Aktuelles 13

 

5.1.2007: Verantwortungsethik und Gesinnungsethik

http://de.wikipedia.org/wiki/Verantwortungsethik http://de.wikipedia.org/wiki/Gesinnungsethik und http://www.textlog.de/2296.html

Ich sehe bereits in Max Webers Gegenüberstellung »Gesinnungsethik« versus »Verantwortungsethik« einen Irrtum. Für mich bilden beide Ethiken einen gemeinsamen Pol, der dem gemeinsamen Pol von Verantwortungslosigkeit und Gesinnungslosigkeit (Weber verwendet auch diese Begriffe) gegenübersteht.

Es gibt keine Verantwortungsethik ohne Gesinnungsethik. Es gibt eine Gesinnungsethik mit engem und eine mit weiterem Horizont. Das Beispiel in Wikipedia verdeutlicht diese Behauptung:

Ein reiner Verantwortungsethiker wird Spenden für Lebensmittellieferungen an Hungernde in Afrika wahrscheinlich ablehnen, wenn nicht gleichzeitig wirksame Maßnahmen ergriffen werden, um das dortige Bevölkerungswachstum zu hemmen, da sonst zu erwarten wäre, dass zukünftig pro Jahr mehr Menschen leiden und verhungern als dies jetzt der Fall ist.

Ein Verantwortungsethiker ist ein Gesinnungsethiker, der nicht nur auf das Individuum blickt, dem er hilft, sondern auch auf das Umfeld, in dem es lebt und was als längerfristige Folge der Hilfe zu erwarten ist. Er berücksichtigt Erkenntnisse wie die, dass man mit gutgemeinten Hilfeleistungen nicht nur hilft, sondern unter Umständen die Geholfenen in Abhängigkeit bringt, sodass diese die Fähigkeit verlieren, ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Ergo überlegt sich ein Verantwortungsethiker, wie er eine Hilfe zur Selbsthilfe leisten kann.

In diesem Sinne bin ich ein Verantwortungsethiker. Es kommt vor, dass ich jemandem gesinnungsethisch helfe und mir dabei denke: "Ich helfe jetzt, obwohl ich weiß, dass es ihm langfristig nicht gut tut. Ich gebe dem Alkoholiker einen Euro, wissend, dass dieser sich davon sofort bei ALDI zwei Dosen Bier kauft. Ich tu's, weil ich denke: "Wenn niemand sein Betteln erhören würde, wäre die Welt so kalt, dass es für ihn keinen Grund gäbe, mit dem Trinken aufzuhören." Und schon bin ich Gesinnungethiker wieder Verantwortungsethiker.

Man ist immer beides - oder eben gar kein Ethiker. Man ist ethisch oder - wie Weber schrieb - verantwortungs- und gesinnungslos. Ich fürchte, wenn ein Politiker oder Wirtschaftsbonze das Wort "Verantwortungsethik" in den Mund nimmt, will er seine Gesinnungs- und Verantwortungslosigkeit hinter einem schönen Wort verstecken.

Besonders heute muss man hier misstrauisch sein, denn der Neoliberalismus ist eine Philosophie, in deren Repertoire der Begriff "Ethik" überhaupt nicht vorkommt. Der Neoliberalismus ist eine Philosophie, die als Wirtschaftstheorie gleichzeitig auch Gesellschaftstheorie sein will. Sie anerkennt als Wert allein den Geldwert. Die Spielregeln der Ökonomie sollen die einzig gültigen sein und die alten Spielregeln von Gesellschaft und Politik ersetzen.

Die heutigen "Verantwortungsethiker" glauben, dass man die Handlungen aller Menschen auf rein ökonomische Handlungen reduzieren könne. Diese Art der Handlungen seien zwar sämtlich unethisch und egoistisch, aber die Einhaltung der Spielregeln der Ökonomie bei jeglichem Handeln führen dazu, dass aus der Summe egoistischer (und stets ökonomisch legalisierter) Handlungen (die im ökonomischen Rahmen nur geldgierige sein können) so etwas wie Gemeinwohl resultiere.

Das ist freilich eine abenteuerliche Philosophie. Alles begann mit einer Entscheidung. Was wähle ich als Basis? Den Geist oder die Materie (Physik)? Entscheide ich mich für die Physik, war diese Entscheidung zugleich meine letzte, denn das Physikmodell, innerhalb dessen ich fortan sämtliche Fragen beantworte und Probleme löse, kennt keine Entscheidungsmöglichkeit. Von da an ist alles determiniert. Das Leben hat sich dann an die Formeln der Evolutionstheorie gehalten. Es ist ein Kampf um Ressourcen - und die Ökonomie ist nichts als die Fortsetzung der Spielregeln der Evolutionstheorie. Alles Handeln ist entweder schädlich oder nützlich für das evolutionäre Fortkommen. Wer nicht im Sinne der Evolution - also nicht im Sinne der modernen Ökonomie - handelt, stirbt aus. Die rücksichtslose Durchsetzung der Evolutionstheorie und deren Fortsetzung als globale Ökonomie (= heute Kapitalismus) ist einziger Garant des Überlebens der Menschheit und ist demzufolge die "wahre Verantwortungsethik".

"Die Natur hat keine Moral!" - Das ist ein Satz, den Unmoralische gern hören und mit ihren finanziellen Mitteln zu verbreiten suchen. Das ist ein Satz, wie ihn die Evolutionstheorie produziert. "Geist" gibt es - so sagt es die Theorie - nur als Epiphänomen physikalischer, also determinierter, Prozesse. "Epiphänomen" bedeutet, dass Geist als Nebenprodukt physikalischer Prozesse entsteht, jedoch keinerlei Wirkungen auf das physikalische Geschehen habt. Die Welt würde ohne (epiphänomenalem) Geist exakt genauso funktionieren wie mit ihm. Demnach gebe es keinen Grund, über dessen Existenz nachzudenken. Geist bewirke schlicht nichts. Es gebe nicht einmal die Möglichkeit, so etwas wie Geist nachzuweisen. Man kann ihn nicht messen. Da es keinen Geist gibt, gibt es auch kein Bewusstsein, kein Denken, keine Willensfreiheit - keine Werte, also keine Moral, keine Ethik.

Das also ist die Philosophie der Neoliberalen. Gefragt, was sie unter"liberal" verstehen, antworten sie, wenn sie ehrlich sind, Freiheit von ethischen Selbstbeschränkungen: Ich will jeden übers Ohr hauen dürfen! Das soll meine Freiheit sein. Ich will andere Menschen für mich arbeiten lassen und ihnen nur soviel Gegenleistung erbringen, wie sie von mir abpressen können. Haben sie keine Macht, soll es mein Recht sein, mit ihnen zu machen, was ich will. Ihre Schuld, wenn sie es versäumen, sich zu organisieren und eine Gegenmacht aufzubauen. Ihre Schuld, wenn sie ihre Chancen nicht nutzen.

Der finanzielle Aufwand, den die Neoliberalen treiben müssen, um ihre Philosophie durchzusetzen, muss astronomisch hoch sein. Die Bertelsmannstiftung kann sicher ein Lied davon singen. Viele allzu naheliegende Wahrheiten müssen von Milliarden Menschen ferngehalten werden, zB die Wahrheit, dass die Physik ein menschengemachtes Modell ist. Physik ist nicht Basis von Theorien, sondern selbst eine Theorie. Die physikalische Welt ist nicht Basis geistiger Prozesse, sondern deren Ergebnis. Ohne Geist als Basis kann es kein Physikmodell geben. Ethik, Bewusstsein, Freiheit und Leben gibt es zwar nicht im Physikmodell (in der materiellen Welt), da haben die Wissenschaftler und die Neoliberalen recht, aber sehrwohl im Geist.

