Willensfreiheit 3

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Ansgar Beckermann: Neuronale Determiniertheit und Freiheit

Auf den ersten Blick klingt das wie ein Widerspruch, und so sehen es auch Psychologen und Neurobiologen wie Wolfgang Prinz, Gerhard Roth und Wolf Singer. Ihrer Meinung nach gibt es keinen freien Willen, eben weil alle unsere Entscheidungen neuronal determiniert sind. Das Gefühl, daß unser Wille oder wir selbst unsere Handlungen entscheidend steuern – dieses Gefühl ist in ihren Augen nichts als eine Illusion. Als Begründung für diese weitreichende Behauptung verweisen die Autoren hauptsächlich darauf, daß die Hirnforschung zweifelsfrei erwiesen habe, daß unser Gehirn schon vor jeder bewußten Entscheidung zu einer Handlung anfängt, diese Handlung zu initiieren. Dies zeigten besonders die Experimente Benjamin Libets, die in letzter Zeit von Haggard und Eimer wiederholt wurden.

Diese Experimente sehen so aus: Eine Versuchsperson erhält die Instruktion, innerhalb eines bestimmten Zeitraums aus dem Ruhezustand heraus einen Finger zu krümmen, wann immer sie dies tun möchte. Sie soll, so Libet wörtlich, „den Impuls zu handeln von allein und zu jeder Zeit auftauchen lassen, ohne vorauszuplanen oder sich auf die Handlung zu konzentrieren“ (Libet et al. 1983, S.625). Die Versuchsperson hat ferner die Aufgabe, sich den Zeitpunkt zu merken, an dem ihr die Entscheidung, den Finger zu krümmen, bewußt wird. Zu diesem Zweck beobachtet sie eine Uhr, deren Zeiger aus einem schnell rotierenden Punkt besteht. Was sich die Versuchsperson merken soll, ist die Position des Punktes zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihre Intention, die Finger zu bewegen, zum ersten Mal spürt, d. h. zu dem Zeitpunkt, an dem ihr bewußt wird, „eine be­stimmte vorgegebene, selbstinitiierte Bewegung durchführen zu ‚wollen’.“ (S. 627)

Das Ergebnis dieses Experiments war verblüffend: Die Versuchspersonen verspüren ihren Wunsch oder ihren Drang, die Finger zu bewegen, ca. 0,2 Sekunden, bevor sie die Bewegung ausführen. 0,5-0,7 Sekunden vor dem Beginn der Bewegung läßt sich aber schon ein Bereitschaftspotential ableiten. Mit anderen Worten: Offenbar beginnt das Gehirn schon 0,5 Sekunden, bevor der Versuchsperson ihre Entscheidung bewußt wird, mit der Vorbereitung der Fingerbewegung.

Dies scheint jedoch nur verständlich, wenn man annimmt, daß die Entscheidung zu diesem Zeitpunkt schon getroffen ist.

Auf den ersten Blick ist es also gar nicht verwunderlich, daß Prinz, Roth und Singer aus den Resultaten der Libet-Experimente den Schluß ziehen: Wenn wir den Eindruck haben, eine Entscheidung zu treffen, ist diese Entscheidung längst getroffen – von unserem Gehirn. Unser Gehirn entscheidet, nicht wir. Das Bewußtsein läuft immer hinterher. „Wir tun nicht, was wir wollen; wir wollen, was wir tun.“ (Prinz 1996, 98ff.) Das ist die prägnante Formel, auf die Wolfgang Prinz diese Überlegung gebracht hat. Und hinter dieser Formel steht offenbar die Überlegung: Wie kann das, was ich tue, von mir abhängen, wenn es doch offenbar auf Vorgängen im Gehirn beruht, die stattfinden, bevor ich die Absicht, etwas tun zu wollen, überhaupt ausbilde? Und wie kann ich es sein, der eine Wahl trifft, wenn die Wahl schon zuvor von meinem Gehirn getroffen wurde?

He. (30.3.07): Anmerkung zu "Unser Gehirn entscheidet, nicht wir.": Auch ich behaupte nicht, unserer Ego entscheide (sei willensfrei). Das Ego ist Teil der Erscheinungswelt und dadurch unfrei. Anders als Beckermann behaupte ich zudem, dass die Willens - und /oder Entscheidungsfreiheit auch nicht im (materiellen) Gehirn zu finden sei, denn auch dieses ist Teil der Erscheinungswelt. Vielmehr "verorte" ich die Willensfreiheit in der ortlosen Seele. Ich als Seele bin willensfrei. Dass wir Seelen sind und nicht Leiber, erschließe ich aus der Tatsache, dass das materielle Gehirn nicht das Denk- und Entscheidungsorgan ist, sondern dessen Erscheinung. (Begründung zB hier: Zusammenfassung)

Wer so argumentiert, setzt allerdings voraus, daß es eine strikte Trennung zwischen Gehirn und Person bzw. zwischen Gehirn und Ich gibt. Wenn Ich etwas entscheide, wird es nicht von meinem Gehirn entschieden, und umgekehrt: wenn mein Gehirn etwas entscheidet, wird es nicht von mir entschieden. Diese Entgegensetzung zwischen Ich und Gehirn – oder allgemeiner: zwischen Ich und Natur – ist aber keineswegs so selbstverständlich, wie sie Vertretern inkompatibilistischer* Freiheitskonzeptionen oft erscheint.

Inkompatibilisten vertreten die These, daß Determinismus und Freiheit unvereinbar sind. Warum? Erstens, weil Freiheit voraussetzt, daß ich eine Wahl habe. Und, so fragen Inkompatibilisten, wie kann ich eine Wahl zwischen verschiedenen Alternativen haben, wenn zu jedem Zeitpunkt durch den jeweiligen Zustand der Welt und durch die Naturgesetze festgelegt ist, wie es zu diesem Zeitpunkt weitergeht? Freiheit, so der Inkompatibilist, setzt voraus, daß die Zukunft offen ist, d.h. daß es im Weltverlauf Zeitpunkte gibt, an denen es so oder so weiter gehen kann, an denen der weitere Weltverlauf nicht durch vorangegangene Ereignisse determiniert ist.

