Gerhard Roth: Das Problem der Willensfreiheit
Kritische
Anmerkungen von Hans-Joachim Heyer
(Fett: Hervorhebungen von mir)
6.1.2005
In http://www.information-philosophie.de/philosophie/rothwillensfreiheit.html finden wir Gerhard Roths Arbeit, die hier besprochen wird.
Zusammenfassung: In dieser Arbeit werden Roths Schlußfolgerungen aus Libets Experiment widerlegt, indem ich nachweise, daß die empirisch-wissenschaftliche Methodik nicht der Erscheinungsebene entkommen kann. Libet zeigt eine richtige Reihenfolge von Erscheinungen auf, seien es Meßprotokolle oder Aussagen/Zeichen der untersuchten Probanden. Da niemals eine Erscheinung Ursache einer anderen Erscheinung sein kann, muß man die Frage stellen, was generell Erscheinungen hervorruft, und hier kommt die Geist-Seele samt Willensfreiheit und Bewußtsein ins Spiel. Roth und Libet verharren auf der Erscheinungsebene und kommen zum falschen Schluß, es könne weder Bewußtsein, noch Willensfreiheit geben. Sollte dieser Befund stimmen, gibt es im libetschen Experiment nicht mehr die Entscheidungsmöglichkeit "Ja" oder "Nein" (die Natur kann ausschließlich mit "Ja" oder "Nein" auf experimentatorische Fragen antworten) und somit hört das Experiment auf, Experiment zu sein. Das Ergebnis läge dann bereits vor Beginn des Experimentes fest.
Roth will Moral in Normen überführen. Das hat strafrechtliche Folgen. Der Wahrheitsbegriff wird aufgelöst. Moral ist an Wahrheit gekoppelt. Wahrheit ist absolut. Ein Mensch kann die Wahrheit sagen, während alle andern sich irren. Sollte die Moral/Wahrheit durch mehrheitsbestimmte Normen abgelöst werden - wie Roth fordert - unterminiert er die gesamte wahrheitsverpflichtete Naturwissenschaft und damit seine eigene Arbeit.
Die Leugnung der Willensfreiheit ist eine Folge der irrtümlichen Ineinssetzung von Realität und Modell.
Thema
verfehlt: Geistiges, wie Seele, Bewußtsein, Wille, Motiv, Verantwortung,
Gründe tauchen in Roths Texten bloß als Anachronismen nebenher auf,
die genau betrachtet mit seiner Argumentation nichts zu tun haben.
Schon in den ersten Absätzen Roths Arbeit bahnt sich bereits sein großer Irrtum an, nämlich daß er Realität und Modell ineins setzt und ihm aufgrund der Undifferenziertheit seines Denkens die Realität entfleucht. Falsch läge Roth, wenn er behaupten würde, die Protagonisten meiner Philosophie hätten das Problem, zu erklären, wie Mentales (Geist) auf körperliches Geschehen (Physik) wirken könne (woraus dann geschlossen werden müßte, daß das Physikmodell nicht geschlossen sei - siehe "Bieri-Trilemma in "Werkstatt5.html".). Meine Philosophie zeigt, daß Geist auf Physik wirken kann, ohne das Geschlossenheitspostulat des Physikmodells zu verletzen. Wir sehen in einem Komputerspiel nicht die Drähte der Hardware!
Dieses Konzept der Willensfreiheit birgt folgende Probleme in sich.
(1) Aus dem Gefühl, wir seien bei Willkürhandlungen willensfrei, folgt nicht zwingend, daß Willensfreiheit tatsächlich existiert. Man kann Versuchspersonen unterschwellig (z. B. über so genannte maskierte Reize), durch experimentelle Tricks, Hypnose oder Hirnstimulation zu Handlungen veranlassen, von denen sie später behaupten, sie hätten sie gewollt (Penfield und Rasmussen, 1950; Wegner, 2002; Roth, 2003).
In diesem Fall wird das Problem der Willensfreiheit in den Experimentator und Interpeten verlagert. Ich schrieb in meiner HP bereits, daß das Experiment nichts beweist, wenn man dem Experimentator den Willen abspricht. Er kann das Experiment dann nicht anders deuten, als er es tut. Das Experiment läßt dann keine zwei Antworten (Ja oder nein) mehr zu und ist folglich kein Experimient mehr. Roth leistet sich hier also einen kapitalen Fehlschluß!
