangelhaft..."

Fernando Pessoa

10.11.99: Aus dem "Buch der Unruhe" von Fernando Pessoa (S. 25): Weise ist, wer seine Existenz eintönig gestaltet, denn dann besitzt jeder kleine Zwischenfall das Privileg eines Wunders. Der Löwenjäger erlebt kein Abenteuer über den dritten Löwen hinaus. Für meinen eintönigen Koch hat eine Ohrfeigen-Szene auf der Straße immer noch etwas von einer bescheidenen Apokalypse an sich. Wer nie aus Lissabon herausgekommen ist, fährt im Auto in den Vorort Benfica in die schiere Unendlichkeit und, wenn er eines Tages nach Sintra fährt, meint er, er sei bis zum Mars gereist. Der Reisende, der die ganze Erde durcheilt hat, findet ab 5000 Meilen nichts Neues mehr, denn er kann höchstens neue Dinge finden; Neues und wieder Neues, Altes im ewigen Neuen, denn der abstrakte Begriff der Neuheit ist schon bei der zweiten Neuheit auf dem Meer zurückgeblieben.

Ein Mensch kann, wenn er wahre Weisheit besitzt, das gesamte Schauspiel der Welt auf einem Stuhl genießen, ohne lesen zu können, ohne mit jemandem zu reden, nur seine Sinne gebrauchend und mit einer Seele begabt, die nicht traurig zu sein versteht. Man sollte die Existenz eintönig gestalten, damit sie nicht eintönig werde. Den Alltag unschädlich machen, damit auch die kleinste Einzelheit eine Zerstreuung mit sich bringe."

11.11.99: Zitat aus Pessoas "Buch der Unruhe", S. 229 - 230: Wenn ich mich meiner Phantasie überlasse, sehe ich. Was tue ich anderes, wenn ich reise? Nur äußerste Schwäche der Einbildungskraft rechtfertigt, dass man den Ort wechseln muss, um zu fühlen.

»Jede Straße, sogar diese Straße von Entenpfuhl trägt dich ans Ende der Welt.« Doch das Ende der Welt ist, sobald man die Welt vollständig umkreist hat, das gleiche Entenpfuhl, von dem man ausgegangen ist. In Wahrheit ist das Ende der Welt wie ihr Anfang unsere Auffassung von der Welt. In uns sind die Landschaften Landschaft. Deshalb erschaffe ich sie, indem ich sie mir vorstelle; wenn ich sie erschaffe, sind sie; wenn sie sind, sehe ich sie wie die anderen. Wozu reisen? Wo wäre ich in Madrid, in Berlin, in Persien, in China oder an beiden Polen anders als in mir selbst und in Typ und Art meiner Wahrnehmungen?

Das Leben ist das, was wir aus ihm machen. Die Reisen sind die Reisenden. Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern das, was wir sind.

Der einzige wahre Reisende, den ich gekannt habe, war ein Laufjunge in einem Büro, in dem ich seinerzeit angestellt war. Dieser Junge sammelte Werbebroschüren von Städten, Ländern und Transportgesellschaften; er besaß Landkarten - die einen aus Zeitungen herausgerissen, die anderen hier und dort zusammengebettelt -; er besaß auch aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittene Illustrationen: Landschaften, Bilder von exotischen Bräuchen, Bilder von Dampfern und Schiffen. Er suchte die Reisebüros im Namen eines angeblichen oder vielleicht auch im Namen eines wirklich vorhandenen Büros auf und erbat sich Prospekte über Reisen nach Italien, Reisen nach Indien und Prospekte, welche die Verbindungen zwischen Portugal und Australien schilderten.

Er war nicht nur der größte, weil wahrste Reisende, den ich gekannt habe: er war auch einer der glücklichsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Es tut mir leid, dass ich nicht weiß, was aus ihm geworden ist; freilich vermute ich nur, dass es mir leid tun sollte; in Wirklichkeit tut es mir nicht leid, denn heute, wo zehn Jahre oder mehr seit der kurzen Zeit, in der ich ihn gekannt habe, verstrichen sind, ist er gewiss ein reifer Mann, stupide und pflichteifrig, vielleicht verheiratet, eine soziale Stütze für irgendjemanden - bei lebendigem Leibe verstorben. Vielleicht ist er sogar körperlich gereist, er, der so gut mit der Seele reisen konnte.