He. (30.7.07): So oder so kann es auch weitergehen, falls es den Zufall gibt. Allerdings würde es sich bei Heranziehung des Zufalls zur Erklärung der Willensfreiheit nicht mehr um Willensfreiheit, sondern um Zufall handeln. Willensfreiheit und Zufälle schließen sich gegenseitig aus. Mehr noch: Falls es in der Natur Zufälle gibt, kann es keine Naturwissenschaft und damit keine naturwissenschaftlichen Erklärungen geben. Die Evolutionstheorie muss falsch sein. Sie enthält den Zufall als Element und kann deshalb nichts erklären.

Doch das ist bestenfalls die Hälfte der Geschichte. Denn wenn ich zu einem bestimmten Zeitpunkt die Wahl zwischen zwei Handlungen A und B habe, wenn also – dem Inkompatibilisten gemäß – zu diesem Zeitpunkt nicht naturgesetzlich determiniert ist, daß ich A bzw. B tue, dann würden wir trotzdem nicht von einer freien Handlung reden, wenn es reiner Zufall wäre, daß ich in dieser Situation, sagen wir, die Handlung A ausführe. Freiheit setzt in den Augen der meisten Inkompatibilisten nicht nur voraus, daß meine Handlungen nicht naturgesetzlich determiniert sind, sondern auch, daß das, was ich tue, nicht rein zufällig passiert, daß vielmehr ich selbst es bin, der bestimmt, welche Handlung ausgeführt wird.

Roderick Chisholm hat das metaphysische Problem der menschlichen Freiheit in seinem Aufsatz 'Die menschliche Freiheit und das Selbst' so zusammengefaßt: "Menschliche Wesen sind verantwortliche Handelnde; aber diese Tatsache scheint einer deterministischen Sicht des Handelns zu widerstreiten – der Sicht, daß jedes Ereignis, das zu einer Handlung gehört, durch ein anderes Ereignis verursacht ist. Und sie scheint auch der Sicht zu widerstreiten, daß einige der Ereignisse, die für die Handlung wesentlich sind, überhaupt nicht verursacht sind."(71)

Um das Problem zu lösen, schlägt Chisholm vor: "Wir sollten sagen, daß mindestens eines der Ereignisse, die an der Handlung beteiligt sind, nicht durch irgendwelche anderen Ereignisse, sondern statt dessen durch etwas anderes verursacht ist. Und dies andere kann nur der Handelnde sein – der Mensch."( 76)

Wenn ich in einer bestimmten Situation aus freien Stücken die Handlung A ausführe, beinhaltet das nach Auffassung der Mehrheit der Inkompatibilisten also:

In dieser Situation ist nicht naturgesetzlich determiniert, daß die Handlung A ausgeführt wird; naturgesetzlich ist es genauso gut möglich, daß die Handlung B ausgeführt wird.
Die Handlung A geschieht aber auch nicht zufällig, sie geht vielmehr kausal auf mich als den Handelnden zurück.
Daß ich die Handlung A verursache, ist selbst nicht determiniert.
Jemand, der dieses Freiheitsverständnis sehr klar durchschaut hat, ist Wolfgang Prinz, der in seinem Aufsatz 'Freiheit oder Wissenschaft?' von drei 'metaphysischen Zumutungen' spricht, die mit diesem Freiheitsverständnis verbunden sind. Die erste dieser Zumutungen besteht in seinen Augen in der Annahme, daß es einen grundsätzlichen Graben zwischen Psychischem und Physischem gibt, daß das Psychische außerhalb der physischen Welt eine Art von Cartesischem Eigenleben führt. Die zweite Zumutung beruht auf der ersten; sie besteht in der Auffassung, daß das Psychische nicht nur ein außerphysisches Eigenleben führt, sondern darüber hinaus sogar in der Lage ist, auf den Bereich des Physischen kausal einzuwirken. Schließlich besteht die dritte metaphysische Zumutung in der Annahme eines 'prinzipiellen lokalen Indeterminismus':

He. (30.7.07): Für mich sind eher Behauptungen wie die, der Mensch sei eine willenlose Reiz-Reaktionsmaschine, eine Zumutung! Also bitte keine Polemik!

"Die Idee der Willensfreiheit mutet uns zu, in einem ansonsten deterministisch verfaßten Bild von der Welt lokale Löcher des Indeterminismus zu akzeptieren. […] Allerdings geht es hier nicht […] lediglich um die Abwesenheit von Determination […], sondern um etwas völlig anderes, wesentlich Radikaleres: um nicht weniger als die Ersetzung der gewöhnlichen kausalen Determination durch eine andere, kausal nicht erklärbare Form von Determination. Diese geht von einem autonom gedachten Subjekt aus, das selbst frei, d.h. nicht determiniert ist. […] Die Idee der Willensfreiheit verlangt uns ab, jedes Subjekt als eine eigenständige, autonome Quelle der Handlungsdetermination anzusehen." (Prinz 1996, 92)

He. (30.7.07): Wieso "Löcher des Indeterminismus"? Die Welt erscheint immer determiniert, aber sie ist es nicht. Materie ist Erscheinung. Materie scheint physikalisch, scheint den physikalischen Gesetzen zu gehorchen. Da aber sicher ist, dass sie Erscheinung ist, und da ebenso sicher ist, dass das, was die Erscheinung hervorruft, selbst nicht Erscheinung (also materiell und physikalisch) sein kann, sondern etwas Komplexeres mit mehr als physikalischen Eigenschaften sein muss - ich nenne dieses Umfassendere "Geistseele", haben wir eine Sphäre des Seins gefunden, in welcher Willensfreiheit möglich ist. Willensfreiheit in der Erscheinungswelt zu suchen, ist von vorneherein ein sinnloses Unterfangen.

