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Johannes und der alte Mann

Vorsichtig arbeitete sich der 15-jährige Johannes den dicht bewaldeten Berghang hinunter, über niedrige Äste steigend, zwischen Haselnußsträuchern und Birken hindurch, stets darauf achtend, daß er auf dem schneebedeckten Boden nicht ausrutschte.

Endlich stand er wieder vor der Höhle, die er gestern am späten Nachmittag bei einer seiner einsamen Exkursionen zufällig entdeckt hatte. Sicherheitshalber zog er seine blaue Windjacke aus und hängte sie breit über einige herabhängende Äste. So könnte man ihn vielleicht finden, falls ihm in der Höhle etwas zustieße. Sicher würde ihm bald kalt werden, aber er hatte ja nicht vor, sich allzulange in ihr aufzuhalten. Mit der Taschenlampe in der Hand, machte er sich nun auf den Weg.

   Kaum hatte er den Eingang hinter sich gelassen, da stieß er sich schon den Kopf an der Decke. Au, hat das wehgetan! Aber nur halb so schlimm; der Schmerz ließ schnell nach, und schon wenige Sekunden später lockte ihn seine Neugier weiter in die Unterwelt hinein. „Komisch! Es ist gar nicht kalt hier“, stellte er verwundert fest.

   Allmählich weitete sich die Höhle etwas, sodaß er gut aufrecht gehen konnte. Auch der Boden war fast eben und trocken.

   „Oh weh, wenn ich jetzt die Taschenlampe nicht hätte, dann würde ich total im Dunkeln stehen!“ - Ein Schaudern lief ihm über den Rücken. Aber die Taschenlampe mit ihren frischen Batterien strahlte außer dem Licht noch etwas wie Geborgenheit und Sicherheit aus. Um das prickelnde Gefühl des Schauderns und die Erleichterung danach intensiver zu spüren, entschloß er sich, sie für mindestens eine Minute auszuschalten.

   „Huch, was ist denn das? Es ist ja gar nicht völlig dunkel!“ wunderte Johannes sich, und schon fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Keine fünf Sekunden nach seinem mutigen Entschluß brannte die Lampe wieder.

   Ganz hinten in der Höhle schimmerte ein bläuliches Licht. Es war noch nichts Genaues zu erkennen. Er mußte näher heran. Langsam schlich er auf den matt leuchtenden Fleck zu. Es war kein Tageslicht, das merkte er nun, denn es flackerte wie eine Kerze. Bald darauf hatte er die erhellte Stelle erreicht. Die Höhle machte hier einen scharfen Knick nach rechts, und als Johannes einen scheuen Blick um die Ecke warf, blieb ihm fast das Herz stehen!

   Da saß, zwischen zwei großen, brennenden Kerzen, ein alter, bärtiger Mann mit langen, schlohweißen Haaren in einer Art Schneidersitz auf dem nackten Boden und schaute Johannes genau in die Augen. Der Blick des Alten strahlte so viel Freundlichkeit und Güte aus, sodaß der Junge nicht einen Moment zu fliehen gedachte, und der erste Schreck wich schnell einer eigenartigen Faszination. Wie gebannt starrte er den Mann und dann die Kerzen an.

   Was waren das für Kerzen! Die linke hatte eine tiefblaue Flamme. Sie warf auf die rechte Höhlenwand einen schwarzen Schatten des Mannes, und die rechte Kerze, also sowas hatte Johannes noch nicht gesehen: sie hatte eine pechschwarze Flamme, aber doch sichtbar, etwa wie schwarzer Rauch, der alles Licht der Umgebung aufzusaugen schien. Und das seltsamste: Auch diese Flamme warf einen Schatten des Mannes auf eine Wand - auf die linke - und dieser Schatten leuchtete in hellem Blau, ungefähr so, wie ein wolkenloser Himmel über dem Meer.