Ohne Geist sind alle Begriffe - auch die physikalischen - ihrer Bedeutung beraubt. Es gibt Geist. Fragt sich jetzt, wie er mit dem geschlossenen Physikmodell korrespondiert. Wie wirkt Geist auf Physik? Schon Descartes brütete (erfolglos) über diesem Problem. Ich bin meines Wissens der erste, der das Problem löste. Der Geist projiziert eine determinierte Welt samt Vergangenheit und Gegenwart. Ändert sich der Geist aufgrund seines freien Willens, ändert er die gesamte Projektion: Vergangenheit und Gegenwart ändern sich als Ganzes. Einem Empiriker ist es unmöglich, das zu messen. Seine Welt bleibt geschlossen. Der Eingriff des Geistes bleibt unfeststellbar.

Ich selbst habe die Gabe, diese Veränderungen, die meine Entscheidungen an der Welt bewirken, wahrzunehmen. Ein Empiriker, also ein Naturwissenschaftler, hat m.E. nur eine einzige Möglichkeit, diese Behauptung zu überprüfen. Er könnte die Welt, wie sie heute ist, mit der Welt, wie sie in alten Dokumenten beschrieben wird, vergleichen. Dazu müsste er versuchen, die Dokumente nicht ins heutige Weltmodell umzudeuten, sondern er müsste herauszufinden versuchen, wie der Autor die Welt interpretiert hat - was der Autor gemeint haben könnte.

Wen zB heute ein Ägyptologe in einem alten Dokument liest, dass Pta, der erste Pharao, 40000 Jahre alt geworden sei, so denkt er: "Nun, ich weiß ja, dass er höchstens 100 Jahre alt geworden ist! Was also mögen diese 40000 Jahre bedeuten? Mondjahre? Tage?" Fast alle Dokumente handeln von Religion und Magie. Unser Ägyptologie weiß allerdings, dass es Magie nie gegeben hat, sondern bloß Täuschung und Selbsttäuschung; schließlich war die Welt früher genauso physikalisch wie heute.

Woher weiß der Ägyptologe das? - Nun, die Magie, der er verfallen ist, verlangt von ihm zu glauben, dass die Naturgesetze ewig und die Naturerscheinungen vergänglich seien. Woher will er wissen, dass es nicht anders ist, dass Naturgesetze und Erscheinungen eng zusammengehören, miteinander verschränkt, rückgekoppelt, sind, und dass die Naturgesetze identisch mit den Strukturen des Geistes, in denen er denkt, sind?

Nachtrag: Nachdem ich Obiges geschrieben hatte, las ich http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24367/1.html . Passt ganz gut!

Der Krieg der Neoliberalen gegen die Völker (siehe Aktuelles 12) geht weiter: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24376/1.html und http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24372/1.html

6.1.2007: Drei Kränkungen - drei Gesundungen

Im 18. Kapitel seiner "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" (GW 11, 1917, S. 294-95) schrieb Siegmund Freud:.

"Mit dieser Hervorhebung des Unbewussten im Seelenleben haben wir aber die bösesten Geister der Kritik gegen die Psychoanalyse aufgerufen. Wundern Sie sich darüber nicht und glauben Sie auch nicht, daß der Widerstand gegen uns nur an der begreiflichen Schwierigkeit des Unbewussten oder an der relativen Unzugänglichkeit der Erfahrung gelegen ist, die es erweisen. Ich meine, er kommt von tiefer her. Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft ähnliches verkündet hatte. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluss von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vorgeht."

Mein Kommentar: Alles Quatsch! Selbst die moderne Physik behauptet, jeder Punkt im Universum sei auch dessen Mittelpunkt. Die erste Kränkung können wir getrost vergessen.

Die zweite Kränkung kränkt ausschließlich die Anhänger der Evolutionstheorie, wonach der Mensch nicht etwa die Krone der Schöpfung, sondern eine Sackgasse blinder physikalisch-biologischer Prozesse sei. Der Begriff "Sackgasse" wird natürlich von Evolutionstheoretikern und -praktikern ungern benutzt; allerdings besagt der theoriegestützte Befund, dass Bakterien, Flechten und Ratten wesentlich günstigere Überlebensprognosen aufweisen, als der Mensch. Die höchstentwickelten Spezies seien leider immer auch die gefährdetsten. Und da die Theorie Erfolg an der Dauer des Überlebens misst, erzwingt die Theorie eine Umwertung des Begriffs "Hochentwickelt". Bakterien sind nach der Logik der Theorie höher entwickelt als Menschen. Die angeblichen Gewinner des "Struggle of the Fittest" sind meist auch die Verlierer. Wir hängen nicht am höchsten Ast des Darwinschen Abstammungsbaumes.

Man kann die Sache aber auch ganz anders sehen: Es könnte sich erweisen, dass die Theorie falsch ist oder zumindest für den Menschen falsch ist. Der Mensch könnte erkennen, dass er höchstwahrscheinlich aussterben wird, falls die Evolutionstheorie richtig und er der Evolution ausgeliefert ist. Er könnte sich entschließen, dieses Ausgeliefertsein zu beenden und die Evolution in die eigenen Hände zu bekommen. Ich behaupte, dass der Mensch augenblicklich dabei ist, die Evolution(stheorie) außerkraftzusetzen. Ein Evolutionsbiologe, dem ich dies sagte, konterte, der Kampf gegen die Evolution sei Bestandteil der Evolution(stheorie). DAS freilich halte ich für (unwissenschaftlichen*) Schwachsinn. Außerdem besteht noch die Möglichkeit, dass meine Theorie, die man vielleicht in die Kiste "Intelligent Design" stecken könnte, richtig ist.

Auch die dritte Kränkung ist weniger eine Kränkung, denn eine Gesundung. Schließlich wissen wir, dass Freud unter "Ich" das verstand, was ich als "Ego" bezeichne: das fremdbestimmte Ich, das manipulierte Ich, das Außenbild einer Person, die Maske für die und von den Andern. Dieses Ego war nie Herr im eigenen Hause. Es ist Produkt der "Herren der Welt", der Großmanipulatoren. Wer sich mit seinem Ego identifiziert, ist Sklave fremder Herren.

Dieses Wissen um das Ego kann uns freilich bei der Selbstbefreiung aus unverschuldeter Unmündigkeit helfen. Wir können die Illusion des Egos erkennen und unser wahres Sein darunter erforschen und dessen Position einnehmen. Ich jedenfalls habe erkannt, dass ich Masken trage und Rollen spiele. Aber ich bin weder diese Masken, noch diese Rollen. Ich beweise es mir, indem ich mir Masken und Rollen nach meinem Willen konstruiere. Ich bin Konstruktivist. Und ich weiß, was hinter den Masken steckt: ICH - "meine" Seele.

*) Der Grund ist der folgende: Wenn eine Theorie auch (bei identischen Anfangsbedingungen) das Gegenteil ihrer Aussage behauptet, ist sie keine wissenschaftliche Theorie mehr. Sie bewegt sich im Reich der Beliebigkeit. Sie "erklärt" alles und damit nichts. Wie zB die Psychologie. Auch sie ist eine "Allestheorie", die alles erklärt und kein Verhalten ausschließt. Wissenschaftliche, also deterministische, Theorien müssen jedoch in der Lage sein, etwas auszuschließen. Andernfalls lassen sich die Theorien nicht widerlegen. Sie sind dann unüberprüfbar. Jeder, ob Laie oder Experte, könnte dann irgendetwas behaupten - und alles wäre gleichberechtigt.

Ich lege wert auf die Feststellung, dass ich nun keineswegs behaupte, Allestheorien seien grundsätzlich falsch, nein, im Gegenteil, ich sage, sie sind grundsätzlich richtig! Aber: Sie sind nun einmal definitiv wissenschaftlich falsch! Meine Theorie vom Primat des Geistes ist ebenfalls eine Allestheorie. Sie ist besser als die andern erwähnten Allestheorien, weil sie die einzige ist, die nicht nur offen zugibt, eine Allestheorie zu sein, sondern zudem noch einen besonderen Wert auf diese Feststellung legt. Ich nehme den "Nachteil" meiner Allestheorie bewusst in Kauf. Meine Theorie ist nicht objekivierbar. Sie ist rein subjektiv. Der Wille, den ich behaupte, ist mein Wille. Ich kann und will nichts beweisen.