Der genaue Wortlaut des Zitats macht deutlich, daß es Prinz gar nicht um die problematische Annahme eines 'lokalen Indeterminismus'geht. Als eigentliche Zumutung empfindet er die für den Inkompatibilismus zentrale Idee, Subjekte könnten eigenständige, autonome Quellen von Handlungsdetermination sein. Und mir scheint, daß Prinz damit weitgehend Recht hat. Das Freiheitsbild des Inkompatibilisten ist naturwissenschaftlich gesehen tatsächlich eine Zumutung.

He. (30.7.07): Ein Subjekt als Erscheinung (Leib, Ego) kann keine Quelle autonomer Handlungsdetermination sein. Wenn man nicht den Fehler (wie Prinz und Beckermann) macht, das Subjekt für materiell zu halten, sondern es als Geistseele erkennt, gibt es keine logischen Widersprüche und alle Probleme werden gelöst.

Aber auch für Philosophen sprechen viele Gründe gegen dieses Bild.

Erstens: Wenn nicht andere Umstände festlegen, wie ich mich entscheide, sondern ich selbst diese Entscheidung herbeiführe, muß ich selbst offenbar ein Wesen sein, das außerhalb des normalen Weltverlaufs steht und in der Lage ist, von außen in diesen Weltverlauf einzugreifen. Die Auffassung, daß handelnde und entscheidende Personen nicht Teil der natürlichen Welt sind, sondern von
außen in diese Welt eingreifen, ist aber mit allem unvereinbar, was uns die Naturwissenschaften über die Welt sagen.

He. (30.7.07): Richtig! Unvereinbar! Aber leider sind unsere "Experten" derart vom physikalischen Weltmodell vereinnahmt, dass sie nicht imstande sind, über es hinauszudenken.

Zweitens: Die Auffassung des Inkompatibilisten setzt voraus, daß es eine eigene Art von Kausalität gibt, über die nur handelnde und entscheidende Personen verfügen – Akteurskausalität. Und diese Art von Kausalität ist äußerst mysteriös. Normalerweise sind Ursachen und Wirkungen Ereignisse. Mit dem Satz 'Die Scheibe zerbrach, weil sie von einem Stein getroffen wurde'führen wir ein Ereignis (das Zerbrechen der Scheibe) auf ein anderes Ereignis zurück (darauf, daß die Scheibe von einem Stein getroffen wurde). Ursachen sind Ereignisse, die andere Ereignisse – ihre Wirkungen – mit naturgesetzlicher Notwendigkeit zur Folge haben. Und d.h. zumindest: Immer wenn die Ursache vorliegt, tritt auch die Wirkung ein. Diese Art von Ereigniskausalität ist uns wohl vertraut. Aber was soll Akteurskausalität sein? Offenbar eine Art von Geschehenmachen. Aber im allgemeinen kann man etwas nur dadurch geschehen machen, daß man etwas anderes tut – ich mache das Licht an, indem ich den Schalter betätige. Wie kann ich also A geschehen machen, ohne etwas anderes zu tun, woraus sich A zwangsläufig ergibt?

He. (30.7.07): Der letzte Satz dieses Absatzes zeigt, wie besessen der Autor vom naturwissenschaftlichen Realitätsmodell ist, und dass er nicht in der Lage ist, darüberhinauszudenken - zu philosophieren. Er ist definitiv kein Philosophh!!! Für Beckermann hat alles eine determinierte Ursache. In diesem Szenario kann es natürlich keine Willensfreiheit geben, denn Willensfeiheit, bedeutet, dass zB das Lichtanmachen nicht nur eine Ursache (Schalter umlegen) hat, sondern auch einen Urheber (die wollende Geistseele). Becker mann ist blind. Er kann nicht sehen, dass ich den Schalter umlegen will, ihn umlege und damit rückwirkend eine ungestörte Kausalkette in Gang setze: Muskelkontraktionen bewegten den Arm zum Lichtschalter. Davor gab es Nervenimpulse aus dem Gehirn, die die Nerven des Armes anregten usw.. Wir können die Kausalkette bis zum Urknall zurückverfolgen. Dass ich den Entschluss zum Lichtanmachen gefasst hatte, taucht in der Kausalkette nicht auf.

Drittens: Akteurskausalität wird von Inkompatibilisten eingeführt, um verantwortliches von bloß zufälligem Handeln zu unterscheiden. Letztlich sind aber freie Entscheidungen im inkompatibilistischen Sinn trotzdem immer rein zufällig und nicht erklärbar. Zur Situation, in der sich die Person entscheidet, gehören nämlich auch die Gründe, die sie zu diesem Zeitpunkt für die verschiedenen Alternativen hat, sowie das relative Gewicht dieser Gründe. Wenn sie sich für die Alternative A entscheidet, entscheidet sie sich also angesichts dieser Gründe für A. Und wenn sie sich für die Alternative B entscheidet, entscheidet sie sich angesichts derselben Gründe für B. Wenn man angesichts genau derselben Gründe einmal A und ein anderes Mal B wählt, ist diese Wahl selbst aber offenbar unbegründet.

Prinz hat also Recht mit seiner Kritik am Freiheitsbild des Inkompatibilisten. Allerdings geht er noch einen Schritt weiter. Denn er setzt voraus, daß dieses Bild das einzig mögliche Freiheitsbild ist. Und genau deshalb kommt er zu dem Schluß, Freiheit sei nichts als eine Illusion. Daß das Freiheitsbild des Inkompatibilisten das einzig mögliche Freiheitsbild ist, ist aber mehr als umstritten.

Kompatibilisten haben seit vielen hundert Jahren für die These gestritten, daß es eine Alternative zu diesem Freiheitsbild gibt. Und angesichts der Probleme, die mit diesem Bild verbunden sind, lohnt es sich auf jeden Fall, diese These genauer zu untersuchen.