Ich erinnere mich plötzlich: er wusste genau, mit welchen Eisenbahnverbindungen man von Paris nach Bukarest gelangte, mit welchen Eisenbahnverbindungen man England durchreisen konnte, und an der fehlerhaften Aussprache der fremden Namen bemerkte man seine von einer Aureole umstrahlte Seelengröße. Heute, jawohl, existiert er wohl nur noch als Toter, aber vielleicht erinnert er sich eines Tages im Alter, dass es nicht nur besser, sondern wahrer ist, von Bordeaux zu träumen als in Bordeaux auszusteigen.

Das alles mag vielleicht eine andere Erklärung haben; vielleicht wollte er auch nur jemanden nachahmen. Oder ... Ja, ich meine bisweilen, wenn ich den abschreckenden Unterschied zwischen der Intelligenz der Kinder und der Dummheit der Erwachsenen betrachte, dass uns in der Kindheit ein Schutzgeist begleitet, der uns seine eigene astrale Intelligenz ausleiht und der uns später, vielleicht bekümmert, aber einem hohen Gesetz gehorchend, wie die Tiermütter ihre herangewachsenen Jungen verlässt und das Mastschwein werden lässt, das wir schicksalhaft werden müssen.

13.11.99: Aus dem "Dao De Jing", Spruch 12: "Der Farben fünferlei Vielheit verblendet des Menschen Auge, / Der Töne fünferlei Vielfalt ermüdet des Menschen Ohr, / Der Speisen fünferlei Geschmäcke stumpfen des Menschen Zunge, / Pferderennen und Jagen verwildern des Menschen Wandel. / Darum der Berufene: / Er wirkt für das Innere, nicht für das Auge. / Also: Meide das eine, wähle das andere!"

Karl Jaspers

11.11.99: Aus einer Monographie von Hans Saner über Karl Jaspers (rororo rm 169), S. 85: "...Dieser Gegenstand ist, als seelische Einheit allgemein gefasst, die Seele, als Geist gefasst, die Persönlichkeit, als Vitalität gefasst, das Leben, als Einheit von Seele, Leib und Geist gefasst, der M e n s c h. In der Wirklichkeit äußert sich der jeweilige Mensch in individueller Gestalt. Alle jene Manifestationen verstand Jaspers als partielle E r s c h e i n u n g e n eines unbekannten, weil unendlichen Ganzen. Das Ganze selber ist Idee, die alle Erscheinungen für den Betrachter regulativ eint, ohne durch diese jemals "bestimmt" zu werden. Unkritische Theorien verwandeln dieses Regulativ in einen konstitutiven Begriff und legen so den Menschen als etwas Endliches fest."

Das bedeutet meiner Meinung nach: Das unendliche (Raum- und Zeitlose, also in meinen Worten EWIGE) Ganze kreiert (von sich und seiner Umwelt) eine Idee (Mythos). Dieser Mythos reguliert die Abbildung (Verkörperung) in die endliche Welt. Unkritische Theorien, die diesen Mythos als gegeben, als objektiv, als unwandelbar ansehen, legen den Menschen als etwas Endliches fest.

S. 85: "Wissenschaftliches Erkennen bestimmt das Objekt, indem es sich ganz und ausschließlich auf das Objekt bezogen weiß. Was geht dabei vor? Das Bewusstsein ist auf einen Gegenstand bezogen, spricht von ihm aber so, als ob nur er wäre und die Beziehung selber nicht. Es klammert das Wissen um die Bezüglichkeit aus. Durch diese Ausklammerung versteht sich das wissenschaftliche Erkennen als rein objektives Erkennen. Es ist in diesem Punkt dem alltäglichen Erkennen gleich."