   Der alte Mann wischte sich eine Haarsträhne von der Stirn und sprach mit sanfter Stimme:

„Komm nur näher, mein Junge, hier bist du richtig. Du bist doch gekommen, mich etwas zu fragen!“

„Eigentlich nicht“, antwortete Johannes noch etwas unsicher. „Ich wußte ja gar nicht, daß jemand hier ist.“

   Mit fragendem Blick entgegnete der Alte: „Aber wo sollte ich sonst sein? Es ist doch deine Höhle!“

„Wieso ist es meine Höhle? Wer bist du überhaupt?“

„Es ist deine Höhle, weil du in deine Tiefe hinabgestiegen bist, und ich - ich bin der Weise, denn ich habe keine Fragen, keine Wünsche und keinen Weg. Ich habe keine Urteile und kein Ziel. Ich bin tot, aber dem, der zu mir kommt, bin ich das Leben, das Urteil, der Weg und das Ziel.“

   Johannes glaubte, etwas Ähnliches schon einmal gehört zu haben, aber er konnte sich nicht mehr erinnern. Außerdem verstand er die Antwort überhaupt nicht. Vielleicht sollte er besser eine ganz konkrete Frage stellen:

„Was geschieht, wenn ich die schwarze Flamme ausblase?“

„Dann erlischt auch die blaue, und die Welt erscheint nicht mehr.“

   Der Alte sprach in Rätseln, aber Johannes gab noch nicht auf; die Gelegenheit, auf jede Frage eine Antwort zu erhalten, wollte er schon wahrnehmen:

„Warum bin ich in der Schule so schlecht, und was muß ich tun, um besser zu werden?“

   Der Weise kehrte seinen Blick nach innen und begann langsam und fast jedes Wort betonend zu sprechen: „Weisheit und Wissen bekämpfen einander und doch braucht eines das andere. Das Wissen kommt von außen und die Weisheit von innen. Beide wollen dein Handeln bestimmen. Handelst du durch das Wissen, so ist es eine fremdbestimmte Handlung. In diesem Fall bist du ein Sklave anderer Menschen und  Mitglied einer Gemeinschaft von Menschen. Handelst du durch die Weisheit, so bestimmst du dein Handeln selbst. In diesem Fall bist du frei, aber ein Außenseiter.

  Wissen und Weisheit, sowie fremdbestimmtes und selbstbestimmtes Handeln, schließen einander aus, und doch ist das Leben ein Pendeln zwischen diesen Extremen oder der Versuch, das einander Ausschließende gleichzeitig zu tun. Als du auf die Welt kamst, hattest du dich schon entschieden: Dein Pendel zeigte mehr auf Weisheit, als auf Wissen, und aus diesem Grund fällt dir das Lernen von Wissen schwer und das von Weisheit leicht. In der Schule wird Wissen belohnt und Weisheit bestraft. Darum bist du dort so ‘schlecht’.“

   Obwohl der Alte sehr langsam und deutlich sprach, konnte Johannes ihm einfach nicht folgen. Er verstand die Worte, aber sie kamen ihm vor wie leere Hüllen. Entmutigt wandte er seinen Blick ab, ließ den Alten reden und beobachtete stattdessen die beiden Kerzen.

   Da machte er eine interessante Entdeckung: Das Flackern beider Flammen mußte irgendwie zusammenhängen; wurde die blaue größer, dann verkleinerte sich die schwarze und umgekehrt - als müßten sie sich um das Wachs streiten.

   Der Alte mußte gemerkt haben, daß Johannes nicht mehr zuhörte, denn mitten in seinen Erklärungen stockte er und sah zum Jungen auf.

„Du hast es also bemerkt, mein Sohn!“

   Johannes schreckte aus seinen Gedanken auf, als er gewahr wurde, daß der Alte mit ihm redete.

„Oh, entschuldige, ich hatte gar nicht zugehört. Tut mir leid“, erwiderte er verlegen.