Kompatibilisten gehen in der Regel von klaren Fällen von Unfreiheit aus, und versuchen, durch genaue Analyse dieser Fälle herauszufinden, was den Handelnden jeweils fehlt, was in den jeweiligen Situationen dafür verantwortlich ist, daß die Handelnden nicht frei sind. Ein klarer Fall von Unfreiheit liegt z.B. vor, wenn eine Person eingesperrt, gefesselt oder gelähmt ist. Eine solche Person
kann nicht tun, was sie tun will. Ihr fehlt, wie man sagt, Handlungsfreiheit. Sie unterliegt äußeren Zwängen. In der Philosophie hat es eine ganze Reihe von Autoren – wie Hobbes und Hume – gegeben, die nachdrücklich die Auffassung vertreten haben, daß Handlungsfreiheit die einzige Art von Freiheit ist, die wir wirklich haben, aber auch die einzige, an der wir interessiert sein können.

Schon Thomas Reid hat jedoch darauf hingewiesen, daß diese Position unbefriedigend ist. Frei können wir uns nach Reid nur nennen, wenn wir nicht nur tun können, was wir wollen, sondern wenn wir auch unseren Willen selbst bestimmen können. Wirkliche Freiheit setzt voraus, daß wir bestimmen, aufgrund welcher Motive, Wünsche und Überzeugungen wir handeln; wenn Umstände, die außerhalb unseres Einflußbereichs liegen, bestimmen, welche dieser Beweggründe handlungswirksam werden, sind wir nicht frei. Für verantwortliches Handeln reicht Handlungsfreiheit also nicht aus, der Handelnde muß auch über Willensfreiheit verfügen – über die Fähigkeit, seinen eigenen Willen zu bestimmen, zu bestimmen, welche seiner Motive, Wünsche und Überzeugungen handlungswirksam werden sollen.

Daß Reid mit dieser Analyse zumindest im Prinzip Recht hat, zeigt ein zweiter klarer Fall von Unfreiheit – der Fall des Drogensüchtigen. Drogensüchtige können tun, was sie wollen; sie sind in ihren Handlungen frei. Trotzdem machen wir sie nicht verantwortlich. Sie sind nicht äußerlich, sondern innerlich unfrei; sie unterliegen einem inneren Zwang. Der Drogensüchtige kann zwar tun, was er will, aber in seinem Willen, in seinen Entscheidungen ist er nicht frei. Sein Wille führt gewissermaßen ein Eigenleben. Auch wenn er sich anders entscheiden möchte, sein Wunsch, Drogen zu nehmen, wird sich durchsetzen. Der Drogensüchtige ist nicht Herr seiner Wünsche. Mit einem Wort: Was ihm fehlt ist Willensfreiheit. Wenn Handlungsfreiheit darin besteht, daß man tun kann, was man tun will, worin besteht dann aber Willensfreiheit?

He. (30.7.07): Unendliches Drehen im Kreis einer logischen Falle.

Eine Möglichkeit scheint darin zu bestehen, Willensfreiheit ganz analog zur Handlungsfreiheit zu definieren. So schreibt etwa George Edward Moore in seinem Buch Grundprobleme der Ethik:

"Wenn wir sagen, wir hätten etwas tun können, das wir nicht getan haben, und damit oft bloß meinen, wir würden es getan haben, wenn wir uns dazu entschieden hätten, dann meinen wir vielleicht mit der Aussage, daß wir uns dazu hätten entscheiden können, lediglich, daß wir uns so entschieden haben würden, wenn wir uns entschieden hätten, diese Entscheidung zu treffen."(Moore 1975, 129f.)

So wie wir in unseren Handlungen frei sind, wenn wir tun können, was wir tun wollen, wären wir also in unserem Willen frei, wenn wir wollen können, was wir wollen wollen. In letzter Zeit hat besonders Harry Frankfurt versucht, mit der Unterscheidung zwischen Wünschen erster und zweiter Stufe zu erläutern, was mit dieser auf den ersten Blick eher eigenartig klingenden Formel gemeint sein kann (Frankfurt 1988). Die meisten unserer Wünsche beziehen sich auf Handlungen. Der eine möchte sich ein Auto kaufen, die andere an der Ostsee Urlaub machen. Solche Wünsche nennt Frankfurt Wünsche erster Stufe. Neben diesen gibt es aber auch Wünsche zweiter Stufe, die Wünsche erster Stufe zum Gegenstand haben. Im Fall des Drogensüchtigen z.B. kann man sich gut vorstellen, daß der Drogensüchtige neben dem Wunsch, Drogen zu nehmen, auch den Wunsch hat, genau diesen Wunsch, Drogen zu nehmen, nicht zu haben. Er wäre froh, wenn er diesen Wunsch los wäre oder zumindest, wenn er erreichen könnte, daß sich dieser Wunsch nicht mehr gegen seine anderen Wünsche durchsetzt.

Nach Frankfurt ist eine Person in ihrem Wollen frei, wenn ihr Handeln durch die Wünsche erster Stufe bestimmt wird, von denen sie auf der zweiten Stufe will, daß sie handlungswirksam werden. Diese Definition hat sicher den Vorteil, daß sie das Problem des Süchtigen zu treffen scheint. Der Süchtige könnte auch keine Drogen nehmen, wenn sein Wunsch, Drogen zu nehmen, nicht handlungswirksam würde. Doch eben dies verhindert seine Sucht. Selbst wenn ihm klar ist, wie schädlich die Einnahme von Drogen ist, und wenn er aus diesem Grund möchte, daß der Wunsch, Drogen zu nehmen, nicht handlungswirksam wird, wird dies nicht geschehen. Sein Wunsch, Drogen zu nehmen, ist stärker. Selbst wenn der Süchtige wollte, daß es nicht so wäre; er kann diesen Wunsch nicht unter Kontrolle bringen. Er ist in seinem Wollen unfrei, weil sich auf der ersten Stufe die Wünsche durchsetzen, von denen er auf der zweiten Stufe nicht möchte, daß sie sich durchsetzen.