In (2) argumentiert Roth mit der heute modernen falschen Auslegung der Quantentheorie. Ursprünglich legte die Quantentheorie die Ursache der Quanteneffekte in den Beobachter als bewußtes Wesen. Erst später wurde der Experimentator aus den Experimenten gestrichen und durch die Heisenbergsche Unschärferelation ersetzt. Man projizierte die Naturwissenschaft, die gerade eine weitere Dimension gewonnen hatte, in die Erscheinungswelt zurück! Was ursprünglich so hieß: "Der Beobachter beeinflußt das Beobachtete!" heißt heute falsch: "Es gibt eine fundamentale Unschärfe (Zufälligkeit) im Verhältnis zwischen Ort und Impuls!" Roth reduzierte das eines freien Willens fähige Bewußtsein des Experimentators zum Zufall. Sollte Roth die Existenz des Zufalls für seine Spekulationen (oder vermeintlichen Beweise) in Anspruch nehmen, so gäbe er indirekt zu, nichts, aber auch gar nichts, erklären zu können, denn wer etwas mit dem Zufall erklärt, erklärt in Wahrheit nichts!
Zu "Experimentalpsychologische Befunde": Ich weise darauf hin, daß wir es hier mit Selbstauskünften eines Probanden zu tun haben, der anzeigen sollte, wann er einen Willensakt ausführte. Mit dieser Auskunft wurde der Wille in die (willenlose) Erscheinungswelt überführt, in welcher der Experimentator nun seine Experimente macht und selbstverständlich keinen Willen findet. Es gibt keinen empirisch-naturwissenschaftlichen Weg zum Geist!
Aufgrund dieser Befunde sieht es so aus, daß unter den gegebenen und zugegebenermaßen laborhaften Bedingungen der subjektiv empfundene Willensakt oder -ruck dem Beginn des Bereitschaftspotentials nachfolgt, und zwar in einem relativ festen zeitlichen Abstand, und ihm nicht voraus geht. Dies würde die Vermutung bestärken, daß der Willensakt nicht die Ursache, sondern vielmehr eine direkte oder indirekte Folge des Bereitschaftspotentials und der mit ihm zusammenhängenden Hirnprozesse ist. Diese Experimente und ihre Deutung sind auch von experimentalpsychologischer Seite in neuester Zeit wiederholt kritisiert worden; immerhin kann aber als gesichert angesehen werden, daß es zwischen dem subjektiv empfundenen Willensakt und der ausgeführten Willenshandlung keine Kausalbeziehung gibt.
Immerhin hat Roth hier seine ursprüngliche Behauptung etwas "relativiert", indem er jetzt nur noch behauptet, der empfundene Wille könne nicht Ursache der empfundenen Handlung sein. Dieser eingeschränkten Aussage stimme ich zu. Eine Erscheinung kann nicht eine andere Erscheinung verursachen! Genau das behaupte auch ich! Nur ist diese Argumentation keine Widerlegung der Willensfreiheit der Seele. Die Freiheit hat nur die Seele, nicht der Leib. Die Freiheit des Leibes ist beschränkt auf die ungehinderte Tat dessen, "was von innen kommt" (Selbstverwirklichung) - im Gegensatz zur als Unfreiheit empfundenen Druck von außen. Ich tue, was ich von innen her tun muß und fühle mich (bin!) frei, denn ich weiß, daß genau das meine Seele will! Aus der Tatsache, daß meine Seele mir (ohne fremdbestimmt zu sein) die Idee der Willensfreiheit eingab, schließe ich, daß meine Seele willensfrei ist. Wenn äußere Kräfte mich an meinen selbstinitiierten Taten hindern, schränkt dies meine Freiheit ein. Warum soll ich mich von Roth zur Unfreiheit meines Willens fremdbestimmen lassen?
zu "Der strafrechtliche Schuldbegriff": Daß traumatische Erlebnisse die Willensfreiheit einschränken können, weiß ich freilich auch! Wer an die Theorie, es gebe keine Willensfreiheit, glaubt, ändert seine Hirnstruktur (besser: seelische Struktur) dahingehend, daß er seine Willensfreiheit tatsächlich einbüßen kann. DAS ist das Tragische an der modernen Hirnforschung! Ich erlebe heute einen steigenden Prozentsatz wissenschaftsgepräger Menschen, die ihren freien Willen bereits weitgehend eingebüßt haben. Roth & Co. haben immer mehr recht! Leute wie er wollen leider nicht, daß sich meine Philosophie durchsetzt.
Fazit: Sofern sich die Erkenntnisse der Hirnforschung und der Persönlichkeitspsychologie weiter erhärten, muß im Strafrecht das Prinzip der moralischen Schuld aufgegeben werden. Es rückt damit der Gedanke der Normenverletzung in den Vordergrund, bei der die Gesellschaft das Recht hat, sie zu ahnden. Erziehung, Therapie und Schutzes der Gesellschaft vor unerziehbaren bzw. nicht therapierbaren Straftätern treten dann anstelle des strafrechtlichen Sühnegedankens.