„Aber das macht doch nichts, mein Junge. Man wird nicht weise durch Zuhören - im Gegenteil: Man wird weise, indem man das Wissen in sich selbst entdeckt, so, wie du momentan im Begriff bist, das Wesen der beiden Kerzen zu entdecken. Vertraue dem, was dir in den Sinn kommt und lüfte das Geheimnis der Kerzen!“

   Während der Alte dies sprach, war es Johannes recht eigenartig zu Mute. Er wußte, daß er gleich etwas sagen würde, aber er wußte nicht, was. Und als er es dann sagte, war ihm, als spräche ein Anderer mit seiner Stimme.

„Die beiden Flammen bekämpfen einander, und doch brauchen sie sich. Also haben sie denselben Ursprung.“

„Richtig!“ rief der Alte erfreut. Du hast das UNIVERSALGESETZ entdeckt. Nach diesem Gesetz ist aus dem ALL-EINEN das ganze Universum mit allem darin entstanden. So schieden sich Licht und Materie, Geist und Erscheinungswelt, Weisheit und Wissen, Gut und Böse, Stark und Schwach, Links und Rechts, kurz: alles entstand durch Trennen in zwei Teile und vergeht durch Verschmelzung miteinander - aber auch Trennen und Verschmelzen haben einen gemeinsamen Ursprung.“

   Plötzlich verstummte der Mann. Seine Konturen schienen zu verschwimmen. Erschrocken rief der Junge: „Alter Mann, was ist mit dir los? Kann ich dir helfen?“

   Der verzog aber nur seinen Mund zu einem gütigen Lächeln und sagte mit immer leiser werdender Stimme:

„Weiche nicht dem Leben aus! Fürchte nicht den Tod! Kenne dich im Spiegel der Welt!“

   Die letzten Worte klangen wie aus weiter Ferne zugerufen. Er war beim Sprechen zu einem kleinen, hell leuchtenden Punkt zusammengeschrumpft, und die Stelle, an der er vorher gesessen hatte, erschien in tiefstem Schwarz. Bei genauerem Hinsehen entdeckte Johannes noch viel mehr dieser hellen Punkte. Sie sahen aus, wie Sterne im Weltall! Die glühenden Punkte bewegten sich. Sie zogen sich immer mehr um eine Art Zentrum zusammen. So entstanden helle und dunkle Streifen, die sich langsam krümmten und schmäler wurden. Die Sterne verdichteten sich zu leuchtenden Nebeln. Eine helle, flache Scheibe tauchte vom Rand des Blickfeldes auf und rückte ins Zentrum. Spiralarme lagerten sich um sie herum. Eine ganze Galaxie schwebte nun vor dem Jungen.

   Auch sie wurde kleiner, weitere Galaxien gesellten sich hinzu. Bald waren selbst die Galaxien nur noch Punkte, die sich immer näher rückten. Von außen wanderten immer mehr Punkte nach, und es dauerte nicht lange, da strahlte die ganze Höhle im hellsten Licht - so hell, daß die  Höhlenwände selbst zu leuchten begannen und es nichts mehr gab, außer dem Licht.

   Dann zog sich das Licht zusammen und verdichtete sich zu einer menschlichen Gestalt, die Johannes in jeder Einzelheit glich. Johannes konnte kaum fassen, was er alles erlebte.

„Wie heißt du?“ fragte er sein Ebenbild.

„Ich bin Johannes, dein Schatten. Nimm mich auf, damit du wirst, der du bist.“

  Johannes schritt seinem Doppelgänger entgegen und versuchte ihn zu berühren. Aber sein Griff ging ins Leere. So ging er einen weiteren Schritt nach vorn und verschmolz mit seinem ‘Schatten’. Er hörte noch die Worte: „Geh deinen Weg in Liebe!“ Dann waren er und der Schatten eins, und Johannes fühlte sich vollkommen. Er wußte, daß er die Grenzen von Zeit und Raum überschritten und das Tor zu anderen Universen aufgestoßen hatte. Er würde Jahrmillionen brauchen, um alle Geheimnisse, die seiner harrten, zu erforschen. Aber was waren Jahrmillionen? - Er hatte alle Zeit, die Ewigkeit!