8.1.2007: Notorischer Miesmacher oder Utopist

Ich bekomme regelmäßig E-Briefe des Inhalts, ich sei ein notorisch schlechtgelaunter besserwisserischer Miesmacher. Was mir zu Weihnachten ein 'Eidgenoss' ins Parsimonyforum schrieb, ist eine der harmlosesten Briefe, die ich erhalte:

Geschrieben von 'Ein Eidgenoss' am 22. Dezember 2006 22:30:50:

Es ist jetzt bald Weihnachten - auch für Nichtchristen eine mystisch-magische Zeit - und ich lese hier auf der www.hanjoheyer.de Site nur das Schlechte, was Deutschland überrollt. Keine Spur von "Wiederverzauberung der Welt", nichts von magischem Erleben. Nur Kopfgeburten, Projektionen, Schuldzuweisungen...

Vielleicht wäre es wirklich mal an der Zeit, dass Ihr Deutschen nicht nur ewiglich auf Euren Erlöser, wer immer auch das sein mag, wartet, sondern Euch selbst erlöst. Wie das geht? Ganz einfach. Jeder erschaffe zuerst seine eigene Welt, die ihm (wirklich) passt. Doch ich lese nur immer, was alles schlecht in deutschen Landen läuft, wer alles von den "bösen Neoliberalen" bereits besetzt ist, was alles Schreckliches noch über Deutschland kommen mag. Wo bleiben nur die auf dieser Website vielfach angetönten Visionen (Idealismus etc.)? Glaubt Ihr wirklich, dass etwas besser wird, wenn Ihr das (scheinbar) Negative dauernd füttert?

In diesem Sinne wünsche ich Euch allen - trotz aller "Auswegslosigkeiten" - ein besinnliches, magisches und freudvolles Weihnachtsfest.

Meine Antwort ist im Forum nachlesbar. Ich möchte mir nun überlegen, wie eine bessere Welt machbar wäre und wie sie aussehen könnte. Stellen wir uns einfach mal vor, die Politiker würden ab einem Stichtag - der 1.1.07 ist leider schon verstrichen - nur noch die Wahrheit sagen. Gut, das zu hoffen, ist zwar erlaubt, aber die Realisation der Hoffnung ist vollkommen ausgeschlossen, denn das Volk würde die Politiker auf der Stelle zuerst foltern und dann lynchen. Wir hätten von heute auf morgen keine Regierung mehr.

Die Politiker wissen das natürlich. Aber nehmen wir einmal an, wir würden ihnen für alle vergangenen Untaten Generalamnestie erteilen. Sie, die Experten der Lüge und damit Experten der Wahrheit, würden Klartext reden. Da das Volk meine HP nicht gelesen hat, wird es schockiert sein. Die meisten Menschen werden es nicht ertragen, zu erfahren, dass sie ihr gesamtes Leben im falschen Film zugebracht haben. Sie werden erfahren, dass sie als Zombies und Sklaven in vollständiger Illusion über sich und die Welt bisher nur eine Scheinexistenz in einer Scheinwelt gefristet haben. Als Menschen sind die meisten noch gar nicht geboren worden, und einem 25- oder gar 80-Jährigen dürfte diese Erkenntnis derart unerträglich sein, dass er dann doch lieber wieder von morgens bis abends belogen werden will.

Aber stellen wir uns vor, die Geschockten täten klugerweise erst einmal gar nichts; sie ließen das Neue wie einen spannenden Science-Fiction-Film namens "The Real Matrix" über sich ergehen und würden sich Zeit lassen, sich an die neue Welt zu gewöhnen. Wie könnte dieses Utopia aussehen?

Ich möchte nicht mit Utopia beginnen, sondern schildern, wie ich mir die Übergangszeit vom Hier und Heute ins künftige Utopia vorstelle. Die Übergangszeit ist jener Zeitraum, in dem sich die Wahrheit gegen die Lüge durchsetzten würde. Meine Forderung, die Politiker mögen ab eines Stichtages nur noch die Wahrheit sagen, bedeutet nicht, dass sie von da an die Wahrheit herausposaunen, sondern vielmehr, dass sie erst einmal schweigen und sich genau überlegen, was sie der Öffentlichkeit wie mitteilen wollen.

Die erste auffällige Beobachtung, die das Volk machen würde, wäre das große Schweigen der Politiker. Jene würden den Massenmedien keinerlei öffentliche Interviews mehr geben, sondern ausschließlich Journalisten zu stets nichtöffentlichen Gesprächen einladen. Die Journalisten müssen auf ihre angestammte und zugedachte Rolle, informelles Bindeglied zwischen Regierung und Volk zu sein, vorbereitet werden. Die Regierung spricht nicht selbst zum Volk, sondern über die Institutionen der Massenmedien (Fernsehen, Zeitungen, Bücher), wie es sich gehört und wie es von Anfang an geplant war.

Der Politiker spricht Klartext ausschließlich mit ausgewählten kompetenten Journalisten. Der Journalist sollte darin ausgebildet sein, die nackte wahre Information so aufzubereiten, dass der Kleine Mann sie verstehen kann. Das ist sein Metier. Hier hat der Politiker nichts zu suchen! Der Journalist sollte seine Klientel - seine Leserschaft - kennen. Ein ZEIT-Reporter muss die nackte Information weniger stark herunterkochen als ein BILD-Journalist. Beide sollten in der Lage sein, ihre Leserschaft einfühlsam mit der großen Welt bekanntzumachen. Die Zeiten, in denen Journalisten nichts zu tun haben, weil die Politiker deren Rollen (mit unglaublich schlechtem Erfolg) übernommen haben, sind vom Stichtag an vorbei.

Die erste Botschaft, die die Politiker über die Journalisten unter die Leute bringen müssten, wäre die, dass es für die meisten Menschen grausam wäre, in einem gesetzlosen Raum zu leben. Aus diesem Grund seien weltweit Nationen gegründet worden, und in jeder Nation gelte nationales Recht. Die nationalen Rechtssysteme schützen den Schwachen gegen die Übermacht des Starken. Im Gegenzug seien die Bevölkerungen der Nationen aufgerufen, ihre Rechtssysteme gegen Verletzungen zu schützen. Es lohnt sich, gegen Gesetzesübertreter zu kämpfen. Die Journalisten müssen den Leuten klarmachen, dass es keineswegs Heldentaten sind, wenn es jemandem gelungen ist, zB mit "1000 legalen Steuertricks" das Gemeinte der Gesetze zu umgehen.

Desweiteren müssen die Journalisten den Leuten klarmachen, dass es leider immer noch nicht gelungen sei, ein internationales Rechtssystem durchzusetzen. Mit anderen Worten: International gilt das "Faustrecht", das Unrecht des Stärkeren. Das sei auch der Grund, weshalb es viele starke Konzerne in den internationalen Bereich zieht. Als internationale Konzerne sind sie frei - neoliberal!! Sie brauchen keine Steuern zahlen, keine Rücksichten nehmen; Millionen Tote zählen nicht; der Starke fühlt wohl sich im Sumpf aus Korruption und Terrorismus. Selbstverständlich wollen die Konzerne ihr liebstes Milieu, ihren Sumpf, ich nenne es mal "Mafiamilieu", auch auf die Nationen ausdehnen, denn die nationale Gesetzgebung und deren Gerechtigkeit kosten den Konzernen bares Geld. Sie wollen die nationalen Ordnungen auflösen zugunsten internationaler Mafiastrukturen. Die Politik ist der natürliche Gegner der Mafiosi. Die Politik muss den Handel, der gern Freibeuterei sein will, unter die Kontrolle des Gesetzes bringen.

