Peter Bieri: Unser Wille ist frei

Kritische Anmerkungen von Hans-Joachim Heyer

11./12.1.2005

In SPIEGELonline vom 11.1.2005 finden wir unter http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,336325,00.html folgende Arbeit von Peter Bieri (meine Kommentare sind dazwischengeschoben):

DEBATTE ZUR HIRNFORSCHUNG

"Unser Wille ist frei"

Der Mensch hat einen freien Willen und ist keinesfalls Sklave neurobiologischer Prozesse in seinem Gehirn, glaubt der Berliner Philosoph Peter Bieri. Hirnfoschern, die menschliche Entscheidungen per Hirnscan erklären wollen, wirft er Denkfehler vor.

Es gehört zu unserem Selbstverständnis, daß wir uns in unserem Tun und Wollen als frei erfahren. Wir erleben uns als Urheber unseres Handelns; wir haben den Eindruck, einer offenen Zukunft entgegenzugehen; wir betrachten uns als Wesen, die kraft dieser Freiheit für ihr Tun verantwortlich sind. Es müßte uns verstören, wenn sich herausstellte, daß diese Freiheitserfahrung nichts weiter ist als eine hartnäckige Illusion.

Nun scheint es manchen heute so, als zeigte die Hirnforschung genau das. Sie lehrt uns, daß es für alles Wollen und Tun neuronale Vorbedingungen gibt. Fänden nicht an bestimmten Stellen im Gehirn bestimmte Aktivitätsmuster statt, so vermöchten wir nichts zu wollen und zu tun. Und es scheint auch so, als ließen solche Entdeckungen nur den einen Schluß zu: daß unser Wollen und Tun keineswegs aus Freiheit geschieht, sondern als Folge eines neurobiologischen Uhrwerks, das unbeeinflußbar hinter unserem Rücken tickt. Gewiß, wir fühlen uns frei. Doch das Gefühl trügt: Wir sind es nicht.

In Wirklichkeit folgt aus der Hirnforschung nichts dergleichen. Was wie eine beinharte empirische Widerlegung der Willensfreiheit daherkommt, ist ein Stück abenteuerliche Metaphysik. Wie läßt sich diese freche Behauptung rechtfertigen?

Daß die Hirnforschung eine "abenteuerliche Metaphysik" ist, behaupte ich freilich auch (s. "Der Wissenschaftsmythos")!

Betrachten wir ein Gemälde. Wir können es als einen physikalischen Gegenstand beschreiben. Wir können aber auch vom dargestellten Thema sprechen. Oder es geht uns um Schönheit und Ausdruckskraft. Oder um den Handelswert. Derselbe Gegenstand wird aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben. Alles, was wir sagen, ist im gleichen Sinne wahr. Es ist wahr, daß das Bild 30 Kilogramm wiegt und in Öl gemalt ist - und es ist wahr, daß es das Abendmahl darstellt, ein verkitschtes Machwerk ist und einen zu hohen Preis erzielt hat. Keine der Beschreibungen ist näher an der Wirklichkeit oder besitzt einen höheren Grad an Tatsächlichkeit als die anderen. Wir haben unterschiedliche Systeme der Beschreibung für unterschiedliche Zwecke entwickelt. Keines ist einem anderen ohne Rücksicht auf den Zweck, also absolut überlegen.

Man darf verschiedene Perspektiven nicht vermischen. Denken wir uns jemanden, der ein Bild zerlegte, um herauszufinden, was es darstellt: Wir würden ihn für verrückt halten - verrückt im Sinne eines Kategorienfehlers. Es geht nie gut, wenn wir Fragen, die sich auf der einen Beschreibungsebene stellen, auf einer anderen zu beantworten suchen. Es entstehen begriffliche Vexierbilder, die uns verhexen können.

Richtig! Man darf verschiedene Perspektiven nicht vermischen!