Er verließ die Höhle, klemmte sich die Windjacke unter den Arm und schlenderte singend nach Hause.

   Dort warteten tausend Probleme und Sorgen auf ihn. Aber als Johannes das Haus betrat, flohen sie Hals über Kopf. Ein Lächeln hatte genügt, um all diese Dämonen zu vertreiben.

Tod und Leben

Was ist geschehn mit meinen Augen? Ich kann sehen zwar, doch alles scheint seltsam und fremd. Eben noch war ich am Meeresstrand, nun seh ich mich kletternd auf einem Berg. Der Stein in meiner Hand ist gewöhnlich, aber bedenk ich ihn nicht, so verschwindet er gleich. Merk ich's, ist er wieder da, doch ist's noch derselbe?
Ich wünsch mir den Gipfel herbei. Schon stehe ich oben und genieße den herrlichen Ausblick: Unendliche Wälder, Seen und Berge, Wolken und Meer. Ich suche eine Stadt und finde sie, wohin mein Blick zielt.
"Menschen!" denk ich, da steh ich schon mitten im Großstadtgewühl! Ich prüfe die Hand: Sie ist echt. Aber doch muß es eine Traumwelt sein! Vermutlich schlafe ich, sicher sogar, denn fühl ich nicht deutlich die Decke des Bettes?
Nein, ein Traum ist es nicht! Wirklich sind die bildlichen Vorstellungen, und wirklich erlebe ich meine Gedanken: Offenen Auges erinnere ich meine Vergangenheit:
Tausend Rinnsale durchflochten die fruchtbare Ebene des Paradieses, zeitlos-ewig im Wandel und doch bleibend. Dann geschah das Unglück: Starke Regen vom Meere brachten Überfluß, und ihre Wasser teuften ab fünf Rinnsale zu Gräben! Unvergeßliche Steine rollten hinab, zerstörend Lebendiges. Tiefer noch schürften diese die Gründe. Die dunklen Wasser schwollen an zu Strömen und rissen alles hinab ins Totenmeer. Den Rinnsalen versiegten die Quellen, und mit ihnen starb das Paradies. Heiße Wüstensande durchstoben die einstmals so klare, erfrischende Luft und verhüllten die Sonne.
Jetzt sind sie niedergerissen, die Dämme und aufgefüllt die Gräben, die Wasser des Lebens gesammelt zum blauen Meer. So löse ich auf das geschiedene Wissen in verstehendes Denken und verbinde die Zeiten zum vollkommnen Raum.
Behutsam sammle ich mein zerstreut umherspringendes Bewußtsein und trenne mich ab von der Welt. Gedanken entstehen. Sie erschaffen Empfindungen und diese den Leib. Langsam tief atmend, sitzend am Meer, übe ich Fühlung, während die Augen dem Wellengang folgen, die Ohren das Tosen der Wasser vernehmen, die Nase den frischen Geruch des Tanges genießt, die Zunge das salzige Spitzwasser schmeckt und die Haut den zarten Wind berührt.
Ich greif in den warmen, trockenen Sand und bewahre die Schönheit der Natur und den leichten Stolz, der sie hält, denn Stolz gibt der neuen Welt Dauer. Die mächtige Sonne im blauen Himmel ist mein. Ich wünsch mir als Lehne den Stamm einer tausendjährigen Eiche; schon ragen bizarre Äste über mein Haupt und spenden wohligen Schatten. Hundert Jahre werd ich hier bleiben, ruhigen Gemüts die Gedanken klären und meine Welt erbauen. Hier ist es leicht, denn Irrtümer werden hervorbrechen aus unterirdischen Schlünden, und sie werden versuchen, diese Welt zu zerstören.
Ich weiß es wohl! So werde ich nach und nach meinen persönlichen Geist zulassen und mit ihm die Drachen meiner Ängste, die Kraken meiner Verachtung, den Durst meines Neides, das Eis meines Stolzes, die Ketten und Foltern meiner gesellschaftlichen Anpassung, die Feuersbrünste meiner Leidenschaften und die toten, verfallenen Städte meines Wissens. Wüßte ich's nicht, wär ich gehetzte Beute der gierigen Dämonen wieder und wieder, Leben für Leben und bekäme nie Ruhe zu läutern den Geist!
Oh, wird es gelingen, all diese Dämonen zu verschlingen? Wird es gelingen, zu bilden ein paradiesisches Land? Wird's endlich gelingen nach so vielen tausend Versuchen? Oder wird es wieder heißen, nachdem ich das Äußere nach innen gekehrt habe und danach wieder in die Welt der Bewährung geboren bin:
"Wollen habe ich wohl, aber das Rechte vollbringen kann ich nicht. Denn das Rechte, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Falsche, das ich nicht will, das tue ich. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leib?" (s. Gedicht "Innen Welt")