Das Experiment der letzten Jahrzehnte, die Politik den Wirtschaftsbossen zu überlassen, während die Politiker die Arbeit der Journalisten taten, ist endgültig gescheitert. Die Gesellschaft wird ab sofort wieder auf die Füße gestellt. Jede Klasse macht ab sofort wieder die ihr zugewiesene Arbeit: Der Journalist erklärt dem Volk die Politik; der Politiker kontrolliert die Wirtschaft und macht die Gesetze, und die Wirtschaft produziert die Güter, hält die benötigten Dienstleistungen parat und mischt sich nicht mehr in die Politik ein. Lobbyistentum wird verboten. Ein Politiker darf nicht in die Wirtschaft wechseln. Er darf nicht viel Geld verdienen, keinesfalls mehr als nationaler Durchschnittslohn; statt dessen hat er ja die Macht. Damit soll erreicht werden, dass nur Idealisten in die Politik gehen, und Leute, die reich werden wollen, in die Wirtschaft.

Internationalisierungen sind nur noch dort zulässig, wo es internationale Gesetze gibt. EU-Konzerne dürfen demnach ausschließlich innerhalb der EU Niederlassungen gründen, nicht jedoch im mafiosen Sumpf. Geld gilt nur in gesetzlich geordneten Räumen. Leider muss man derartige Banalitäten unseren Politikern, Wirtschaftswissenschaftlern und erst recht den Konzernbossen erklären. Politiker haben Idealisten (Zukunftsplaner) zu sein; Wirtschaftskapitäne Pragmatiker, also Ausführende politischer Vorgaben. Diese Unterscheidung muss wieder eingeführt und den Leuten erklärt werden.

9.1.2007 Leserbrief:

Hi Jo,

ich wollte es wissen und habe mir um die 80 Bücher zum Thema Globalisierung gekauft; die meisten davon von Pluto Press. http://www.plutobooks.com/cgi-local/main.pl

In der akademischen Diskussion, so fällt mir auf, wird mit nahezu religiöser Ehrfurcht von der Globalisierung gesprochen:

überwältigendes Schicksal [intractable fate]
unumkehrbar [irreversible]
Mächte, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen [forces that are beyond human control]
unvermeidbar [inevitable]

Die Autoren, die die Globalisierung – je nach Standpunkt – ‚divinisieren’ oder ‚dämonisieren’ zeichnen sich darin aus, dass sie eine Definition und Erklärung des Begriffes selbst vermeiden; sie beschränken sich auf das reine Beschreiben von Symptomen, was darauf deutet, dass sie das Phänomen als solches gar nicht verstanden haben!

Prem Shankar Jha in: The Twiligt of the Nation State, Globalisation, Chaos and War (2006), zeigt, dass es nur einen Autor, Samir Amin, gibt, der die Globalisierung in seinem Buch: Capitalism in the Age of Globalisation zu definieren und deren Ursachen aufzuzeigen weiss.

Danach ist Globalisierung der Zusammenbruch des klassischen (nationalen) Kapitalismus; d.h. die Industrieproduktion, die die Grundlage für die national-kapitalistische Gesellschaftsordnung bildete, hat aufgehört ‚national’ zu sein und ist ‚international’ geworden. Die Internationalisierung der Industrieproduktion ist die Ursache für die gesellschaftspolitischen Spannungen innerhalb der Nationalstaaten und droht letztere zu zerbrechen! Ohne nationalstaatliche Wirtschaftsordnung sind Nationalstaaten vergleichbar mit Dosen ohne Inhalt. Die Internationalisierung der Wirtschaftsordnung erzwingt die Internationalisierung der Gesellschaftsordnung. Dieser Prozess ist mit enormen Unsicherheits- und Gewaltpotential verbunden, denn freiwillig machen den nur die wenigsten Menschen mit. Er muss also den Menschen aufgezwungen werden. Und die Kraft, die diesen Zwang ausübt, ist die USA, die unter dem Deckmantel nationalstaatlicher Sicherheitsbedürfnisse Wirtschaftsimperalismus betreibt.

Das ist meineserachtens ein viel zu wenig verstandener Punkt:

Die Internationalisierung der Industrieproduktion ist nicht möglich ohne Zwang und Täuschung. Dieser Zwang und die Täuschung kann aber nicht von den internationalen Industriekonzernen ausgeübt direkt werden, sondern muss von den Industriestaaten [lies: der Westen, oder die USA und ihre Alliierten] erlaubt, gewollt und, wenn nötig, gewaltsam durchgesetzt werden. Warum sollten diese aber die Internationalisierung der Industrieproduktion zwanghaft durchsetzen wollen, wenn das doch am Ende zu ihrer eigenen Auflösung führt? Die Antwort ist einfach: die westlichen Regierungen gehorchen Mächten [lies: Internationalisten], die Interessen im Auge habe, die den Bürgern der einzelnen Länder diametral entgegengesetzt liegen!

11.1.2007: Fortsetzung der Beschreibung meiner Utopie:

Wahrheit hat in der heutigen Welt, in der die Menschen vom Gelderwerb, also vom System der Ökonomie, abhängig sind, schlechte Karten. Ökonomische Beziehungen zwischen Menschen sind immer abhängige Beziehungen. Eine Zeitung, die sich über Werbeanzeigen finanziert, kann nicht über verheimlichte Machenschaften ebendieser Werber berichten, ohne Gefahr zu laufen, ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Ergo dürfen unabhängige Zeitungen keine kommerziellen Anzeigen veröffentlichen. Leider geraten sie durch die damit verbundenen Mindereinnahmen in Nachteil gegenüber werbefinanzierten Blättern, die durchaus in der Lage sind, guten Journalismus zu bieten, aber nur so lange, bis die werbefreie unabhängige Konkurrenz durch Leserschwund pleite gegangen ist. Danach nicht mehr.

Die Wirtschaft hat kein Interesse an der Wahrheit. Aus diesem Grund kann der Journalismus nur dann seine Funktion als glaubwürdiger Mittler zwischen Politik, Wirtschaft und der Bevölkerung dienen, wenn er nicht dem System aus Angebot und Nachfrage unterstellt ist. Mit anderen Worten: Unabhängiger Journalismus muss mit Steuergeldern subventioniert werden, damit die unabhängigen Zeitungen mit den kommerziellen Anzeigenblättern konkurrieren können. Die Steuern müssen von der kommerziellen Konkurrenz aufgebracht werden.

Selbstverständlich muss auch dafür gesorgt sein, dass die subventionierten Zeitungen nicht zu unkritischen Hofberichterstattern der Regierung werden. Auch könnten unabhängige Journalisten ihre Freiheit der Versuchung der Bestechlichkeit erliegen und in ihren Zeitungen Desinformation unterbringen. Wie kann derartigen möglichen Fehlentwicklungen Einhalt geboten werden? Ich behaupte: Bestechlichkeit und Desinformation können bekämpft werden, indem man sie mit kriminalistischen Methoden aufdeckt und die wahren Fakten nennt. Bestechliche Journalisten können enttarnt und entlassen werden.

Aber wahrheitsgetreue Kritik an einer verlogenen Regierung ist auf Dauer nicht möglich, denn eine korrupte Regierung kann über ihren Einfluss auf die Subventionsvergabe die Inhalte der Zeitungen bestimmen. Sämtliche Überlegungen, wie man eine wahrheitsorientierte Presse bekommen könnte, münden in eine große Vertrauensfrage an die Regierung. Wir können nur dann Wahrheit in die Presse bekommen, wenn sich die Mächtigen (in der Regierung) des in sie gelegten Vertrauens als würdig erweisen.

Der Fisch stinkt vom Kopf her. Das Volk soll von der Presse über die Pläne der Regierung und die Geschäfte der Wirtschaft informiert werden. Es verfügt nicht über die Informationen, die es haben müßte, um den Wahrheitsgehalt der veröffentlichten Informationen zu überprüfen. Die Kontrolle des Wahrheitsgehaltes kann nur von denen geleistet werden, die die Wahrheit kennen, und dass sind allein die Regierungsstellen. Diese kontrollieren die Wirtschaft, haben die Daten der Wirtschaft und wissen, was sie selber planen.