Wie beim Gemälde, so auch beim Menschen. Es gibt eine physiologische Geschichte über den Menschen, zu der auch die Geschichte über das neurobiologische Geschehen gehört. Daneben gibt es eine psychologische Geschichte, in der er als eine Person beschrieben wird. Aus dieser Perspektive wird ihm vieles zugeschrieben, das in der ersten Geschichte nicht Thema sein kann, weil diese Geschichte dafür gar nicht die begrifflichen Mittel hat: Wille, Überlegungen, Entscheidungen. Nehmen wir an, jemand zerlegte einen Menschen (natürlich nur im Tomografen), um herauszufinden, was er will, überlegt und entscheidet. Wäre er nicht auch verrückt - im selben Sinne wie beim Gemälde?

Was bedeutet das für die Freiheit? Wir gebrauchen die Wörter "frei" und "Freiheit" leicht und locker und vergessen dabei häufig, daß sie einen Begriff bezeichnen, der, wie jeder Begriff, zu einer bestimmten Perspektive der Betrachtung gehört und nur dort einen Sinn ergibt. Zu welcher Perspektive? Zu derjenigen, aus der heraus wir uns als Personen sehen. Nur handelnde Wesen mit einem geistigen Profil sind mögliche Kandidaten für Freiheit und Unfreiheit. Man sucht in der materiellen Zusammensetzung eines Gemäldes vergebens nach Darstellung oder Schönheit, und im selben Sinne sucht man in der neurobiologischen Mechanik des Gehirns vergebens nach Freiheit oder Unfreiheit. Es gibt dort weder Freiheit noch Unfreiheit. Das Gehirn ist der falsche logische Ort für diese Idee.

Hervorhebung des Fettgedruckten von mir. Zustimmung zum gesamten bisherigen Inhalt der Arbeit.

Man kann weder das Sujet noch die ästhetischen Qualitäten eines Gemäldes verändern, ohne seine materielle Beschaffenheit zu verändern. Die thematischen und ästhetischen Eigenschaften sind von den materiellen abhängig. Übertragen auf den Fall von Wille und Gehirn heißt das: Das psychologische Profil einer Person kann sich nur dann verändern, wenn sich ihr neurobiologisches Profil verändert - wenngleich die neurobiologischen und psychologischen Geschichten ihrer jeweils eigenen Logik folgen. Das ist keine neue Entdeckung, sondern ein Gemeinplatz. Jeder, der ein Aspirin nimmt, glaubt daran.

Hierüber schreibt auch Volker Gadenne in "Qualia". Die Aspirintablette ist kein Beweis für die Abhängigkeit des psychologischen Profils vom neurobiologischen, denn von der postulierten Tablette, die wir schlucken, ist uns ausschließlich ihr durch unsere kognitiven Hirntätigkeiten erstelltes "psychisches" Modell bekannt. Die Tablette ist das Bild in der Sehrinde! Die Physik ist ein "mentales Modell", woraus folgt, daß mentalen Modellen keine physische Welt zugrundeliegt. Mehr zB in "Gehirn".

Es kann so aussehen, als würde diese Abhängigkeit psychologischer Eigenschaften von neurobiologischen Eigenschaften jede Willensfreiheit im Keim ersticken. Was nützt uns die begriffliche Tatsache, daß die Idee der Freiheit zum autonomen Beschreibungssystem des Wollens, Überlegens und Handelns gehört, wenn alles Wollen dann doch von einem neurobiologischen Uhrwerk abhängt, das seine Vergangenheit nach ehernen Gesetzen in die Zukunft hinein fortschreibt? Wird die Rede von der Freiheit dadurch nicht zu einem schlechten Scherz?

Das Problem, um das es geht, wurde gut dargestellt.

