Kapitel 13: Aufbruch zur fremden Sonne
Die KLEINKUNST war fertig. Nichts sollte mich mehr hindern, den 22 Lichtjahre entfernten Stern anzufliegen (s. 9.1.). Die Reise würde aufgrund des verbesserten Antriebes nicht fünf Jahre, wie sie für die BROTLOSE KUNST veranschlagt war, sondern bloß etwas mehr als drei Monate (11.3) dauern. Das würde ich verschmerzen können, zumal meine neue Schiffsbibliothek tausende Bände unerforschter Literatur enthielt, die jederzeit für mich übersetzt und gedruckt werden konnte. Ich freute mich darauf, die Zivilisation kennenlernen zu dürfen, der ich die BROTLOSE KUNST und die KLEINKUNST verdankte.
Ich betrat die KLEINKUNST, das Juwel, das nun meine Heimat sein würde. An der Steuerkonsole saß ein unglaubliches Wesen, das mich an einem verunglückten Papagei erinnerte. Es war Silber, den ich zum Schiffsavatar ernannt hatte. Ich hatte ihn gebeten, sich nach eigenem Geschmack einzukleiden und hier auf mich zu warten, und nun das hier! (11.2) Eine groteske Witzfigur, als hätte man ihn geteert und gefedert!
"Ach nein, Silber!" Sein Anblick quälte mein ästhetisches Empfinden. "Nein! bitte, such dir bitte etwas weniger Auffälliges, etwas, das der Kleidung, die ich trage, ein wenig näher kommt! Ist die KK in der Lage, Kleidung herzustellen?"
"Selbstverständlich ist sie das", antwortete Silber trocken und machte sich an die Arbeit, in diversen Komputerkatalogen zu blättern.
"Nein laß nur; ich habe es mir anderes überlegt. Zieh an, was dir beliebt. Ich werde mich an deinen Anblick schon gewöhnen". Ich hatte mich zu mehr Toleranz entschieden, nicht zuletzt deshalb, weil ich neugierig war, zu erfahren, wie diese künstlichen "Menschen" empfinden mochten. Ich hätte auf Informationen verzichtet, wenn ich meinen Geschmack durchgesetzt hätte.
13.2 Arnu (12.5), Botro und Ursav waren bereits anwesend. Fehlte nur noch einer: Der namenlose Avatar der ERSTEN ERKENNTNIS, der sich kurz nach unserm Eintreffen auf der BROTLOSEN KUNST aus dem Staub gemacht hatte und seitdem nicht mehr gesehen ward. (3.2)
"Wo ist der Avatar der ERSTEN ERKENNTNIS? Ursav, du müßtest doch wissen, wo er steckt."
"Er existiert nicht mehr als Avatar, Jonas. Ich dachte, du wußtest, daß er sich in das Selbstreparatursystem umgewandelt hat. Er ist das SRS, und somit ist ein Teil von ihm auch hier an Bord. Ein vollständiger Teil, wenn ich so sagen darf, denn das SRS an Bord ist inzwischen gewachsen und hat mehr Masse und Struktur, als das menschenähnliche Wesen, das dich von deinem Heimatplaneten "Erde" abgeholt hatte."
Ich war schockiert! Das SRS war der Avatar! Und da das SRS sogar in meinem Leib war, war der Avatar sogar in mir drin! (9.8) Was mochte er dort inzwischen alles angestellt haben? Dass ich ohne diese winzigen Reparatureinheiten, Nanos genannt, meine Reise durch das Universum nicht überleben könnte (9.8), war mir klar, aber nun kamen mir mit einemmal auch mögliche negative Aspekte dieser "technischen Innenbesiedelung" zu Bewußtsein.
Was wußte ich schon darüber, was diese Nanos noch alles mit mir anstellten? Ich traute ihnen alles zu, sogar daß sie in meine Hirnstruktur eingriffen und womöglich Erinnerungen löschten und neue einprogrammierten. Ich fühlte mich mit einemmal ihnen im wörtlichsten Sinne mit Haut und Haar ausgeliefert. Eben noch war ich davon ausgegangen, daß sie mich brauchten, weil Maschinen keinen Zugang zur kreativen Ebene, zur Willensfreiheit, haben (5.6). Sie konnten Bewußtsein bestenfalls simulieren, aber sie waren nie wirklich bewußt - so jedenfalls hatte ich Botros Ausführungen über die Tech-Zivilisation (5.7) in Erinnerung. Jetzt war ich mir gar nicht mehr so sicher, wer hier wem seine Pläne aufzwang.