He. (30.7.07): Drogensüchtige zeigen bloß, dass der Mensch seine Willensfreiheit durchaus verlieren kann. Weitere Beispiele für den Verlust von Willensfreiheit sind Beckermann, Frankfurt, Reid, Prinz usw..

Leider ist jedoch auch Frankfurts Theorie nicht unproblematisch. Denn reicht es für Willensfreiheit wirklich aus, daß auf der ersten Stufe genau die Wünsche handlungswirksam werden, von denen wir auf der zweiten Stufe wollen, daß sie handlungswirksam werden? Müssen wir nicht darüber hinaus fordern, daß auch die Wünsche zweiter Stufe frei sind? Und würde das in Frankfurts Theorie nicht bedeuten, daß sie den Wünschen dritter Stufe entsprechen? Usw. usw. Es droht also ein unendlicher Regreß. Außerdem wird in dieser Theorie ein für Willensfreiheit entscheidender Gesichtspunkt außer Acht gelassen – der Gesichtspunkt der Wertung und des moralischen Urteils. Wenn ich vor der Wahl stehe, A oder B zu tun, dann frage ich mich, was unter den gegebenen Umständen die richtige Handlung ist – die Handlung, die ich unter den gegebenen Umständen tun sollte.

Und die Fähigkeit, der Einsicht in die Richtigkeit einer Handlung zu folgen, ist für Freiheit zentral. Jedenfalls spielt diese Idee schon in John Lockes Theorie der Willensfreiheit eine entscheidende Rolle. In seinen Überlegungen zum Problem des freien Willens geht auch Locke davon aus, daß die für dieses Problem entscheidende Frage lautet: Was bestimmt unseren Willen? Die erste Antwort auf diese Frage lautet nach Locke, daß unser Wille jeweils durch das getrieben wird, was wir als das bedrückendste Unbehagen empfinden. Doch zum Glück ist das nicht die ganze Wahrheit. Denn, so Locke: Menschen haben – zumindest in vielen Fällen – die Fähigkeit, vor dem Handeln innezuhalten und zu überlegen, was sie in der gegebenen Situation tun sollten, was moralisch gesehen das Richtige wäre oder was ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse am meisten dienen würde.

"[W]ir [haben] die Kraft, die Verfolgung dieses oder jenes Wunsches zu unterbrechen, wie jeder täglich bei sich selbst erproben kann. Hier scheint mir die Quelle aller Freiheit zu liegen; hierin scheint das zu bestehen, was man […] den freien Willen nennt." (Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, Kapitel 21, § 47).

Eine Entscheidung, kann man daher im Anschluß an Locke sagen, ist frei, wenn sie so zustande gekommen ist, daß sie durch Überlegungen des Handelnden, durch das Abwägen von Gründen hätte beeinflußt werden können. Peter Bieri formuliert das in seinem Buch 'Das Handwerk der Freiheit' so "Die Freiheit des Willens liegt darin, daß er auf ganz bestimmte Weise bedingt ist: durch unser Denken und Urteilen" (Bieri 2001, 80).

He. (30.7.07): Bieri erklärt Willensfreiheit mit Willensfreiheit. Aber gut: Besser als das, was die andern "Experten" tun.

Tatsächlich paßt diese Definition noch sehr viel besser auf den Fall des Drogensüchtigen als die Frankfurts. Denn was dem Drogensüchtigen fehlt, ist doch, daß er selbst, wenn er einsieht, daß die Drogensucht seine Gesundheit ruinieren wird, nicht anders kann, als sich für die Drogen zu entscheiden. Was dem Drogensüchtigen fehlt, ist also die Fähigkeit, so zu entscheiden, wie es aufgrund
seiner eigenen Überlegungen richtig wäre. Er mag die Fähigkeit haben, zu überlegen und einzusehen, daß das, was er tut, ihm selbst schaden wird und daß es möglicherweise sogar unmoralisch ist. Doch auf seine Entscheidungen hat das keinen Einfluß. Sie werden durch Umstände determiniert, die durch solche Überlegungen nicht beeinflußt werden können.

Auch der § 20 StGB paßt gut zu Lockes Überlegungen. "Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln." Auch unserem Strafgesetz zufolge sind für Schuldfähigkeit letztlich also zwei Fähigkeiten entscheidend – die Fähigkeit, das Unrecht des eigenen Handelns einsehen zu können, und die Fähigkeit, dieser Einsicht gemäß handeln zu können.

Damit läßt sich jetzt der Unterschied zwischen Lockes kompatibilistischer Freiheitskonzeption und dem oben beschriebenen inkompatibilistischen Freiheitsbild besser fassen. Zunächst einmal: Lockes Freiheitskonzeption ist kompatibilistisch, weil Locke explizit der Meinung ist, daß es unserer Freiheit keinen Abbruch tut, wenn unsere Entscheidungen – unser Wille – mit kausaler Notwendigkeit durch das Ergebnis unserer Überlegungen bestimmt werden. Nur ein Narr könnte sich wünschen, daß es anders wäre (Locke, op.cit, § 50).

Doch zurück zum Grundsätzlichen. Für Locke hängt die Freiheit einer Entscheidung nicht davon ab, daß ein außerhalb des Naturzusammenhangs stehendes Ich kausal bestimmt, wie es an einer bestimmten Stelle im Weltverlauf weitergeht. Frei ist eine Entscheidung in seinen Augen, wenn der Handelnde zum Zeitpunkt der Entscheidung über zwei zentrale Fähigkeiten verfügt – die Fähigkeit, vor der Entscheidung zu überlegen, was in der gegebenen Situation zu tun richtig wäre, und die Fähigkeit, dem Ergebnis dieser Überlegung gemäß zu entscheiden und zu handeln. Eine Entscheidung ist für Locke meine Entscheidung, wenn sie – nicht auf mich als außerweltliches Subjekt, sondern – auf meine Wünsche, meine Präferenzen und meine Überlegungen zurückgeht. Und eine Entscheidung ist frei, wenn ich (a) vor der Entscheidung innehalten und überlegen kann, was ich in der gegebenen Situation tun sollte, und wenn (b) in diesem Fall meine Entscheidung durch das Ergebnis dieser Überlegung bestimmt wird. Beide Bedingungen können auch dann erfüllt sein, wenn es im Weltverlauf keine Lücken der Indeterminiertheit gibt.