Verkehrte Welt

Es war einmal eine Welt, sie hieß "Yllysien". In ihr war alles genau anders herum, als auf der Erde: Die Yllysier waren ungeboren, unsterblich und vermehrten sich natürlich auch nicht. Alle Gegenstände in ihrer Welt waren phantomartig wie farbiger, formhafter Nebel oder wie Regenbögen. Man konnte mit der Hand hindurchgehen, als wären sie nichts. Und so ungreifbar und unberührbar den Yllysiern alle Dinge waren, so fest und hart waren in dieser umgekehrten Welt ihre Gedanken.

Einen richtigen Apfel beispielsweise konnten die Bewohner Yllysiens nicht anfassen oder gar essen, aber sie konnten sich einen denken, und dieser war fest und saftig und natürlich auch 'eßbar'. Kannst du dir so eine komische Welt vorstellen, in der das Reale ungreifbar und das Irreale fest ist?

Der Yllysier Demiok, der es leid war, so viele Dinge um sich zu sehen, die er nicht anfassen und nicht haben konnte, stellte sich deshalb in einer Art Traum eine ganze Gedankenwelt vor, eine Gedankenwelt mit Bäumen, Bergen, Wiesen und Feldern, einem großen Meer mit warmem Wasser, in dem er baden konnte und am blauen Himmel eine wärmende Sonne. Es war eine Welt wie unsere Erde. Dort erfüllte sich Demiok alle Wünsche, die sich in seinem Geist regten.

Er dachte sich ein Pferd und ritt mit ihm durch die Prärie; er stieg auf einen zehntausend Meter hohen Berg und überhaupt, er lebte wie im Paradies. Und wenn Demiok 'schlafen' ging - was in Wirklichkeit natürlich das Aufwachen war -, dann dachte er ein paar Stunden lang nicht an seine Gedanken und schon war die feste Welt nicht mehr da; stattdessen das komische Yllysien, an dem er immer mehr sein Interesse verlor.

Jeden Tag machte Demiok seine Welt vollkommener und bewahrte sie am Abend, wenn er schlafen ging, fest in seiner Erinnerung, so daß sie am nächsten Morgen wieder in strahlendem Licht erschien. Bald überlegte er sich, welche Welt nun die wirklichere sei: Die, wo er alles anfassen konnte oder die, wo alles ungreifbar war, und er kam zu dem Ergebnis, daß die Gedankenwelt echt und Yllysien bloß Phantasie sei. In Yllysien gab es weder Hunger, noch Durst, weder Lust, noch Leid, kurz: Es gab dort überhaupt keine Wünsche. Deshalb schuf sich auch dort kaum jemand seine Gedankenwelt. "Wozu denn?" wunderte man sich dort bestenfalls und schüttelte verständnislos den Kopf.