An diesem Zitat wird deutlich, welchen Preis wir für die Wissenschaft zu zahlen haben: Wir isolieren uns von der Welt, werden selbst zu isolierten Objekten, zu Personen mit einem falschen ICH (das in meinen Texten stets EGO genannt wird). Warum "falsches Ich"? - Weil die wissenschaftliche Methode einen wahren Sachverhalt unterschlägt, nämlich die Beziehung auf das Objekt! Das ist eine glatte Fälschung, ein Betrug am wahren Sein des Menschen. Doch dieser Betrug birgt ein großes Wunder, denn die Objektewelt wird für uns durch diesen Betrug zur Realität! Wie ist das möglich? Wie kann etwas Falsches für uns zur Realität werden? Das ist nur möglich, wenn wir alle in einer trügerischen Traumwelt leben und nicht in der wahren Welt. Und diese Traumwelt wurde für uns zur Realität, weil Realität so entsteht, dass Ideen (Mythen), ob gut oder schlecht, verrückt oder genial, wie im ersten Jasperszitat erklärt, die Abbildung, Verkörperung, Erscheinung regulieren. In dieser Erkenntnis liegt ein unglaubliches Potential!

Existenz

16.11.99: Immer wieder findet man bei Fernando Pessoa Zitate, die von einer gewissen "Existenz" oder "Nichtexistenz" lebender Personen sprechen. Was meint Pessoa damit? Wie kann er glauben, dass bestimmte Menschen nicht existieren, obwohl sie noch nicht gestorben sind? Hier ein typisches Zitat (S. 119):

"...Diese Herrschaften hatten allesamt ihre Seele an einen Teufel aus dem Höllenplebs verkauft, der nach Gemeinheiten und Taktlosigkeiten begierig war. Sie lebten in der Vergiftung der Eitelkeit und des Müßigganges und starben schlaff zwischen Kissen aus Worten, zerquetscht wie Skorpione aus Spucke.

Das Außergewöhnlichste an all diesen Leuten war ihrer aller Bedeutungslosigkeit in jedem Sinne. Einige waren Redakteure bei den angesehensten Zeitungen und brachten es fertig, nicht zu existieren; andere hätten öffentliche Ämter inne, die in den Jahrbüchern ins Auge stachen und vermochten es, in keinem Lebensbereich eine Figur zu machen; andere waren sogar anerkannte Dichter, aber gleicher Staub färbte ihr dümmliches Gesicht aschfahl, und das Ganze nahm sich aus wie ein Grabmal mit aufrecht Einbalsamierten, die man, die Hand auf dem Rücken, in den Posen Lebender aufgestellt hatte."

Ich denke, Pessoa meint folgendes: Das Leben mancher Menschen besteht ausschließlich aus Reaktionen auf äußere Kräfte. Und diese reaktiven Handlungen sind wiederum vollständig auf die Außenwelt gerichtet. Folge: Diese Leute sind nur Durchgangsstationen für fremde Kräfte; die Kräfte fließen ungebrochen durch sie hindurch. Man merkt nicht, dass diese Kräfte in irgendeiner Weise mit anderen Energien, die bereits in diesen Menschen  vorhanden sind, in Berührung kommen, mit Energien, die die Betreffenden selbst besitzen und kontrollieren. Pessoa behauptet, es gebe Menschen ohne jegliche eigene, innere Energie, ohne Spontaneität im Kantschen Sinne ("Die Fähigkeit, eine Handlung zu beginnen, ohne dass sie von äußeren Umständen verursacht worden wäre. Die Fähigkeit, eine Kausalkette anfangen zu können, nennt Kant "Spontaneität") , ohne Göttlichen Funken, ohne Autonomie. Solche Menschen nennt Pessoa "nichtexistent". Für Pessoa existieren nur diejenigen Menschen, die nicht reibungslos funktionieren, weil sie eine Seele zu verteidigen haben! Menschen, die am Zwang, funktionieren zu müssen, leiden, tröstet er damit, dass er ihnen sagt, dass sie wenigstens existieren.