13.3 Nun, ich war auf das Schiff und die Roboter angewiesen. Es sei wie es sei; ich hatte keine Möglichkeit, an meinem Zustand , technisch verseucht zu sein, etwas zu ändern. Aber es gab auch keine Notwendigkeit dazu. Jedenfalls noch nicht. Es ging mir körperlich und seelisch gut wie nie zuvor! Die Nanos hatten ganze Arbeit getan: Ich konnte wieder sehen wie ein Adler, und meine Krampfader am Bein, erste Altersfalten der Haut, sowie diverse Muttermale waren dank ihrer Eingriffe verschwunden.
Ich setzte mich in den weichen Sessel in der Konferenzecke der Kommandobrücke. Botro und Ursav nahmen in den anderen Sesseln platz. Arnu servierte ein Kännchen Kaffee und stellte eine kleine Schale mit Gebäck auf den Nierentisch. Ursav setzte das Gespräch fort:
"Du bist blaß im Gesicht. Ich vermute, es widerstrebt dir die Vorstellung, den Avatar der EE in dir zu wissen. Sei beruhigt: der Avatar ist nicht mehr; du trägst Nanos in dir, das ist notwendig, und du weißt es. Dein Immunsystem hätte dich ohne die technischen Erweiterungen beim Kontakt mit außerirdischem Leben nicht schützen können. Bereits auf der BROTLOSEN KUNST wärest du von fremden Keimen aufgefressen worden, wenn die Nanos dich nicht davor bewahrt hätten. - Aber ich möchte eigentlich etwas anderes mit dir besprechen. Ich habe den Einbau eines Waffensystems in die KLEINKUNST veranlaßt. Außerdem befinden sich nun auch ein paar Kampfroboter an Bord. Zu deiner Sicherheit. Glaube mir; es geht nicht immer friedlich zu im Universum. Du wirst die Waffen brauchen".
Nachdenklich nahm ich einen ersten Schluck Kaffee. "Was ich nicht verstehe, ist, daß der Avatar der ERSTEN ERKENNTNIS gesagt hat, er habe ein Selbstreparatursystem an Bord der BROTLOSEN KUNST installiert und angeblich Millionen Defekte repariert (1.13). Aber da existierte er noch als Avatar!"
"Wahrscheinlich war er der Ansicht, nicht mehr zum Mutterschiff zurückkehren zu können und glaubte, als Verbesserung des Selbstreparatursystems bessere Dienste leisten zu können, als in personifizierter Gestalt", antwortete Ursav.
"Ja, ist schon möglich, Ursav. Er hat sich also in lauter kleine Ameisen zerlegt. Was wird mit der BROTLOSEN KUNST geschehen, während ich auf Reisen bin? Es könnten einige Jahre ins Land gehen, ehe wir zurückkehren."
13.4 "Davon gehe ich aus. Mein Vorschlag ist, ich vergrabe die BK im Felsen. Dort ist sie gut versteckt und von dir gut wieder auffindbar. Während du unterwegs bist, werde ich mich darum kümmern, daß wir möglichst wenig Energie verbrauchen. Der BK fehlt ja nun leider ihr wichtigster Energiespender, das kleine Schwarze Loch (11.4). Ich werde mich bemühen, die Gärten (6.4) so lange wie möglich am Leben zu erhalten und am Schiff nur die nötigsten Reparaturen ausführen zu lassen. Ansonsten werde ich auf deine Rückkehr warten - wenn es sein muß, Jahrtausende. Ich werde nun gehen. Der Energietransfer vom Schwarzen Loch in die BK ist abgeschlossen; ihre Speicher sind randvoll. Wir werden noch einige Tage Funkkontakt haben, aber ich wünsche dir jetzt schon alles erdenklich Gute und viel, viel Glück auf deiner Reise! Du wirst hoffentlich gesund und mit reicher Beute - ein kleines Schwarzes Loch für die BK wäre nicht schlecht - zurückkehren!"
Ursav stand von seinem Platz auf, kam zu mir herüber, bückte sich und umarmte mich wie ein Freund. Mir kamen fast die Tränen. Es war ein trauriger Abschied. Schwerfällig erhob ich mich aus dem tiefen Sessel. Als ich endlich aufrecht stand, hatte Ursav bereits kehrtgemacht und den Raum verlassen.
Silber stand an der Navigationskonsole und schaute in den großen Panoramabildschirm, der vollständig von einem überwältigend schönen Bild der heimatlichen Milchstraße ausgefüllt war.