Alles hängt davon ab, was wir mit "Freiheit" meinen. Ein Teil der Heftigkeit, mit der bei diesem Thema gestritten wird, erklärt sich aus dem falschen Eindruck, wir wüßten alle ganz gut, wofür das Wort steht. Davon kann keine Rede sein; hinter den Kulissen der rhetorischen Bühne herrscht heilloses Durcheinander. Man kann Ordnung in die Sache bringen, indem man sich die Frage vorlegt: Wie muß man sich die Freiheit gedacht haben, um von der Hirnforschung erschreckt werden zu können?

Es könnte einer erschrecken, weil er gedacht hatte, die Freiheit des Willens müsse darin bestehen, daß der Wille durch nichts bedingt sei. Daß er unter exakt denselben inneren und äußeren Bedingungen ganz unterschiedliche Wege nehmen könnte. Daß er in jedem Moment sein müßte wie ein unbewegter Beweger. Gesagt zu bekommen, daß es tausend Dinge im Gehirn gibt, von denen der Wille abhängt, ist dann ein Schock.

Daß der Wille durch nichts bedingt sei, hat nichts mit dem unbewegten Beweger zu tun. Ich erklärte in meiner HP mehrfach, wie dieser Fehlschluß auf den unbewegten Beweger zustandekommt - und wie die Sache richtig liegt! Siehe "Stichwortverzeichnis" und dort "Seele, unveränderlich?". Auch ich behaupte nicht, daß der Wille durch nichts bedingt sei. Ich behaupte, er ist nicht kausal bedingt, sondern von mir, meinem Bewußtsein, meiner Seele. Ich beginne eine Kausalkette. Dieser Beginn startet nicht im Nichts, wie Bieri schreibt, sondern in meiner Seele.

Doch einen in diesem Sinne freien Willen kann sich niemand wünschen, denn er wäre ein Wille, der niemandem gehörte: verknüpft weder mit dem Körper noch dem Charakter, noch dem Erleben, noch der Lebensgeschichte einer bestimmten Person. Er wäre vollkommen zufällig, unbegründet, unbelehrbar und unkontrollierbar. Einen solch launischen Willen zu haben wäre nicht die Erfahrung der Freiheit, sondern ein Alptraum.

Das ist nach meinem Modell natürlich Unsinn! Freier Wille ist keineswegs Zufall oder Beliebigkeit! Bieri zeigt ein falsches Verständnis von Freiheit. Er kann sich bloß den Zufall als "Lenker" der Kausalitätsketten vorstellen. Man lese meine Beiträge, die ich im Stichwortverzeichnis unter "Freiheit" angeführt habe. Es gibt eine "Freiheit von ..." und eine "Freiheit zu ...". Wer die "Freiheit zu ..." nicht kennt, dem bleibt, nachdem er die "Freiheit von ..." erlangt hat, nur (zufällige) Beliebigkeit. Und ist schrecklich, wie Bieri richtig schreibt.

Ich zeigte in meinen Arbeiten, daß der Wille aufgrund moderner Denkmethoden (Wissenschaft) in Notwendigkeit (Kausalität, determiniertheit) und Zufall zerfallen sei. Das bedeutet keineswegs, daß freier Wille etwas Zufälliges sei.

Es könnte einer erschrecken, weil er sich den Willen zwar nicht als unbewegten Beweger gedacht hatte, sondern durchaus als etwas, für das es Bedingungen gibt, aber nicht solche im Gehirn, sondern psychologische Bedingungen, die aus nicht-physischen Phänomenen zu bestehen hätten. Der Schock gilt jetzt nicht mehr der Bedingtheit des Willens überhaupt, sondern seiner materiellen Bedingtheit. Sie ist es, die die Freiheit zu gefährden droht.

Doch das hieße, das Mentale in einer Weise getrennt vom Physischen zu denken, die wir einfach nicht verstehen können. Wir verstehen überhaupt die ganze Kategorie des "Nicht-Physischen" nicht. Und es gibt tausend Belege dafür, daß gilt: Keine psychologische Veränderung ohne physiologische Veränderung. Wie gesagt: Aspirin.