Der Fisch stinkt vom Kopf her. Ist die Regierung verlogen, gibt es kein Gegenmittel. Da unsere derzeitige Regierung erwiesenermaßen aus einem Haufen verlogener korrupter Kretins besteht, könnten wir zwar versuchen, bei den nächsten Wahlen die einzige Partei zu wählen, die augenblicklich die Wahrheit sagt: die Linkspartei. Aber gesetzt den Fall, sie käme an die Regierung, sie würde das verlogene Geschäft der abgelösten Regierung genauso weiterführen, wie sie es vorfinden wird. Es wird sich nichts ändern.

Ich muss mal nachschauen: Ich glaube, ich las im Dao de Jing*, dass ein Volk völlig von seiner Regierung abhängig ist. Ist die Regierung korrupt, färbt die Korruption schnell ab und das gesamte Volk ist korrupt. Ist die Regierung verlogen, ist es auch das ganze Volk. Ist die Regierung wahrhaftig, ist auch das Volk wahrhaftig. Ist die Regierung gesund, ist das ganze Volk gesund.

Ich will nicht an Symptomen herumdoktern. Wir werden nur dann eine gute Presse haben, wenn die Regierung gut ist. Also bringt es nichts, sich ein institutionelles System auszubaldowern, in welchem die Wahrheit eine Chance haben könnte. Die Wahrheit hat nur dann eine Chance, wenn die Regierung wahrhaftig ist. So einfach ist das. Alles andere ist zum Scheitern verdammt. Das Volk ist eben doch nur Anhängsel der Regierung, also der Mächtigen.

Leider ist unsere Regierung von allen guten Geistern verlassen. Das ist das Problem. Um eine von guten Geistern begeisterte Regierung zu erhalten, müssen sich jene, die noch im Bunde mit guten Geistern sind, bequemen, eine solche Regierungen zu installieren. Keine korrupte Regierung kann sich selbst besinnen und aus eigener Kraft zurück auf den Weg der Tugend finden.

Wie beseelt man einen toten, stinkenden Fischkopf? Es gibt ein Wort für diesen magischen Prozess des Geisteinhauchens: Inspiration. Jemand muß ihn inspirieren, dh. mit seinem Zauber anstecken.

* Ich habe mich noch einmal im Dao de Jing kundig gemacht. In Vers 2 fand ich bereits die gesuchte Bestätigung: "Der Heilige Mensch: Er weilt beim Geschäft des Ohne-Tun, ... Die zehntausend Wesen werden geschaffen von ihm." Der Heilige Mensch ist - wie andere Verse zeigen - der weise König oder Fürst eines Volkes (der zehntausend Wesen). Kaum zu verstehen ist, was Lao Tse unter "Nicht-Tun" versteht. Es bedeutet für den Heiligen nicht, die Hände faul in den Schoß zu legen. Im Gegenteil: Es heißt eindeutig, dass er sich das Regieren schwer macht. Vers 20 zeigt es: "Die Menschen alle sind ausgelassen, Als säßen sie zechend beim Opferfest, ... Ich allein liege noch still, ... gleich einem Kinde, Das noch nie gelacht hat im Leben; Bin schwankend, bin wankend, als hätt ih die Heimat verloren. Die Menge der Menschen hat Überfluss; Nur ich bin gleichsam von allem entblößt."... usw usw.. Der Heilige hat alle Höhen und Tiefen durchschritten, hat alle Lektionen der Welt gelernt, hat Bewusstsein gebildet. Am Ende heißt es dann jedoch: "Brich ab alles Lernen, so bist du sorgenfrei!" Wie das? Ich bin sicher, damit ist gemeint, dass alles Wissen transzendiert werden muss. Transzendiertes Wissen ist dreifach aufgehobenes Wissen (siehe Hegel): Es wird aufgehoben im Sinne von "aufgelöst", aufgehoben im Sinne von "aufbewahrt", und aufgehoben im Sinne von qualitativ "erhöht". Der Weise lebt, als ob er heimatlos wäre, so heißt es im obigen Zitat. Aber: Er ist nicht heimatlos. Das Volk lebt, als hätte es Heimat. Aber: Es ist ohne Heimat, denn es weiß nichts von seiner wahren Herkunft.

Dao de Jing: Dieses magische Buch lehrt den Verständigen, wie der Heilige - der wahrhaft Regierende - nicht regiert, sondern sein Volk inspiriert. Es wird dann nichts mehr durchgesetzt, sondern alles geschieht wie von selbst - (wie) von Zauberhand geführt. Er arbeitet an sich selbst - und wirkt auf das Volk, das ihm vertraut und dem er vertraut. Der Heilige hat alles, was zu tun ist, bereits getan. Für ihn gibt es nichts Neues unter der Sonne, er hat alles in seiner Seele vorweggenommen, vorausgetan, vorausgesehen, vorgefühlt. Er kennt den scheinbaren Widerspruch zwischen sich und dem Volk. Das Volk weiß: Wer hat, dem wird noch mehr gegeben. Der Heilige weiß Ausgleich zu schaffen: Wo etwas fehlt, wird gegeben; wo Überfluss ist, wird genommen. Das Volk wählt - zur Wahl gestellt - den Starken und läßt sich mit und von ihm in den Untergang führen; der Weise wählt den vermeintlich Schwachen, weil das Schwache unvergänglich ist. Lao tse erklärt es am Beispiel des Wassers: Es bietet aus reiner Nachgiebigkeit niemandem Widerstand, und doch ist es mächtiger als alles andere, es trägt unsichtbar die Kontinente, auf denen die Menschen ihre eitlen Kriege führen. So schreibt Lao Tse in Vers 17:

Von den Allerhöchsten
Wissen die Niederen nur: Es gibt sie.
Die Nächsthöheren liebt man und preist man;
Die Nächsten fürchtet man;
die Nächsten verachtet man.

Wer nicht genug vertraut,
Dem ist man nicht treu.

Beim Ehren des Wortes, wie waren sie scheu!

War vollendet das Werk, vollbracht die Tat,
Meinten die hundert Geschlechter:
Wir schufen es frei (Es geschah wie von selbst).

Ich hatte noch nicht alles hochgeladen, als mich folgender eBrief erreichte:

Zu: "Ich muss mal nachschauen: Ich glaube, ich las im Dao de Jing, dass ein Volk völlig von seiner Regierung abhängig ist. Ist die Regierung korrupt, färbt die Korruption schnell ab und das gesamte Volk ist korrupt. Ist die Regierung verlogen, ist es auch das ganze Volk. Ist die Regierung wahrhaftig, ist auch das Volk wahrhaftig. Ist die Regierung gesund, ist das ganze Volk gesund."

# Familien- und Gesellschaftsmilieu pathologisieren den Menschen; die Dynamik dieser Pathologie ist sehr gut erklärt in Platons Republik. Familienirrsinn reflektiert Gesellschaftsirrsinn und vice versa. Der pathologische Prozess kann nur auf der Ebene des Individuums ‚erlöst’ werden; indem nämlich dieses sich von pathologischen Familienfiktionen und -banden aktiv befreit und innerhalb der Gesellschaft einen objektiven Standpunkt einnimmt, allein der Wahrheit verpflichtet; unabhängig von Partikularinteressen! Der Befreiungsprozess des Einzelnen gelingt nur mit Hilfe der Kultivierung der vier Kardinaltugenden: Mut, Gerechtigkeit, Objektivität und Weisheit.

12.1.07: Auszug aus einem Internetz-Chat:

Hans-Joachim sagt: Ich lese mir gerade das Dao de Jing noch mal durch, glaube, was Neues daran festgestellt zu haben. Prof Kroker, bei dem ich Seminare darüber besucht hatte, hatte von einer Zweiteilung des Buches gesprochen, etwa wie bei der Bibel, Altes und Neues Testament mit radikal verschiedenen Inhalten. Im AT heißt es: 'Auge um Auge, Zahn und Zahn', Im Neuen sagt Jesus: 'Liebe deinen Nächsten'. Ähnlich das DdJ. Da soll es einen Vorgänger Machiavellis geben, eine zynische Anleitung zum Regieren, zB "Halte das Volk dumm!" usw.. Und dann Spirituelles, eine Philosophie des Nicht-Tuns a la Advaita. Beim Lesen gestern fiel mir auf, dass man diese Trennung wohl nicht machen sollte oder dürfte. Sie basiert wohl auf falschem Textverständnis.