Karl Jaspers schreibt in "Über Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus" (Reclambändchen) auf Seite 23: "Der Mensch scheint ins Nichts zu gehen. Er ergreift das Nichts in Verzweiflung oder im Triumph des Zerstörens. Seit Nietzsche wird es immer lauter: Gott ist tot. Menschliches Dasein wird Massendasein. Der Einzelne verliert sich an Typen, die sich aufzwingen aus moderner Literatur, Zeitung, Kino und aus dem nivellierenden Alltag aller. In seiner Verlorenheit drängt er zu einem Selbstgefühl im Wir durch Teilnahme an einer vermeintlich gewaltigen Macht der Masse...." Dann zählt Jaspers solche Typen auf: die Massenmenschen, die dogmatisch Gottgläubigen, die großen Macher - vermeintliche Weltbeherrscher, die Gehorchenden und, von diesen Typen abgegrenzt: (S. 24): "Es gibt die Schweigenden, wirkliche Menschen, Unzeitgemäße, von denen man nur erfährt, wenn man ihnen persönlich begegnet."

Ich sehe Pessoas Philosophie globaler: Wir leben in einer Welt, in der immer mehr rationalisiert wird: Dem Menschen wird Vernunft beigebracht, die Industrie wird samt Arbeitsplätzen rationalisiert, der Handel funktioniert immer besser. Die Beschleunigung aller Arbeitsprozesse ist ein Maß für die zunehmende Rationalisierung. Folge: Immer mehr Existierendes hört auf zu existieren. Eine sich rationalisierende Welt ist eine verschwindende Welt. Wie schrieb ich im obigen Essay über die Verantwortung am Schluss? "...bis die Welt der Kriege für mich dermaßen durchsichtig wird, dass ich sie überhaupt nicht mehr sehe...." - Hier schließt sich der Kreis. In der Tat sehe ich, dass Vieles verschwindet. Möglicherweise habe ich auch schon Menschen gesehen, die nicht existieren. Möglicherweise....

Auf den Punkt gebracht, geschieht meiner Meinung nach Folgendes: Der bewusste WILLE der lebendigen autonomen (selbsterschaffenden) Seelen ist im Begriff, sich aufzuspalten in zwei Komponenten: in Notwendigkeit (Gesetz, Kausalität) und Zufall. Lebendes spaltet sich in Totes. Als die Welt noch lebte, hieß es, Gott habe sie in einem Akt der WILLkür geschaffen; heute haben Wissenschaftler - die neuen Götter - sie zum Mechanismus toterklärt. Vielleicht stirbt die ewige Seele, wenn sie sich im Rationalisierungsprozess am Maßstab der linearen Zeit strukturiert. Vielleicht ist die Seele dermaßen flexibel, so dass sie sogar zur Nichtexistenz, zum Roboter, zu mutieren vermag.

Meditation

Meditation ist die Aufhebung des Denkens mittels des Denkens. Hierbei handelt es sich um ein Denken, das nicht den objektorientierten Charakter des wissenschaftlichen Denkens oder des alltäglichen Denkens hat. Es ist kein Denken, bei dem man über irgendwelche Gegenstände nachdenkt. Beim meditativen Denken gibt es nur einen einzigen "Gegenstand", nämlich das eigene seelische Subjekt.

Wenn man über sich selbst denkt, schließen sich nämlich unsere Gedankenketten zu Kreisen. Wir denken über unser Denken. Dabei verlieren wir unsere Gedanken als Gegenstände aus dem Sinn. Die Gegenstände verschwinden. Die Gedanken hören auf. Unsere Seele wird zu einem stillen See mit glatter Oberfläche. Ohne Gedanken sind wir voll bewusst und wach. Tritt nun ein Gegenstand in unsere Seele ein, indem wir etwas wahrnehmen, entsteht ein ganz bestimmtes Wellenmuster: Gedanken, die wir klar aussprechen können, weil es so wenige und präzise sind. Und da wir die Gedanken völlig verstehen, sinken sie nach einer Weile rückstandlos wieder in die Glätte der Oberfläche zurück. Bewusstheit ist also nicht Gedankenfülle, sondern Gedankenleere, aber sie bedeutet auch, diese Leere, diese innere Wahrnehmungslosigkeit, dieses Nichtgefühl, benutzen zu können als verfeinertes Sensorium und Tableau für reine Gedanken.