Das ist mein "erschrecken"! Doch für mich heißt das nicht, "das Mentale in einer Weise getrennt vom Physischen zu denken, die wir einfach nicht verstehen können"! Ich kann es nämlich verstehen. Aspirin beweist in meinem Modell gar nichts. Hier begeht Bieri einen Kategorien- oder Perspektivenfehler, wie er ihn andern Forschern (zu recht, siehe ganz oben) unterstellt hat. Willensfreiheit ist nicht auf der Ebene beschreibbar, auf der es Aspirin gibt.

Schließlich könnte einer erschrecken, weil die Hirnforschung über Prozesse spricht, die hinter unserem Rücken vor sich gehen. Es gehört zur Freiheitserfahrung, daß uns unser Wollen spontan vorkommt. Und dann kann es ein Schock sein zu erfahren, daß auch hinter dem spontanen Willen eine neurobiologische Uhr tickt. Bedeutet das nicht, daß die Erfahrung von Freiheit eben doch eine bloße Illusion ist? Daß wir uns nur frei fühlen, es aber nicht sind?

Nein. Nichts an unserer Erfahrung geschieht ohne physiologischen Hintergrund: nicht die Wahrnehmung, nicht das Denken, nicht das Fühlen. Doch niemand kommt auf die Idee, daß dieser physiologische Hintergrund den Gegenstand all dieser Erfahrungen zu bloßen Illusionen macht. Warum also beim Willen?

Warum nicht: "Nichts Physiologisches geschieht ohne geistigen Hintergrund!"? Ich zeige in meiner HP mehrfach, daß das Physikmodell ein Modell ist, das von unserer Geist-Seele konstruiert wird. Siehe Gehirn.html.

Nur dann, wenn sich jemand die Freiheit des Willens auf so unplausible Weise denkt, kann er sie durch die Enthüllungen der Hirnforscher bedroht sehen. Sonst nicht. Und nur dann, wenn ein Hirnforscher insgeheim einer dieser ungereimten Vorstellungen von Freiheit anhängt, kann er glauben, daß seine Entdeckungen unser Selbstbild von willensfreien Personen zu erschüttern vermögen. Und so kommt es zu meiner unverschämten Diagnose: Was wie eine besonders klarköpfige Feststellung daherkommt, die die nüchterne Autorität des neuropsychologischen Labors hinter sich hat, setzt, was ihr Pathos angeht, ein Stück abenteuerliche Metaphysik voraus.

Doch was für ein anderes Verständnis von Freiheit hat der Unerschrockene vorzuschlagen? Es ist im Kern dieses: Unser Wille ist frei, wenn er sich unserem Urteil darüber fügt, was zu wollen richtig ist. Und der Wille ist unfrei, wenn Urteil und Wille auseinander fallen - das ist der Fall beim Unbeherrschten, den seine übermächtigen Wünsche überrennen und zu einer Tat treiben, die er bei klarem Verstand verurteilt; und es ist der Fall beim inneren Zwang, wo wir gegen besseres Wissen einem süchtigen Willen erliegen. Die Unfreiheit zu überwinden und zur Freiheit zurückzufinden heißt jeweils, Urteilen und Wollen wieder zur Deckung zu bringen und eine Plastizität des Willens zurückzugewinnen, die in dem Gedanken Ausdruck findet: Ich würde etwas anderes wollen und tun, wenn ich anders urteilte. Das nämlich ist die richtig verstandene Offenheit der Zukunft.