S. sagt: Ich dachte, das wäre ein einziger Autor?

Hans-Joachim sagt: Bei alten Texten weiß man das mit der Autorschaft nie so genau. Kroker sprach davon, es sei eine Textsammlung (wie bei den Evangelien), da gebe es individuelle Beschreibungen wie 'Ich bin traurig...' und Unpersönliches in Gestalt alter überlieferter Weisheiten - ein Sammelsurium sozusagen. Als ich gestern darin las, dachte ich: Das sind ALLES alte ZAUBERSPRÜCHE. In einem Vers wurde sogar gesagt, diese Weisheiten SCHEINEN widersprüchlich, aber sie SEIEN es nicht. Nun kann Kroker doch nicht einfach sagen, da sei etwas zusammengefügt, was nicht zusammenpasse! Also für mich ist ganz klar: Das sind Sprüche eines Zauberers, und diese Sprüche decken sich mit dem, was ich gerade im Begriff bin, zu entdecken. Was bedeutet dieses 'Nicht-Tun'? Ich denke, Reschke hatte das völlig falsch verstanden.

S. sagt: Na, zur Zeit lese ich auch etwas Interessantes: Ein geistiger Spaziergang durch die Philosophie. Das Buch heißt 'Ich denke, aber bin ich?' und ist von einem Michael Hauskeller.

Hans-Joachim sagt: Aha, kann mir schon vorstellen, was mit der Frage gemeint ist...

S. sagt: Der Titel spielt auf das zweite Kapitel an.

Hans-Joachim sagt: ... und welche Anwort er gefunden hat.

S. sagt: Das erste Kapitel ist Descartes (ich denke also bin ich) und das zweite Buch ist über Santayana oder wie der heißt. Er kommt zu dem Schluss, dass alles Gegebene nur Illusion ist und wir nicht auf die Existenz von etwas schließen koennen. Wart mal, ich zitiere Dir mal einen Satz, der dir gefallen duerfte:

"Die Welt, wie sie sich uns darstellt, ist nicht mehr und nicht weniger als ein poetisches Meisterstueck und sein Schoepfer ist der menschliche Geist, der wie eine Sprache oder Musik ist, deren Regeln willkuerlich sind wie die Regeln eines Spiels."

Hans-Joachim sagt: Ja, gefällt mir. Ich würde es anders formulieren, aber gemeint ist dasselbe. Was wir als Welt erleben, ist das, was wir von ihr glauben, was wir für real halten nach (zum größten Teil erlernten) Plausibilitätsabschätzungen. Da das alles meist unbewusst passiert, denken (glauben!) wir, es sei objektiv. Wären wir bewusst, wüssten wir, dass es subjektive Manifestationen unserer Welttheorie sind.

S. sagt: Ja wir koennen zwar verstehen, dass die Welt um uns herum Illusion ist, aber koennen wir die Illusion auch aendern? Das ist mir nicht klar.

Hans-Joachim sagt: Nicht jedermann, sondern nur der Magier, Lao tses Heiliger. Lao tse erklärt in seinem Werk, wie es geht. Deshalb ist das Buch ja so interessant. Ich habe in meinem neuen Text darüber geschrieben:

Zuerst ein nichtmagischer Versuch, über politische Reformen ein Problem zu lösen, hier das Problem, wie man einen guten Journalismus hinbekommt, und als ich einsah, dass es nicht geht - alles mündet in die Vertrauensfrage - bin ich dann umgeschwenkt und habe Lao tse zitiert usw.. Man kann Intelligenz (Kritikfähigkeit) nicht institutionalisieren, zB indem man Zeitungen verbietet, Anzeigen zu bringen, um zu verhindern, dass die Konzerne Einfluss auf die Inhalte nehmen. In der ZEIT zB gab's nichts Kritisches über die Machenschaften der Bertelsmannstiftung zu lesen. Warum nicht? Weil ebendiese Stiftung Riesenanzeigen geschaltet hatte. Die brachten der ZEIT viel Geld ein.

S. sagt: Ei klar, solche Zugestaendnisse gibt's immer.

Hans-Joachim sagt: Wie musste man das Zeitungswesen organisieren, damit es nicht unter Druck gesetzt werden kann von Konzernen und Parteien? Ich fand, dass es keine Möglichkeit gibt, ... aber nur im materiellen System. Ein echter Magier tut es, indem er "erreicht" , dass "es wie von selbst" geschieht. Er arbeitet nicht am mat. System, sondern an seinem Bewusstsein. Er transzendiert sein aufgesetztes Wissen, er löst es auf in Verstehen. So wird aus Handlungsanweisungen (Tun) Bewusstsein (Nichttun), und dieses Nichttun (Bewusstsein) ändert die Weltinterpretation und damit die Welt, und das ist Magie. So verstehe ich jedenfalls Lao tse - und so sagt's auch meine Phil..

S. sagt: Ich wuerde sagen, das liegt an der Abhaengigkeit des materiellen Seins. Die Zeitung ist abhaengig von der Werbung, von den Lesern etc.. Daher die Zugestaendnisse.

Hans-Joachim sagt: Genau!

S. sagt: Alles kleine Luegen, die das Ueberleben garantieren. Davon frei wird man nur durch Unabhaengigkeit.

Hans-Joachim sagt: Es gibt keine Unabhängigkeit im Materiellen, nur im Geistigen, das Lao tse "Nicht-Tun" nennt. Im Gegensatz zum Materiellen, wo immer etwas getan wird (wg. Zeitlichkeit), sei das Nichttun unzeitlich ewig, und darum stirbt der Heilige nicht, wenn er den Körper verläßt. Das ist Lao tses Phil.. Wenn mir etwas im Materiellen passiert, interpretiere ich es immer als Darstellungen, die mir meine Seele bietet, um mir etwas zu zeigen.

...

Hans-Joachim sagt: Ich verstehe das als Lebensaufgabe. Im Wort "Aufgabe" steckt Lao tses Phil.: Scheinleben (Tun) aufgeben, um wahre Lebensaufgabe (Nichttun) zu finden, den Bewusstseinsakt zu finden, der nötig ist, um das Heil zu generieren, als ergäbe es sich "wie von selbst". Ich schrieb in "Magie" vom "es geschieht", was dasselbe ist wie Lao tses "wie von selbst".

S. sagt: Ja die Unterschiede zwischen materiell und spirituell sind sehr wichtig. Da habe ich auch noch einiges zu verstehen.

Hans-Joachim sagt: Lao tse beschreibt die Illusion des körperlichen Älterwerdens als geistige Verhärtung, die sich einstellt, wenn man glaubt, was man sieht, man verfällt der Illusion. - Der Leib verfällt, das ist wie beim mechanischen (!) Kopierer, wenn man eine Kopie von der Kopie macht usw.. Die Kontraste werden immer stärker - die Falten nehmen zu... Das Weiche verhärtet sich. Lao tse schreibt, man müsse seinen Geist so aufweichen wie er beim Kind sei, dann würde man unsterblich usw.. (der Körper, Produkt illusionärer, materieller, sterblicher, Betrachtungsweise könne dabei freilich nicht unsterblich werden. Unsterblich werde nur der "Geistkörper", also die Seele. Man müsse sich mit ihr identifizieren und die Körperidentifikation (das "Tun") aufgeben.)