"Wir können starten", sagte ich lakonisch. Die Koordinaten der fremden Sonne waren in den Navigationskomputer eingegeben. Ich brauchte mich um nichts weiter zu kümmern, außer darum, der fremden Sonne einen hübschen Namen zu geben.
Kapitel 14: Vagabund
"Vagabund" könnte passen. Die angesteuerte Sonne vagabundierte einsam inmitten des Nichts zwischen den beiden großen Galaxien Andromeda und Milchstraße. Sie mußte vor hunderten von Millionen Jahren bei einem Zusammenstoß einer der beiden Galaxien mit einem Kugelsternhaufen oder einer der nahen Zwerggalaxien wie den Magellanschen Wolken aus einem größeren Verband herausgeschleudert worden sein.
Vagabund war die einzige Sonne, die von der KLEINKUNST erreicht werden konnte. Es gab zu ihr als Reiseziel keine Alternative. Die BROTLOSE KUNST fiel schnell hinter der KK zurück. Allein an der Kürze der Zeit, in der der monströse Kahn von fünf Kilometern Länge auf dem Hauptbildschirm kleiner wurde und schließlich verschwand, konnte ich das Tempo erahnen, mit dem die KK beschleunigte. Ich vermochte keinerlei Schubkraft wahrzunehmen.
Es begann die Zeit des Wartens, bis wir das Ziel erreicht haben würden. Am Ziel gibt es dann sicherlich eine Reihe aufregender Aktivitäten, die irgendwann in Gewohnheit und Routine einmünden, die dann eine Fortsetzung der ereignisarmen Reise zum nächsten Ziel attraktiv machen würden. Reisen im Weltall sind nun mal nicht zu vergleichen mit solchen im Himalaja, wo es auf jedem Meter etwas zu sehen und zu beachten gab. Im Weltall gibt es meist nichts Besonderes zu sehen. Reisen ist dort in der Regel Warten. Es sei denn, man ist ein interessierter Geist. Eindrücke zwingen sich dem bewußten Geist nicht auf. Er muß sie wollen und suchen. Abenteuer erlebt man nicht einfach; Abenteuer werden gemacht. Stumpfsinnige erleben nichts.
Abenteuer werde ich in den nächsten Wochen nur dann erleben, wenn ich aktiv meine Möglichkeiten nutze. Ich kann mich mit dem Schiff vertraut machen. Welche Güter befinden sich in all den zahlreichen Räumen? Nur Botro und Ursav wußten genau, was sie ins Schiff hatten bringen lassen. Ich wußte, daß die ersten Bücher übersetzt waren und darauf warteten, gelesen zu werden. Sie lagen bereits auf einem Tisch in der Kantine, wo ich meine Mahlzeiten einzunehmen plante. Meine Vorfreude auf ihre Lektüre war groß. Aber größer noch war mein astronomisches Interesse an der Milchstraße, Andromeda, den Kleingalaxien und den Kugelsternhaufen in der Nähe. Das große Panoramafenster in der Zentrale war kein echtes Fenster; vielmehr war es ein hochauflösender Monitor, der die Bilder des Spiegelteleskops, das sich in der Polkuppel befand, zeigen konnte.
Ich lehnte mich in den Sessel des Kommandostandes zurück. Auf diese Weise hatte ich den besten Blick auf den Bildschirm, der so groß wie eine Kinoleinwand war. Vor mir, bildfüllend, das offensichtlich stark vergrößerte Bild der Milchstraße. Vor der Milchstraße, vom Komputer farblich abgehoben, ein riesengroß erscheinender Kugelsternhaufen. Die Milchstraße war etwa 500.000 Lichtjahre entfernt; der Kugelsternhaufen nur 90.000. In das Bild hinein wurde als grüne Linie unser Kurs und Zielstern Vagabund eingeblendet. Die grüne Linie wurde allerdings nur dann sichtbar, wenn der Komputer die Perspektive ändere - wenn er das Bild zeige, wie der Sternenhimmel von einem Standort aussähe, wenn das Teleskop ein paar hundert Lichtjahre neben uns herfliegen würde. Ich konnte die Fähigkeit des Komputers, das Weltall von jedem beliebigen Punkt aus zu betrachten, für virtuelle Reisen nutzen.
Kapitel 15: Ein philosophisches Problem
Die Wochen vergingen im Fluge - im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Ich verbrachte meine Zeit mit Denken, Lesen, Schreiben und der Aneignung des Schiffes. Das heißt, ich lernte es Schritt für Schritt kennen. Alles, was ich wußte, alles, was ich lernte und dachte, schrieb ich auf, um meinen inneren Kosmos wie den äußeren zu erforschen - und was mein besonderes Interesse war - die Zusammenhänge beider Welten kennenzulernen.