An dieser Stelle liegt trotzdem ein Einwand nahe. Selbst wenn Freiheit generell mit Determiniertheit vereinbar sein sollte, heißt das, daß sie dann auch mit neuronaler Determiniertheit vereinbar ist? Wenn Freiheit voraussetzt, daß wir in unseren Entscheidungen durch Überlegungen beeinflußt werden können, in denen rationale Argumente eine entscheidende Rolle spielen, ist es doch zumindest prima facie plausibel, daß das nicht so ist. Wenn in biologischen Wesen alle Entscheidungen auf neuronalen Prozessen beruhen – und genau das scheint die Neurobiologie ja zu beweisen –, wie sollen sie dann durch rationale Argumente und Überlegungen beeinflußt werden können?

He. (30.7.07): Die Neurobiologie beweist gar nichts! Implizite Beweise beweise bloß die innere Stimmigkeit eines Modells, aber nicht die Übereinstimmung des Modells mit der Realität.

Mir scheint, daß dieser Einwand nicht wirklich stichhaltig ist. Doch zunächst sollten wir festhalten: Empirisch ist völlig unbestreitbar, daß Wesen wie wir zumindest manchmal überlegen und daß sie zumindest manchmal für Argumente zugänglich sind. Stellen wir uns den folgenden Fall vor: Ich liege im Bett; der Wecker klingelt. Einerseits sollte ich aufstehen; denn in einer Stunde beginnt eine Sitzung der Fakultätskonferenz. Andererseits ist es gestern spät geworden, und es wäre schön, wenn ich noch etwas weiterschlafen könnte. Nehmen wir an, daß ich gerade dabei bin, mich zu entscheiden, noch etwas im Bett zu bleiben. Genau in diesem Augenblick ruft eine Kollegin an und sagt: "Du mußt unbedingt kommen. Heute steht eine wichtige Wahl an; und dabei kann Deine Stimme ausschlaggebend sein." Es steht völlig außer Frage, daß dieser Anruf einen Effekt auf meine Entscheidung haben kann. Warum sonst sollte die Kollegin auch anrufen?

Offenbar kann meine Entscheidung also durch das beeinflußt werden, was die Kollegin sagt. Und das heißt, offenbar kann meine Entscheidung durch die Gründe beeinflußt werden, die sie mir nennt. Also gibt es nur die folgende Alternative: Entweder beruhen nicht alle Entscheidungen auf neuronalen Prozessen, oder es gibt neuronale Prozesse, die durch Überlegungen und Argumente beeinflußt werden können. Daß dies tatsächlich möglich ist, ergibt sich meiner Meinung nach aus einer Beobachtung, die jedem vertraut ist, der auch nur ein bißchen Ahnung von Computern hat: Viele physische Prozesse lassen sich auf sehr verschiedene Weise beschreiben – auf der einen Seite physikalisch, auf der anderen Seite aber auch theoretisch-funktional. In einem Computer etwa kann derselbe Vorgang sowohl eine bestimmte Bewegung von Elektronen durch ein Transistorennetz als auch das Berechnen der Summe zweier Zahlen sein. Unter den vielen integrierten Schaltkreisen, die man heute überall im Handel erwerben kann, gibt es z.B. 4-bit Volladdierer mit zweimal 4 Eingängen und 5 Ausgängen. Diese Schaltkreise sind auf der einen Seite Ansammlungen von Transistorelementen, die auf bestimmte eingehende elektrische Impulse hin bestimmte elektrische Impulse ausgeben. Auf der anderen Seite sind sie aber auch kleine Additionsmaschinen, die, wenn zwei Zahlen (genauer: Zahlzeichen) an den zweimal 4 Eingängen eingegeben werden, an den Ausgängen das Zahlzeichen für die Summe dieser beiden Zahlen ausgeben.

He. (30.7.07): Was ist ein "Grund" - Ohne Willensfeiheit ist's ein leeres Wort. Der Autor dreht sich immer noch im Kreis...

Computer generell sind auf der einen Seite elektronische Geräte, auf der anderen Seite aber auch Rechen- bzw. Symbolverarbeitungsmaschinen. Dasselbe – oder zumindest etwas sehr Ähnliches – gilt auch für das Gehirn. Auf der einen Seite ist das Gehirn eine Ansammlung von vielfach miteinander verschalteten Neuronen, die auf unterschiedliche Weise feuern und sich in ihrem Feuerungsverhalten wechselseitig beeinflussen. Wie selbst Neurowissenschaftler sagen, läßt sich dieses Feuern von Neuronen aber auch auf einer kognitiven Ebene beschreiben – als das Wahrnehmen eines Gesichts, als Abrufen einer Erinnerung oder als die Entscheidung, den Arm zu heben. Dies zeigt sich schon anden von Hubel und Wiesel entdeckten Kantendetektoren. Dies sind Neuronenverbände, deren Feuerungsrate genau dann stark ansteigt, wenn sich an einer bestimmten Stelle im visuellen Feld einer Person eine Kante mit einer Orientierung von, sagen wir, 30° befindet. Genauso gibt es auch Neuronenverbände, die auf Gesichter oder auf Gebärden reagieren. Außerdem reden gerade Neurobiologen wie Roth und Singer oft davon, daß an bestimmten Stellen im Gehirn Entscheidungen gefällt werden oder daß sich im mesolimbischen/mesocorticalen System ein Belohnungszentrum befindet. Es kann offenbar also gar kein Zweifel daran bestehen, daß auch neuronale Prozesse ganz unterschiedlich beschrieben und aufgefaßt werden können.