Das ganze Werk dreht sich ja um die Erlangung der Unsterblichkeit. Interessant ist, als ich letztens das Werk vom neuen Papst "Salz der Erde" als Hörbuch hörte, stellte ich fest, dass es auch ihm im Grunde um nichts anderes geht. Der gesamte Katholizismus, wie er ihn versteht, ist eine Anleitung zur Unsterblichkeit, die freilich kaum ein Mensch versteht, weil er sie falsch versteht. Falsches Verstehen ist ja schlimmer als Nichtverstehen, weil ein Nichtverstehender noch nach Antworten sucht. Im Buch "Ich denke, aber bin ich?" wird davon wohl nicht viel zu finden sein. Da wird wohl der Ansatz vertreten, wie ihn Metzinger auch vertritt oder?

S. sagt: Ich habe ja erst 4 Kapitel gelesen. Der Autor macht halt einen Streifzug durch die Philosophie, ohne sich festzulegen, sozusagen "Philosophie fuer Dummies", - mal schauen wo das hinfuehrt. Als Einleitung schrieb Hauskeller: Die beste Science-Fiction Literatur ist Philosophie. Ich erzaehle dir gerne spaeter mehr, wenn ich weitergelesen habe.

15.1.2007: Glück:

In Volker Panzers ZDF-Talkrunde "Nachtstudio" ging es letzte Nacht um das Thema Glück. http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/16/0,1872,4092464,00.html . Wie eigentlich immer in derartigen Diskussionen wurde viel Unsinniges geredet, aber auch ein wenig Sinnvolles zum Thema - und es ist wohl die Aufgabe des Zuschauers, die Nuggets aus dem Treibsand zu fischen. Martin Walser beispielsweise sagte, der Protagonist seines neuen Romans wolle möglich viel Geld haben, weil es ihm die Möglichkeit böte, unabhängig von der Welt zu sein. Er sehe sein Glück darin, mit der Welt nichts zu tun haben zu müssen. Ohne dass es beabsichtigt war, wurde Walser von Dietrich Grönemeyer bestätigt, indem dieser (sinngemäß) sagte, Glück sei ein Moment der zeitlosen Unendlichkeit.

Ich denke, in diesen beiden Statements steckte die gesuchte "Glücksformel". Glück ist nicht von dieser Welt. Es befindet sich außerhalb von Raum und Zeit, unabhängig vom Getriebe der Welt. Als Walser sagte, Glück sei eines dieser "Großworte" wie Gott, Ewigkeit und Unsterblichkeit, mit denen er nichts anfangen könne, bewies er, dass er - wie der Protagonist seines Romans - nicht recht weiß, wie er von der Welt unabhängig werden kann. Geldreichtum macht ja nicht wirklich unabhängig; Geld zu haben, um sich Unabhängigkeit kaufen zu können, ist nach meinem Ermessen ein untauglicher Versuch, mit materiellen Mitteln etwas Nichtmaterielles zu erlangen, nämlich Glück.

Ist man im Ewigen (Gott, Unsterblichkeit) verankert, ist man in der Welt, aber nicht mehr von der Welt. Man ist unabhängig und begibt sich freiwillig in die (eingeschränkte) Abhängigkeit. Man ist dankbar, auch in der Welt zu leben. Grönemeyer sprach von dieser Dankbarkeit. Einen zweiten Nugget fand Walser, als er sagte, er halte den Versuch Binswangers, Glück in Statistiken zu erfassen, für verfehlt. Glück sei etwas rein Subjektives. Man könne es nicht finden, indem man sich mit Anderen vergleiche; im Gegenteil. Die Philosophin Annemarie Pieper sagte Ähnliches. Richtig! Aber warum ist das so? - Es ist so, weil auch das Subjekt nicht von der Welt ist; es ist die Seele. Wer glücklich ist, weiß, dass dass das Subjekt nicht der (eigene) Körper ist: dieser ist Objekt, auch wenn man (fälschlich) "Ich" zu ihm sagt. Der Leib ist nicht "ich"; er ist "er"! Ist das Ich von der Illusion, identisch mit dem Leib zu sein, befreit, kann es sich als zeitlos, ewig, unsterblich, selig, also glücklich, erkennen. Er weiß, er ist nicht Sklave der Welt; er ist im wahrsten Sinne des Worts unabhängig, frei - egal wieviel Geld er hat.

17.1.2007: Was macht eine Interpretation wahr?

In der ZEIT vom 4.1. versucht Ronald Dworkin, einer der 'bedeutendsten Rechtsphilosophen der Gegenwart' in seiner Dankesrede zur Verleihung des Bielefelder Wissenschaftspreises diese Frage zu beantworten. Er unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Feldern, bei denen Interpretationen verschiedene Bedeutungen haben. Einmal das Feld der weichen und einmal der harten Fakten - so möchte ich diese Felder charakterisieren. Ein Gedicht wird mit anderer Intention interpretiert wie eine physikalische Messung. Im Reich der weichen Fakten sei die Interpretation normativ: Ich interpretiere ein Gedicht und behaupte, meine Interpretation sei wahrer als die der anderen Interpreten; ich habe mich besser in die Psyche des Dichters hineingefühlt, verstehe besser, was er fühlte und beabsichtigte. Dworkin nennt diese Methode die 'Theorie psychischer Zustände'.

Andererseits gibt es aber auch Interpreten in der Kunstszene, zB Theaterregisseure, die ein altes Stück neu interpretieren und - wissend, dass alles bloß beliebige Interpretation ist - ihre Interpretation gleichberechtigt neben die anderen stellen wollen: "So kann man Goethes Faust auch interpretieren!", wollen sie uns mitteilen. Aber warum sollen wir uns das Stück anschauen? Nun, weil der Regisseur uns sagen will: "Meine Interpretation zeigt eine bisher verborgene Fassette des Stückes!" Demnach will der Interpret das Stück nicht völlig neu interpretieren, sondern die bisherigen Deutungen um eine weitere ergänzen. Er sieht sich als Lückenfüller. Er glaubt, man habe ein Stück erst dann ganz verstanden, wenn man alle Möglichkeiten der Deutung kennt.

Was tut dieser Regisseur wirklich? Ein Erfinder bastelt Streichholzschachteln und füllt sie mit Streichhölzern. Dann verkauft er die Schachteln als Hilfen beim Feuermachen, denn seine Intention war genau die: Er wollte den Menschen ein Hilfsmittel zum Feuermachen in die Hand geben. Ich kann jetzt die 'Methode der psychischen Zustände' anwenden und herausfinden, dass der Erfinder beabsichtigte, das Feuermachen zu vereinfachen. Ich kann mit dieser Interpretation richtig liegen. Meine Interpretation wäre dann wahr. (Das ist das Thema der Rede.) Nun kommt der Theaterregisseur und zeigt, man kann Streichholzschachteln stapeln und schöne Türme damit bauen; es handele sich keineswegs nur um Streichholzschachteln; es seien auch Bauklötzchen! Ein anderer 'Interpret' heizt seinen Kamin mit vollen Streichholzschachteln. Er sagt: "für mich sind sie nicht nur Feueranmachhilfen, sondern auch Brennmaterial!"

Was also tut der Regisseur wirklich? - Er interpretiert das Stück gar nicht wirklich, sondern er benutzt es als Basis eines eigenen Werkes, das dann freilich nicht mehr 'Faust' heißen darf. Wahre Interpretation ist immer mit der Absicht verbunden, die Intention des Schöpfers des Kunstwerkes richtig zu erfassen. Wer diesen Anspruch nicht hat, will kein Kunstwerk verstehen, sondern ein neues aus den Bruchstücken des alten erschaffen.

Wie steht's mit den Historikern? Dworkin versucht die Frage zu beantworten, indem er die Frage behandelt, ob es bei der amerikanischen Revolution um Freiheit oder um Handelsfragen ging. Die 'Theorie psychischer Zustände' hält er hier für unbrauchbar, denn "Parlamentarier haben psychische Zustände; Parlamente nicht!" Ich fürchte, Dworkins Antwort lautet, den Parlamentariern mag es um Freiheit gegangen sein, aber faktisch ging es um Handelsfragen. Ich weiß nach zweimaliger Lektüre seiner Rede immer noch nicht, wie er diese Frage beantwortet hat. Aber diese Antwort wäre zumindest modern - dem Neoliberalismus gerecht. Denn dieser leugnet bekanntlich die Existenz von Freiheit. Freiheit ist nach neoliberaler Definition die Freiheit, sich ohne Einmischung von außen (Politik, Moral) den Zwängen des lupenreinen Kapitalismusses aussetzen zu dürfen.