Täglich schwärmte Demiok seinen yllysischen Freunden von seiner schönen Gedankenwelt vor und erzeugte so, ohne es recht zu begreifen, auch in ihnen viele Wünsche. So wurden immer mehr Yllysier unzufrieden, bis sie ebenfalls begannen, sich Gedankenwelten zu schaffen. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis sie sogar darum zu streiten begannen, welche nun die beste und schönste sei, und es entbrannte ein großer Glaubenskrieg. Die Folge dieses Krieges war, daß sich die vielen Gedankenwelten immer ähnlicher wurden und sich allmählich zusammenschlossen. Die Bewohner dieser neu entstehenden Welt nannten ihre neue Heimat schließlich 'Muteria' und sich selbst ''Muterianer'. Es war eine Welt der Wünsche, der Ängste und der Kriege. Yllysien nannten sie von da an verächtlich 'Illusion' oder 'Traum'.

Vielleicht hatten die alten 'Yllysischen Weisen' doch recht gehabt, als sie behaupteten, bald würde Yllysien untergehen, denn es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis alle nur noch an die Gedankenwelt glauben und vergessen würden, daß sie Muteria selbst erschaffen hatten. Der große Alassiok soll sogar gesagt haben:

"Die Yllysier verlernen, wie man denkt und werden folglich zum Spielball ihrer eigenen Welten. Die Gedankenwelten werden in ihren Augen so mächtig, bis sie glauben, ihre Projektionen seien unabhängige Dinge, die man bedenken müsse. Damit verwirren sie den letzten Rest ihrer Intelligenz! Oh welch' Torheit, Gedanken zu bedenken, statt sie nur zu kennen! Und sie werden es 'Klugheit' nennen, diese Narren!


Ja, die Bewohner dieser Welten werden sich zusammenschließen und sogar eine 'Wissenschaft' erfinden, in der genau festgelegt ist, wie der Einzelne 'denken' darf und wie nicht. Ihre geistige Verwirrung wird sie von den Verführern abhängig machen und dazu bringen, in ihrer selbst erschaffenen Welt als gequälte Sklaven von Sklaven zu leben.

Am Ende wird es nur noch eine einzige Gedankenwelt geben. Alle anders Denkenden werden überzeugt oder ausgerottet und unser geliebtes Yllysien in das Reich der Träume verbannt sein."

Demiok verstand zwar, was die Yllysischen Weisen sagten, aber er verstand es nicht mehr, mit seinen Projektionen zu spielen. Allzusehr waren seine Gedanken mit ihren eigenen Schöpfungen beschäftigt. Sie konnten sich nicht mehr von ihnen lösen. So hatte Demiok, der Unsterbliche, sich sein eigenes Grab geschaufelt. Er wußte es, aber er konnte es nicht mehr ändern.

"Dort ist die große Sonne am Himmel!" weinte er. "Dort ist sie und wärmt mich. Hier halte ich einen Stein in der Hand. Ich sehe und fühle ihn deutlich. Wie könnte ich jetzt denken: Es ist keine Sonne!? Es ist kein Stein!? Es ist keine Hand!? Wohl habe ich einmal so zu denken vermocht, aber ich vermag es nicht mehr. Ich bin nicht mehr frei in meinen Gedanken, ich habe mich im selbst gestrickten Netz des Wissens gefangen, ich habe mich zum Spielball einer Welt gemacht, die grausam ist und mir nicht mehr gehört. O ich Verfluchter! Wie kann ich, den die Sehnsucht nach Yllysien zerreißt, wunschlos werden? Wie überwinde ich diese Welt des Todes?"