Nichtmeditative Menschen gleichen einem aufgewühlten See.  Sie denken ja keine Gedanken zuende, keine Welle wird beruhigt; ewig laufen die Wellen von einem Ende des Sees zum andern, prallen zurück, werden tausendfach gebrochen und entgleiten vollständig der Kontrollierbarkeit. Tritt nun ein Gegenstand in die Wahrnehmung, sieht die Person nicht nur die eine Welle, die dieser Gegenstand ausgelöst hat, sondern das gesamte Wellengekräusel rundherum dazu. Das heißt, die Person bekommt nicht nur Gedanken, die den Gegenstand bezeichnen, sondern zum großen Teil auch diesen unkontrollierten Gedankensalat, der die Seele ständig aufgewühlt hält. Und dieser Gedankensalat kann von der Person natürlich nicht verstanden - transzendiert - werden, so dass die neue Wellen sich den alten hinzugesellen und mit ihnen ewig die Oberfläche des Sees durchpflügen und noch mehr Unruhe in die Seele bringen..

Ich merkte dies heute in einem Heidegger-Seminar. Wir lasen und besprachen einen Text. Die wenigen Sätze Heideggers lösten bei den Studenten eine unkontrollierbare Kaskade von Gedanken hervor, die meist gar nichts mit dem Text zu tun hatten. Es war ein furchtbares Durcheinander. In mir hatte der Text nur ein einziges Bild hervorgerufen, welches ich vollkommen verstand und präzise mit Worten wiedergeben konnte. Aber auch dies löste in den Studenten neue Gedankenkaskaden aus, sodass das gesamte Gespräch wieder versumpfte. Ich erlebte dies so klar und deutlich, dass mir bewusst wurde, dass dies mein heutiges Thema zum Philosophieren werden sollte.

Evolutionäre Objektivation der subjektiven Welten. - Über die "Zeit".

Heyer: Gedanken wie diese brachten mich zu der Überzeugung, daß wir immer nur in der "Allgegenwart" leben. ...

Leser:... Aus erkenntnistheoretischer Sicht hat die Sache aber einen Haken, denn das Zeitgefühl entsteht im Kopf und ist somit zunächst einmal ein Konstrukt von uns selbst. Unabhängig davon, ob eine reale Zeit existiert, können wir nur die wirkliche/subjektive Zeit wahrnehmen.
Eine möglichst passende Konstruktion einer Wirklichkeit bietet aus biologischer Sicht viele Vorteile. Dass das Zeitkonzept sehr gut funktioniert, steht ausser Frage, es rechtfertigt aber nicht, die Existenz einer realen Zeit vorauszusetzen - es ist ein Modell, das gut 'passt' (im Sinne von: es hilft dem Organismus zu überleben) und weiter nichts.

Heyer: Daß die Zeit-Konstruktion aus biologischer Sicht viele Vorteile bietet, ist logisch zwingend, denn die biologische Sicht ist ein Produkt genau dieser Zeit-Konstruktion! - Du siehst, wir sitzen in der Falle! Wie kommen wir da raus?

Leser: Problematisch wird das alles deshalb, weil Konzepte wie 'Zustand' oder 'Prozess' aber ebenfalls in unserem Kopf entstehen. In Verbindung mit vielen weiteren Konzepten ergibt sich eine relativ konsistente Wirklichkeit, die sich selbst immer wieder bestätigt. Und weil diese Wirklichkeit bis zu einem gewissen Grad einwandfrei funktioniert, macht man allzugerne den Fehler, seine Wirklichkeit als Realität zu bezeichnen.

Heyer: Genau! Ein häufig gemachter Fehler der sog. "naiven Realisten"...

Leser: Es gibt also noch eine weitere Vorstellung des Zeitbegriffs (nämlich aus erkenntnistheoretischer Sicht). Danach scheint Zeit nur ein geeignetes Hilfsmittel zum besseren Überleben zu sein. Tatsächlich existieren tut nur die 'Gegenwart' und alles weitere entsteht im Kopf...