WAS ist in diesem Kontext "Erziehung", was "Schutz"? Wozu sollten wir uns schützen? Wir haben nichts Schützenswertes, wenn wir selber keinen freien Willen haben. Die Außenwelt geht automatisch ihren Gang. Es gibt nur Außenwelt, nichts zu schützendes Inneres, keine Subjektivität. Wir haben keine Freiheit zu verteidigen - falls Roth recht hat.
Roths Reduktion der Moral zur Norm ist nichts anderes, als der Übergang von den Primärtugenden zu den Sekundärtugenden. Aus selbstbestimmter Handlung wird Nachahmung. Der große Unterschied zwischen Primärtugenden (Moral) und Sekundärtugenden (Normen) ist, daß es möglich ist, daß ein einziger Mensch moralisch im Recht sein kann, wenn er die Wahrheit vertritt. Alle anderen Menschen hätten dann unrecht, weil sie im Irrtum befangen wären. Bei Normen ist das anders: Hier hat die Mehrheit recht. Die Mehrheit setzt die Norm.
Fazit: Roth hätte recht, wenn man demokratisch darüber abstimmen könnte, was Wahrheit ist. Ich persönlich aber gehe davon aus, daß man über Wahrheit nicht abstimmen kann. Man betrachte meinen Fall: Fast alle Philosophen und Neurobiologen, ein 100000-köpfiges Heer an Naturwissenschaftlern ist anderer Meinung als ich. Trotzdem habe ich recht. Würde Norm, statt Moral, Mehrheit statt Wahrheit gelten, hätte die Wahrheit keine Chance, sich durchzusetzen. Die Mehrheit hat nie recht! Die Wahrheit wurde bisher immer von Einzelnnen gefunden, nie von der Mehrheit. Hätte die Mehrheit recht, müßte Roth sich aus der BILD-Zeitung informieren, denn BILD orientiert ihre Inhalte am Mehrheitswillen.
Thema verfehlt: In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine grundsätzliche Themenverfehlung Roths hinweisen: Roth, Libet und Kollegen waren angetreten, den Geist zu erforschen, also Bewußtsein, Wille, Wünsche, Motive, Absichten, Gründe (Stichworte sind Roths Text entnommen) usw.. Nachdem sie diese Qualitäten der quantifizierenden empirischen, wissenschaftlichen Methodik unterworfen hatten, fanden sie - nichts! Willensäußerungen sind gesprochene Sätze oder Handlungen, die selbst nicht willensfrei sind, sondern unfrei dem Willen dienen. Was Roth & Co. veranstalteten, nachdem sie nichts fanden, hat nun absolut nichts mehr mit dem zu tun, was beabsichtigt war. Mich erinnert dies an ein Erlebnis in einer Autorengruppe, in der eine Autorin eine Geschichte über einen Urlaub auf einer Insel vorlas und der Kritiker fragte, warum sie nicht über ein Treffen mit einem Geliebten im Bahnhof geschrieben habe. Ich unterbrach mit dem Hinweis, das sei keine Kritik, sondern eine Verfehlung des Themas. Die Kritik müsse sich schon mit der Inselgeschichte befassen. Ebenso möchte ich Roth & Co. zurufen: Thema verfehlt! Nun wendet euch wieder dem Geist zu!
Roth & Co. beschäftigen sich nicht mit dem Geist, sondern mit den Äußerungen des Geistes, die sie zu einem eigenen System verknüpfen, welches selbst nicht den Geist enthält - nicht Geist ist. Roth bräuchte für seine Forschungen gar keine bewußten Lebewesen. Geistiges, wie Seele, Bewußtsein, Wille, Motiv, Verantwortung, Gründe tauchen in Roths Texten bloß als Anachronismen nebenher auf, die genau betrachtet mit seiner Argumentation nichts zu tun haben. In ihnen ist das Geheimnis des Bewußtseins nicht angetastet. Wahrhafte Bewußtseinsforschung findet wanderswo statt.
Mehr über Gerhard Roth in "Gehirn.html". Siehe auch "Libet.html" (ausführliches zum Libet-Experiment), "Willensfreiheit.html", "Bieri.html", "Qualia.html", "Metzinger.html", "Metzingervortrag.html" "Werkstatt5.html", wo ich das Bieri-Trilemma auflöste.
Lieber
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(8.2.05)