Von den Muterianern heilig gesprochen, wußte er jedoch, daß er in Wahrheit der größte Sünder war. Milliarden Yllysiern, die sich jetzt Muterianer nannten, hatte er den Tod gebracht, und sie verehrten ihn auch noch dafür! Welch ein Wahnsinn! Er sagte es ihnen. Er sagte es ihnen tausendmal, aber sie hatten für ihn nur noch verständnislose Ehrfurcht übrig und für alle, die ihm wirklich nachstrebten, Verachtung, Hohn und den Scheiterhaufen. So zog er sich in eine Einsiedelei zurück und übte Entsagung. Es hieß, er sei nach vierzig Tagen verhungert. Aber ich weiß, daß das nur bedingt stimmt, denn in Wahrheit hatte er sein Yllysien wieder. Gestern Nacht nämlich begegnete mir Demiok im Traum. Er sagte:

"Einen Augenblick war ich in Dunkelheit gehüllt, mein Freund. Wie war es möglich, daß ich mich für eine unbedeutende Sekunde meines Lebens einen Muterianer nennen konnte? Wie konnte es geschehen, daß für eine verschwundene Zeitspanne das Denken und die Zeit fast erstarben? Preise dich glücklich, daß die Wächter der Zeit, die Yllysischen Weisen, den endgültigen Tod noch verhindern konnten, denn sie sind es, die der Wissenschaft ständig neue Nahrung darbringen. Ohne das ewige Yllysien ist kein Wandel auf Muteria! Preise dich glücklich, denn Erlösung ist gewährt jedem, der sich löst von der Welt."

Die Brunnengräber

(1988) Es waren einmal viele Brunnengräber. Sie gruben ein tiefes Loch in die Erde, um an die unterirdischen, verborgenen Seen mit dem heiligen, erlösenden lebendigen Wasser zu gelangen. Unter der Sonne gab es zwar genügend Wasser für alle Menschen, aber die Reichen besaßen es und schlossen alle Anderen von seinem Genuß aus, denn sie hatten, so sagten sie, sehr viel Geld dafür bezahlt und müßten darauf achten, daß das Wasser sauber bleibe. Außerdem sei das Wasser der Tiefe unendlich viel wertvoller.

Die Reichen waren also sehr großzügig. Außerdem versorgten sie die Brunnengräber mit allem, was sie brauchten. Ein Jeder hatte Arbeit, und die Klugen wurden sogar auf die Universität geschickt, wo sie lernen konnten, wie man Brunnen gräbt und weniger intelligente Menschen anleitet und beaufsichtigt.

Viele hundert Jahre gruben die Brunnengräber nun schon an ihrem Brunnen und machten jedes Jahr große Fortschritte. Schon wußten sie nicht mehr, wie es unter der Sonne aussah und sich lebte. Aber die Reichen waren sehr großzügig. Sie stellten überall im Brunnen Kästen auf, die pausenlos Bilder von der Welt unter der Sonne zeigten, so sagten sie. Es mußte sehr gefährlich da oben sein, zeigten die Bilder, denn viele Sterbende und Tote waren darauf zu sehen. "Welch ein Glück!", sagten die Brunnengräber, "daß es hier unten sicherer ist"!

Es gab zwar ein paar Spinner unter den Brunnengräbern, die sagten, die Wände würden bald zusammenstürzen, wenn man immer so weitergraben würde, aber die Gelehrten, die in der Universität gelernt hatten, wie man Brunnen gräbt, sagten, sie hätten schon fast fünfundzwanzighundert Jahre gehalten und nach ihren Berechnungen sei die Wahrscheinlichkeit, daß sie in diesem Jahrhundert noch brechen würden, bestenfalls einz zu vierundzwanzighundert; es sei also praktisch unmöglich. Außerdem könne niemand beweisen, daß ein derartiges Unglück überhaupt geschehen könne. So hatten es die Gelehrten gelernt. Sie taten ihre Schuldigkeit.

Die meisten Brunnengräber glaubten natürlich den Gelehrten und gruben fleißig weiter. Schon lange waren die Wände feucht; bald würde man auf das ersehnte freie Wasser stoßen. Kaum jemand beachtete die warnenden Stimmen, denn auch die Warner hörten nicht auf das, was sie selbst forderten und beteiligten sich am großen Werk. Das machte sie unglaubwürdig. Das Gesetz >Ohne Arbeit kein Brot!< galt leider für alle Brunnengräber. Vielleicht wären die Warner besser verhungert.