Das Fettgedruckte ist Peter Bieris zentrale Aussage dieses Aufsatzes. Der Wille ist also frei, wenn er mit unserem Verstand übereinstimmt. Oder mit anderen Worten: Wir haben einen freien Willen, wenn unser Verstand unserm Willen sein Urteil aufzwingen kann. Ich behaupte: Das ist barer Unsinn! Bieri hat den Willen vom Willen in den Verstand verlagert, hat die Urteilskraft dem Willen entzogen und dem Verstand zugeeignet. Der Verstand will aber nichts, und er urteilt nicht. Er muß dem Urteil des Willens dienen. Der Verstand hat kein Urteil. Er läuft wie eine Maschine oder ein Komputerprogramm. Die Unterstellung des Willens unter den (rationalen) Verstand ist nichts anderes, als ein weiterer Versuch, den Willen zu naturalisieren - ihn als Teil einer (rationalen, physikalischen) Natur zu verstehen - und ihn letzlich zu leugnen.

Keine neurobiologischen Befunde können die in diesem Sinne verstandene Freiheit gefährden. Das Zusammenfallen oder Auseinanderfallen von Urteil und Wollen hat eine neuronale Grundlage. Aber daß es diese Grundlage gibt, heißt nicht, daß es den beschriebenen Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit nicht gibt. Neurobiologische Entdeckungen können Willensfreiheit nicht als Illusion entlarven. Wenn sie etwas entlarven, dann nur metaphysische Mißverständnisse von Freiheit. Und um sie zu entlarven, brauchen wir die Neurobiologie eigentlich gar nicht. Klares Denken genügt.

Aus der bisherigen Geschichte ergibt sich, daß der tausendfach beschworene Konflikt zwischen Determinismus und Freiheit keiner ist. Dieser angebliche Konflikt ist nicht mehr als eine mächtige rhetorische Suggestion, die man außer Kraft setzen muß. Der Kontrast zum Determinismus ist der Indeterminismus. Und der Kontrast zu Freiheit ist nicht Determinismus, sondern Zwang. Es gibt also nicht den geringsten Grund zu erschrecken, wenn wir vor den Tomografieaufnahmen unseres Gehirns sitzen und sehen, wie festgefügte naturgesetzliche Dinge vor sich gehen, wenn wir unsere Freiheit ausüben, indem wir uns entscheiden.

Aber zeigen die Bilder nicht, daß in Wirklichkeit gar nicht wir entscheiden, sondern das Gehirn? Das klingt, als wären wir unfreie Marionetten. Doch so kann es nicht sein. Das Gehirn nämlich kann gar nichts entscheiden, die Idee des Entscheidens hat keinen logischen Ort in der Rede übers Gehirn. Entscheidungen im eigentlichen Sinne gibt es nur, wo von Gründen und Überlegen die Rede sein kann. Es ist ein Fehler, in die Rede über das Hirn einen Begriff wie "entscheiden" aus der Sprache des Geistes einzuschmuggeln. Es ist so, als spräche man in der physikalischen Geschichte über ein Gemälde plötzlich von seinem Thema.

Obigem Absatz stimme ich zu! Besonders dem Hervorgehobenen. Unser Wille, unser Bewußtsein, ist nicht im Gehirn, sondern das Gehirn ist in unserer bewußten, wollenden Seele. Fragt sich nun, wie Bieri die Alokalität der "entscheidenden" Instanz ohne "abenteuerliche Metaphysik" (s. ganz oben) erklären will!

Die neurobiologische Herausforderung trifft uns, weil sie die Idee der Verantwortung und den Sinn moralischer Empfindungen in Frage stellt. Hätte die Hirnforschung die Willensfreiheit widerlegt, so müßten wir umdenken: Therapie statt Schuld und Sühne, Mitleid statt Groll und Empörung. Es wäre eine Revolution in unserem Menschenbild. Ist sie nötig?

Nein, denn diejenige Freiheit, die durch keine Hirnforschung widerlegt werden kann, reicht für Verantwortung. Wir knüpfen Verantwortung nicht an einen unbewegten Beweger oder einen nicht-physischen Willen. Wir prüfen, ob jemand denkend Kontrolle über seinen Willen auszuüben vermochte oder nicht. Im ersten Fall schreiben wir Verantwortung zu, im anderen nicht.