Heyer: Da unterliegst du natürlich wieder dem Zirkelschluß. Wesen, die NICHT dieses Zeitkonstrukt übernommen haben müssen nicht unterlegen sein. Beispiel: Ich befinde mich in einer großen Menschenmenge, und ich erfinde ein Spiel, sagen wir "Schach". Da ich der Erfinder bin, siege ich gegen alle Gegner, die gegen mich antreten. Ich bin Sieger der Evolution nach den Schachregeln. Was ist mit den "Spielverderbern", die mit mir nicht spielen wollen? Sind sie "Looser" der Schach-Evolution?

Leser: (Zitiert Heyer:) "Was ist "Vergangenheit"? Eine Rückrechnung nach gegenwärtigen Gesetzen (die kognitiver Natur sind). Vergangenheit, wie wie sie "erforschen" ist sicher eine Projektion aus der Gegenwart heraus. Aber: Was ist, wenn sich die Gegenwart ändert - und sie tut es ja ständig! - Ändert sich dann auch die Vergangenheit?"

Leser: ... aber über welche Gegenwart sprechen wir hier eigentlich? Ist nicht die Gegenwart gemeint, die auch nur in unserem Kopf entsteht und somit nur ein weiteres subjektives Konstrukt ist, das es uns leichter macht, Ordnung ins Chaos der Welt zu bringen? Konstruktivismus hin oder her, wenn unsere Gedanken schon diesen Weg einschlagen, dann müssen wir ihn wenigstens konsequent zu Ende bringen.

Heyer: Richtig! Ich kann eigentlich nur die konstruierte Gegenwart gemeint haben! ;-)

Leser: Kritiker mögen sich nun wieder zu Wort melden und anmerken, dass diese Unschärfe nur durch den Aufbau unseres Körpers bedingt ist, und dass Zeit unabhängig davon trotzdem existiert und sehr sauber und geradlinig verläuft. Für diese Annahme gibt es jedoch keine Grundlage, denn wann immer wir Begriffe wie Zeit, Vergangenheit oder Gegenwart benutzen, meinen wir doch eigentlich diese verschwommenen Wahrnehmungen in unserem Gehirn, denn sie sind das einzige, was wir tatsächlich kennen und worauf alle weiteren abstrakten Konzepte aufbauen...

Heyer: So ist es!

Leser, Heyer zitierend: "Was ist, wenn sich die Gegenwart ändert - und sie tut es ja ständig! - Ändert sich dann auch die Vergangenheit?"
Leser: ... und weil diese Konzepte reine Interpretationssache sind, ist auch die Vergangenheit Interpretationssache und ändert sich somit ständig.

Heyer: So sehe ich das auch!

Leser: Aber was haben wir nun eigentlich erreicht? Wenn es keine richtige Gegenwart, erst recht keine richtige Vergangenheit und eine Zukunft sowieso nicht gibt, wo ist dann noch Platz für die Zeit?

Heyer: Das ist das Problem. Ich kam deshalb auf die Frage: Gibt es überhaupt eine objektive Welt? Die Profs "meiner" Uni sagen immer, daß unsere Zeit- und sonstigen Konstruktionen eine evolutionäre Anpassung an eine Realität seien, die unserer kognitiven Wirklichkeit sehr ähnlich sein müsse. Das bestreite ich. Ich glaube, daß die Realität ein bloßes Möglichkeitsfeld oder ein Möglichkeitsraum ist: Buddhas Nirvana, Kants "Ding an sich", das zugleich mit "Leere" und "Fülle" übersetzt werden kann. Die Realität könnte ein multidimensionales formloses "Netz" sein, das Träger aller Vorstellungen ist. In dieses Nirvana hinein projizieren wir Zeit und Raum als "Apriori" (Rahmen) für Materie: unsere gesamten kognitiven Welten einschließlich aller Träume, wobei ich unter "wir" die ewigen (raum- und zeitlosen) Seelen verstehe, die wir in Realität sind.

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