Immer mehr Wasser drang aus den Brunnenwänden. Plötzlich schossen die Fluten durch milliarden geöffneter Poren und ertränkten die Brunnengräber mit Mann und Maus. Sie hatten ihr eigenes Grab gegraben!

Die Gelehrten hatten sich offensichtlich nicht geirrt! Die Brunnenwände hielten stand. Das hatten die Reichen und die in ihre Schule gegangenen Warner nicht bedacht. So sammelte sich das ganze Wasser im Brunnen, der Grundwasserspiegel sank, die Welt unter der Sonne trocknete aus und alle Reichen verdursteten jämmerlich, denn in die Tiefe zu gehen vermochten sie nicht..

Übrig blieb nur der Einsiedler, der sich von den Armen und Reichen verabschiedet hatte mit den Worten: "Ich bin nicht von dieser Welt!" Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Mann im Vogelkäfig

(1988) Als ich vor ein paar Nächten in einem Traumuniversum auf einer Traumerde lebte, befand ich mich in der knöchernen Halle eines Wohnzimmers. Tief unten im Keller des Hauses vernahm ich ein leises, doch schreckliches Wimmern und Röcheln eines sterbenden Mannes. Vor Angst fast gelähmt, wankte ich den dunklen, von Spinnenweben verhangenen Treppengang hinunter, um meine Pflicht zu tun und dem Mann zu Hilfe zu kommen. Schauerlich hallte das geflüsterte Ächzen im weiten Raum, neben mir, vor mir, über mir, unter mir - in mir! Die sterbende Stimme rief von überall her. Ich verlor völlig die Orientierung, sodaß ich überrascht war, plötzlich hinter einem Lehnstuhl aus Korbweide zu stehen!

In diesem Stuhl versunken, saß ein dürrer, alter Mann mit bleichem Gesicht. Mit müden Augen schaute er mich an, aber er war es nicht, der stöhnte! Die Hilferufe kamen von tiefer her! Es mußten noch geheimere Räume unter dem Keller existieren. Schon wollte ich mich von dem Mann abwenden, um dem Ruf entgegenzueilen. Aber mein Gewissen hielt mich zurück: bedurfte der Alte nicht auch meines Beistandes?

Ich zögerte, und in dieses Zögern hinein sagte der Mann väterlich zu mir: "Die Liebe ist das Wesentliche der Welt! Vergiß das nicht. Denn wer liebt, sieht das Schöne, und wer das Schöne sieht, wird nicht alt. Und wer ewig jung bleibt, an dem geht alles vorüber: Kummer, Leid, Angst, Pflicht, das ganze sinnlose, aufgeblasene Getue der Menschheit. Er selbst in seinem Glück kann höchstens zuschauen, und es bleibt ihm nur das Mitleid für die geschundene Kreatur."

Während der Sterbende das erzählte, zitterte ich vor Ungeduld, denn die Hilferufe von ganz unten wurden immer eindringlicher. Als der Mann im Lehnstuhl endlich schwieg und die Augen schloß, wollte ich sofort aufbrechen, doch noch bevor ich das Zimmer verlassen hatte, wachte ich auf. Nun müssen die gequälten Hilferufe ungehört im knöchernen Saal meines Wohnzimmer verhallen! Heute, mitten am hellichten Tage, öffnete ich irgendein Buch und las:

"Der Mensch baut sich aus dem Wissen der Bücher einen vergoldeten Käfig, in den er seine lebendige Seele einsperrt. Die Gelehrten sind nur bunte Papageien in verschiedenen Käfigen, und jeder will das sicherste Gefängnis haben. Ihre armen, verdorrten Seelen verbrennen an der Kälte der stählernen Gitter."

Jetzt weiß ich was da so tief unten leise ächzt und zu sterben droht, wenn ich mich nicht schleunigst verwandle: Ich selber! Ist nicht das Buch, das ich schreibe, nicht auch mein Käfig?

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