Damit steht aber der Annahme nichts mehr im Wege, daß es sich bei manchen neuronalen Prozessen um Prozesse des rationalen Überlegens oder des Abwägens von Gründen handelt. Oder anders ausgedrückt: Die Tatsache, daß etwas ein neuronaler Prozeß ist, schließt keineswegs aus, daß es sich bei demselben Prozeß um einen Prozeß des Überlegens handelt – genau so wenig wie die Tatsache, daß etwas ein elektronischer Prozeß ist, ausschließt, daß es sich bei demselben Prozeß um das Berechnen der Summe zweier Zahlen handelt.

Daß es sich bei einem neuronalen Prozeß um einen Überlegensprozeß handelt, müßte sich dann allerdings gerade daran zeigen, daß dieser Prozeß durch Gründe und Argumente beeinflußt werden kann. Und auch dies ist keineswegs ausgeschlossen. Zunächst mag zwar die Annahme nahe liegen, daß Neuronen nur auf elektro-chemische Impulse reagieren. Doch schon die Beispiele der Kantendetektoren oder der Gesichtererkennungsneuronen machen deutlich, daß gerade die Verschaltung von Neuronen mit Rezeptoren und anderen Neuronen sicherstellt, daß Neuronen auch für Merkmale des visuellen Feldes und sogar für Merkmale der Umwelt empfänglich sind. Und offenbar sind Neuronen sogar sensitiv für Bedeutungen. Ohne Zweifel reagiert unser Gehirn auf einen Ausruf des Wortes 'Feuer' anders als auf den Ausruf 'Freibier'. Und das liegt nicht daran, daß es sich hier um syntaktisch verschiedene Wörter handelt. Denn auf die Wörter 'Es brennt' reagiert unser Gehirn wahrscheinlich ähnlich wie auf das Wort 'Feuer'. Tatsächlich ist hier also die Bedeutung das Entscheidende. Nehmen wir noch einmal den Fall, daß mich eine Kollegin anruft und sagt: "Du mußt unbedingt kommen. Heute steht eine wichtige Wahl an; und dabei kann Deine Stimme ausschlaggebend sein." Wenn ich darauf hin tatsächlich aufstehe und zur Fakultätskonferenz gehe, ist das wohl am besten dadurch zu erklären, daß die neuronalen Prozesse, die zu meinem Aufstehen führten, auf die Bedeutung dessen, was die Kollegin gesagt hat, reagiert haben – und auch auf das in ihrer Äußerung enthaltene Argument.

Meiner Meinung nach spricht also alles dafür, daß bestimmte neuronale Prozesse Prozesse des Überlegens sind, die für Gründe und Argumente empfänglich sind.

Wenn das so ist, dann erscheinen die Ergebnisse der Experimente Libets aber in einem völlig anderen Licht; dann zeigt sich in ihnen nämlich, was von vornherein zu erwarten war. Bevor eine Entscheidung getroffen wird, laufen neuronale Prozesse ab, die zugleich mentale Prozesse der Entscheidungsfindung sind – Prozesse des Überlegens und des Abwägens von Gründen oder andere Prozesse ähnlicher Art. Und natürlich lassen sich diese Prozesse über Bereitschaftspotentiale oder andere meßbare Effekte nachweisen. Daß diese Prozesse nicht vollständig bewußt sind, wird keinen verwundern, der mit den Ergebnissen der Kognitionswissenschaften vertraut ist. Denn bei der Untersuchung kognitiver Prozesse läßt sich häufig beobachten, daß nur das Ergebnis dieser Prozesse, aber nicht die Prozesse selbst bewußt werden. Wenn wir Menschen als biologische Wesen verstehen, deren mentales Leben neuronal realisiert ist, sind die Befunde Libets also alles andere als rätselhaft. Und sie widersprechen auch nicht der Annahme, daß wir zumindest manchmal frei entscheiden. Denn wenn freie Entscheidungen die Entscheidungen sind, bei denen man innehalten und überlegen kann, was für und was gegen die verschiedenen Handlungsoptionen spricht, und bei denen die Entscheidung danach durch das Ergebnis dieser Überlegung bestimmt wird, dann schließen sich neuronale Determiniertheit und Freiheit keineswegs aus.

He. (30.7.07): Letztlich erklärt er Willensfreiheit mit Willensfreiheit.

Von der Redaktion gekürzte Fassung. Die ungekürzte Fassung mit den Fußnoten erscheint in: Kristian Köchy, Christian & Stederoth, Dirk (Hrsg.) Willensfreiheit als Interdisziplinaäres Problem, 2005, Karl Alber, Freiburg i.Br..

Literatur
Bieri, P. Das Handwerk der Freiheit, München: Carl Hanser Verlag, München 2001.

Chisholm, R. „Die menschliche Freiheit und das Selbst“, in: U. Pothast, U. (Hg.), Seminar: Freies Handeln und Determinismus. 1978, Suhrkamp, Frankfurt 1978, S. 71-87
Frankfurt, H. The Importance of What We Care About. Cambridge University Press, New York 1988.

Libet, B. et al. „Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebralactivity“. Brain 106 (1983), 623-642.
Moore, G. E. Grundprobleme der Ethik, München:, C.H. Beck, München 1975.

Prinz, W. „Freiheit oder Wissenschaft?“ In: M. von Cranach, M. und Foppa, K. (Hg.) Freiheit des Entscheidens und Handelns. 1996, Roland Asanger, Heidelberg 1996, S. 86-103.

Mein Kommentar: Beckermanns Überlegungen sind fruchtlos, da er nicht zeigen kann, wie Hirnprozesse durch Gründe und Argumente beeinflußt werden können. Das kann ja wohl nur geschehen, wenn jene Gründe außerhalb des Physikalischen, also im Metaphysischen, angesiedelt sind, also ohne Physik in einer Art "Jenseits" ohne Gehirn gedacht werden können, und erst dann, nachdem sie gedacht wurden, Einfluß auf neuronale Hirnprozesse vornehmen.