Meine Freiheit ist auch durch keine Hirnforschung widerlegbar! Der obige fettgedruckte Satz ist völliger Quatsch! Was ist, wenn ich nicht denkend Kontrolle über meinen Willen ausüben kann? Ist es dann Wille oder nicht eher Zwang? Nun, ich weiß schon, was Bieri meint. In meinem Modell heißt es folgendermaßen: Ich will etwas, und nun sucht mein Verstand einen Weg, wie ich das Ziel erreichen kann. Falls er keinen Weg findet, suche ich entweder einen anderen Weg oder ich springe ins kalte Wasser und sage mir: "Es wird sich schon ein Weg finden". So läuft das bei mir, und ich frage mich, wo hier der Verstand den Willen kontrolliert.

Nur bei Dienern kontrolliert der Verstand den Willen: "Ich will nach Hause gehen und mich ausschlafen, aber der Chef entläßt mich, wenn ich nicht weiterarbeite. Da ich ohne Job kein Geld verdiene, entscheide ich mich gegen meinen Willen zum Weiterarbeiten, wenn's auch schwerfällt." Nun, hier steht der Wille, den Job zu behalten über dem, nach Hause zu gehen. Vielleicht ist mein Beispiel schlecht. Was ich zeigen will, ist, daß viele Menschen Rädchen in einem Getriebe sind und Angst haben, auszufallen und überflüssig zu werden. Sie wollen überleben. Diesen einen Willen ungeachtet sind sie Rädchen im Getriebe zB des Kapitalismusses und hören nicht auf ihren Willen. Das ist Bieris "Verantwortung", von der er spricht. Er will Sklaven von ihrer Willensfreiheit überzeugen, um sie bei der Stange zu halten.

Man kann Philosophie als den Versuch beschreiben, sich im Denken zu orientieren. Als Kinder lernen wir Wörter wie "Freiheit" und "Verantwortung". Wir plappern sie nach. Später entdecken wir, daß uns gar nicht klar ist, was wir sagen; wir merken es, sobald wir uns verstolpern. Dann müssen wir über den logischen Ort dieser Begriffe nachdenken - wie wenn man sich für eine Stadt, in der man bisher nur herumgeirrt ist, einen Stadtplan zurechtlegt. Philosophen sind die Kartografen unseres Denkens bei den allgemeinsten Themen. Und die Karte der Freiheit zeigt: Wir brauchen kein neues Menschenbild, wir müssen das alte nur richtig verstehen.

Die Philosophen sind nicht nur die Kartographen unseres Denkens; sie sind auch dessen Konstrukteure, wie dieser Artikel zeigt. Für Bieri war es wichtiger, daß die Leute die naturwissenschaftliche Methodik akzeptieren, als daß sie etwa von der daraus notwendig resultierenden Willensunfreiheit überzeugt sind. Sie sollen aufgrund ihrer "gefühlten" Entrüstung über die wissenschaftliche Behauptung, es gebe keine Willensfreiheit, nicht dazu angeregt werden, die wissenschaftliche Methodik grundsätzlich infragezustellen: "Sollen die Leute doch an den freien Willen glauben! Hauptsache, sie akzeptieren unbesehen die wissenschaftliche Methodik! Dann werden sie früher oder später automatisch herausfinden, daß es Willensfreiheit nicht gibt!" (die "Zitate" dieses Absatzes habe ich Bieri in den Mund gelegt. Sie sollen zeigen, welche Gedanken ich in ihm vermute).

Siehe auch "Roth.html", "Willensfreiheit2", "Willensfreiheit.html", wo ich auch schon mal auf Bieri eingegangen bin, "Qualia.html", "Metzinger.html", "Metzingervortrag.html" "Werkstatt5.html", wo ich das Bieri-Trilemma auflöste.

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