Und wie steht's mit der Wissenschaft? Auch hier sieht Dworkin die Unbrauchbarkeit der 'Theorie psychischer Zustände'. Bei der Wissenschaft sei die Interpretation nicht normativ, sondern "grundsätzlich nichtnormativ". Was bedeutet das? Bedeutet das 'relativ'? Weil die wissenschaftliche Interpretation nicht den physikalischen Methoden widersprechen darf und das Neue in Relation zum Bekannten gesetzt werden muss? Ich finde nichts bei Dworkin.

Am Schluss seiner Rede sagt er: "Wir haben es hier mit einem fundamentalen Dualismus zu tun. Deshalb müssen wir zwei Fehler unbedingt vermeiden: Der krude Pragmatismus hofft, die Wissenschaft auf Interpretation zu reduzieren. Die krude Wissenschaftsgläubigkeit hofft, die Interpretation auf Wissenschaft zu reduzieren. Der Humanismus besteht darin, beide, die Wissenschaft und die Interpretation, als das zu nehmen, was sie sind - und den Unterschied zu kennen."

Aha, die Wissenschaft interpretiert nicht. Sie ist wertfrei. Interpretation ist wertend, also normativ. Humanismus bedeutet, beide Sphären unterscheiden und mit beiden umgehen zu können. (20.1.:) Aber seit wann ist Normatives pragmatisch? Bisher verstand ich unter Pragmatismus die Abwesenheit des Normativen bei Alleinherrschaft des sogenannten Faktischen. Pragmatismus ist nach meiner Kenntnis die Herrschaft des (vermeintlich) Seienden über das, was sein soll: Herrschaft des Istzustandes über die Utopie. Ich behaupte, Dworkin irrt.

(18.1.:) Und er irrt in einem zweiten Punkt: Auch Wissenschaft interpretiert und ist normativ! Ein Beispiel soll diese Behauptung verständlich machen. Vor mir liegt die vermeintliche Realität, die der Naturwissenschaftler erforschen will: in diesem Fall ein Haufen Sand verschiedener Korngrößen. Nun baut der Wissenschaftler Messgeräte, um diese Realität zu erforschen. In diesem Fall baut er Siebe mit unterschiedlichen Maschenweiten, mit denen er den Haufen siebt. Er erhält als Forschungsergebnis eine Liste des Inhaltes, dass im Sieb mit der Maschenweite von 10 cm 30 kg Steine hängen blieben. Im Sieb mit Maschenweite 5 cm blieben 60 kg Steine hängen, bei Maschengröße 1 cm 110 kg, bei 1 mm 760 kg und bei 1/1000 mm 3250 kg. Bei Maschenweite gegen Null wird ein Gewicht gegen Unendlich hochgerechnet. Wichtig zu verstehen ist, dass die Siebe unsere Vorstellungen von der Welt (dem Haufen) enthalten. Sie geben unsere Interpretation vor. Nicht vorgegeben sind die Sand- und Gesteinsmengen, die wir dann messen. Wir können Sand und Steine nur dann messen, wenn wir Siebe bauen. Entsprechend in der "richtigen" Welt: Wir müssen davon ausgehen, dass es "Licht" nur deshalb gibt, weil wir Augen (konstruiert) haben. Aber wenn es das Licht dann - für uns!! - gibt, zeigt uns dieses Licht etwas, das wir nicht konstruiert haben. Trotzdem stellt sich die Frage: Gibt es Sand auch ohne Sieb? Gibt es Licht auch ohne Augen?

Führen wir das Experiment weiter: Statt eines Siebes tauchen wir kubische Schöpfgefäße (oben offene Würfel) in den Sand: Von da an besteht die Welt (der zu erforschende "Haufen") aus lauter Würfeln. Waren die Würfel bereits vor der Erfindung und Anwendung des Schöpfgefäßes existent? Ich sage: Nein! Was ist der Haufen ohne Siebe und Schöpfkellen? Wir wissen es nicht. Wir wissen nichts von einem Haufen; wir wissen allein, was unsere Messgeräte messen, und das ist Interpretation. Bereits indem ich die Idee einer Schöpfkelle oder eines Siebes habe, habe ich aus der unbekannten Realität Sand diverser Korngrößen oder Würfel gemacht.

Ergebnis: Von einer wirklichen Welt wissen wir nichts - nicht einmal ob es sie gibt; schließlich wissen wir nicht, wie es kommt, dass Sieb "a" so viel und nicht mehr Sand misst. Wir vermuten, es liegt an der Realität, aber auch die Sandmenge könnte vom Sieb bestimmt sein. Demnach ist alles, was wir wissen, Interpretation. Wir wissen nicht, ob wir in einer objektiven Realität leben. Wir wissen nur, dass wir in unserer eigenen Interpretation leben. Ich bin möglicherweise nicht ich. Ich bin meine Theorie, die ich von mir habe. Und in dieser Theorie steckt jede Menge Normatives. Ich bin, der ich sein will!

Ich vermute, Dworkin hat den Preis gewonnen, weil er genau das nicht versteht und alles wunderbar verkompliziert. Ich schrieb bereits in "Schule" darüber. Die Herren der Welt wollen schließlich unter sich bleiben...

Leserbrief zum obigen Thema "Interpretation":

http://video.google.de/videoplay?docid=-1809434074649930108&q=capitalism

Lehrreiche Rede von Michael Lebowitz; leider in Englisch. Er zitiert Karl Marx:

“The advance of capitalist production develops a working class which by education, tradition and habit looks upon the requirements of this mode of production as self-evident natural laws. The organisation of the capitalist process of production once it is fully developed brakes down all resistance.”

Übersetzung:

„Die Entwicklung der kapitalistischen Produktion führt zu einer Arbeiterklasse, die durch Ausbildung, Tradition und Gewohnheit die Notwendigkeiten / Zwänge dieser Produktionsweise als selbst-evidente Naturgesetze ansehen (*). Wenn die Organisation der kapitalistischen Produktionsweise einmal voll entwickelt ist, bricht sie alle Widerstände.“

(*) Das ist genau der Punkt vom Telekomchef, falls Du Dich an den Artikel erinnerst.

***

Lebowitz erklärt, dass die Natur der Ausbeutung vor den Arbeitern verborgen ist; denn diese fühlen sich in der Regel nicht ausgebeutet; sie stellen das System nicht in Frage, sondern beschäftigen sich im besten Falle mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit [= fairer Lohn für gute Arbeit / bessere Arbeitsbedingungen]. Darüber hinaus sei die Herkunft des Kapitals verdunkelt / mystifiziert. Kapital ist der Teil der Arbeit, um die der Arbeiter ausgebeutet wurde. Das Ergebnis der Ausbeutung ist dann Kapitalakkumulation in den Händen weniger! Und schließlich erzwingt der einmal fest etablierte Kapitalismus die Notwendigkeit zur Lohnarbeit. Die Tragödie des Arbeiters im kapitalistischen System ist nicht die Ausbeutung, sondern die Unfähigkeit einen Job zu finden, d.h. nicht ausgebeutet zu werden!!! Der Kapitalismus hat es daher geschafft die Interessen der Arbeiter mit den eigenen Interessen derart zu verknüpfen, dass niemand kein Kapitalist sein kann!

Antwort: Worauf kann/muss man die Erkenntnis, dass die kapitalistischen Spielregeln als Naturgesetze erlebt werden, obwohl sie keine sind, noch beziehen? Mein obiges Beispiel mit dem Sandhaufen zeigt, dass das Normative unter Umständen sehr weit in die Physik hineinreicht. Und genau das ist es, was ich "Magie" nenne!

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