Eine derartige Lösung lehnt Beckermann allerdings ab. Er sucht die Willensfreiheit im Diesseits der physischen Welt (man nennt dieses Bestreben, alles, besonders den Geist, auf die blinen Prozesse der Physik zurückzuführen, "Naturalisierung"**). Und dort kann er sie natürlich nicht finden. Also lasse man sich von den vielen Spitzfindigkeiten Beckermanns und anderer Philosophen (s.u.) nicht verwirren.

Es gibt nur einen gangbaren Weg zur Erkenntnis der Willensfreiheit: die Erkenntnis der Tatsache, daß die Physik samt ihrem Determinimuus (genau: Notwendigkeit + Zufall) ein Modell eines außerphysikalischen (und zur Willensfreiheit fähigen) Geistes ist. Die Willensfreiheit ist nicht von dieser Welt. Sie ist etwas Höheres als ihre Zerfallsprodukte "Notwendigkeit + Zufall".

Friedrich Weizsäcker sagte eimmal: "Natur ist Geist, der nicht als Geist erscheint." Die Natur ist eine Erscheinung des Geistes, die nicht als Geist erscheint. Ebenso der freie Wille. Er erscheint nicht als Willensfreiheit, sondern aus einer Mischung aus Notwendigkeit und Zufall.

He (30.3.07): Wer wie Beckrmann & Co. das Höhere leugnet, weil er es im Niederen nicht finden kann, begibt sich in eine logische Abwärtsspirale, die zwangsläufig im Nichts endet: "Es gibt nichts!"

* 3. Kompatibilismus: Die Schwierigkeiten, Willensfreiheit im Sinne des Antideterminismus verständlich zu machen, hatviele Philosophen dazu geführt, einen Begriff der Willensfreiheit zu definieren, der mit dem Determinismus kompatibel ist. Solche Positionen werden daher "kompatibilistisch" genannt. Da es um begriffliche Kompatibilität geht, ergibt sich allerdings nicht zwangsläufig, daß alle Kompatibilisten dann auch wirklich Deterministen sein müssen. Faktisch sind sie es allerdings meist, und wenn nicht, dann nur deshalb nicht, weil sie sich nicht festlegen wollen, ob es neben deterministischen auch noch echte statistische Gesetze gibt, die nicht bloß heuristischen Wert haben. Was die Kompatibilisten hingegen unterstellen müssen, ist, daß ein antideterministischer Freiheitsbegriff gar nicht sinnvoll expliziert werden kann – sonst würden sie schließlich einfach ander Sache vorbeireden. Die Inkompatibilisten hingegen zerfallen in Deterministen und Antideterministen, sind sich aber gegen die Kompatibilisten einig darin, daß ein antideterministischer Freiheitsbegriff sinnvoll ist. Während also ein inkompatibilistischer Determinist annimmt, daß unser Wille schlicht und einfach nicht frei ist, behauptet der kompatibilistische Determinist, daß kein sinnvoller Begriff von Willensfreiheit überhaupt den Antideterminismus implizieren kann. Wie läßt sich nun aber Kompatibilität erzielen? Thomas Hobbes (Leviathan) und David Hume(Enquiry concerning human understanding) erreichten Kompatibilität, indem sie als einzigverständlichen Freiheitsbegriff den Begriff der Handlungsfreiheit auszeichneten. Das ist natürlich insofern nicht zufriedenstellend, als einerseits über die Handlungsfreiheit sowieso (weitgehend) Einigkeit herrscht und andererseits der Verzicht auf einen antideterministischen Willensfreiheitsbegriffes wesentlich stärker motiviert würde, wenn sich zeigen ließe, daß sich alle wesentlichen Intuitionen auch durch einen kompatibilistischen Begriff von Willensfreiheit im engeren Sinne einfangen lassen. Diesbezüglich ist zunächst der Vorschlag G.E. Moores aus den "Ethics" zu nennen (Moore 1912), der daran ansetzt, daß die These von der Freiheit des Willens oft so formuliert wird, daß eine Handlung hätte unterlassen werden können bzw. der Handelnde auch anders hätte handeln können, als er es tatsächlich tat. Moore schlägt vor, die Wendung "hätte anders handeln können" zu verstehen als "hätte anders gehandelt, wenn er sich anders entschieden hätte" und diese Paraphrasierung ist in der Tat mit dem Determinismus verträglich. Roderick Chisholm hat hierauf aber zu Recht eingewandt, daß durch Moores Formulierung die Wendung "hätte anders handeln können" nicht adäquat umschrieben wird (Chisholm 1966). Denn es könnte falsch sein, daß jemand anders hätte handeln können, auch wenn es wahr ist, daß er anders gehandelt hätte, wenn er sich anders entschieden hätte. Wenn zum Beispiel vor Gericht geprüft wird, ob der Beklagte "zurechnungsfähig war", also auch anders hätte handeln können, so ist selbstverständlich nicht die Frage, ob er seine Tat nicht begangen hätte, wenn er sich anders entschieden hätte. Vielmehr wird gerade geprüft, ob der Beklagte die Fähigkeit besaß, innezuhalten. Kant, der bekanntlich versucht hat, Kompatibilität durch eine Art "Bereichsbeschränkung" für Determinismus und Antideterminismus herzustellen, scheint hier ein Gegenbeispiel zu sein; aber seine Position ist unverständlich. Dem Autor ist im übrigen kein Versuch bekannt, "Kompatibilität" auf der Basis eines antideterministischen Begriffes von Willensfreiheit durch Umdeutung des Begriffes "Determinismus" zu erzielen. (aus: X)

siehe auch (X)

** Naturalisierung des Geistes, siehe: (X)

 

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