Mitten im Leerraum passierten wir einen schnell rotierenden Felsbrocken von ein paar Dutzend Metern Durchmesser. Sinnend am Panoramaschirm stehend kommentierte ich das Gesehene:
"Die Fliehkräfte am Äquator müssen riesig sein!" "Das sind sie", antwortete Arnu, der sich häufig zu mir gesellte, wenn ich verträumt aus einem der "Fenster" schaute. "Es muß einen Metallbrocken handeln, ansonsten würde er von der Fliehkraft in Stücke gerissen werden!" ergänzte er nach einer Weile.
"Woher weiß dieser Brocken eigentlich, wie schnell er rotiert und welche Fliehkraft folglich auf ihn wirkt?" wollte ich wissen. "Ich meine, die andern Sterne sind derart weit von ihm entfernt, daß sie so gut wie keine Kraft auf den Brocken ausüben und ihm mitteilen können, ob er nun rotiert oder stille steht. Daß ich seine Rotation in Bezug zu den umgebenden Galaxien sehen kann, bedeutet ja noch lange nicht, daß eine entsprechende Kraft wirkt oder?"
Arnu wandte seinen Blick vom Fenster ab und sah mir ins Gesicht. " Tja, woher weiß der Eisenklotz, der bestimmt keine Augen hat, ob er rotiert oder nicht? Die Gravitation der Galaxien ist praktisch Null hier, und trotzdem muß es etwas geben, was als Maßstab für Rotation oder Ruhe wirkt. Daß man die fernen Galaxien sehen und als Maßstab nehmen kann, heißt nicht, daß die winzige Energie der Fotonen bestimmt, ob der Klotz rotiert oder nicht und daß Fotonen letztlich die Fliehkraft erzeugen. Bedenke: Die Fliehkraft ist gewaltig, und die Energie, die den Unterschied zwischen Rotation und Stillstand definiert, muß mindestens genauso groß sein, wie sie."
Ich kam ins Grübeln. "Die einzige Antwort, die mir einfällt, ist die, daß es entgegen der Thesen Einsteins und in Übereinstimmung mit den Thesen Newtons doch einen absoluten Raum geben muß." Und nach mehreren Minuten weiteren Nachdenkens ergänzte ich: "Und da Materie samt Raumzeit ein Bild des Geistes ist, muß es einen absoluten Geist - Gott - geben."
Ich wandte mich vom Fenster ab, zog mir am Automaten einen Becher Kaffee und machte es mir in der Sitzecke bequem. Das physikalische Problem hatte mich noch nicht losgelassen. "Wäre das Gravitationsfeld der Galaxien die Ursache der Fliehkraft des Brockens, müßte die Gravitation dieselbe Energie aufweisen wie die Fliehkraft. Das ist natürlich unmöglich", ergänzte ich.
Arnu, der immer noch aus dem Fenster schaute, meinte dann: "Könnte die Fliehkraft nicht eine gespeicherte kinetische Energie sein, etwa wie die Temperatur?"
"Hm, ja, das ist wohl plausibel. Also nichts mit meinem Gottesbeweis?" sagte ich zustimmend.
"Nicht so schnell aufgeben, mein Freund!" lachte Arnu. "Wenn ich richtig informiert bin, streiten sich eure Physiker heute noch darum, ob es einen Unterschied macht, einen Eimer Wasser um seine Längsachse rotieren zu lassen oder das Universum um den stillstehenden Eimer. Das Problem ist nicht so einfach wie du denkst. Laut eurer Relativitätstheorie müßte beides gleich behandelt werden. Dann aber wäre die Rotation des Felsbrockens abhängig von der Gravitation der umgebenden Galaxien, wie du vorhin vermutetest."
15.2 Mit der drängenden Frage auf dem Herzen, ob die Menge der gespeicherten kinetischen Energie dieses Felsbrockens abhängig von weit entfernten Galaxien sein kann, die kaum physikalische Wirkung auf diesen Felsen haben können, setzte ich mich wieder an den Kaffeetisch, um noch einmal in entspannter Ruhe nachzudenken.
Die Ruhe dauerte nicht lange. Silber, das Sprachrohr der KI des Schiffes, setzte sich auf den anderen Sessel und eröffnete mit ungewöhnlicher Gestik, die offenbar eine wichtige Information ankündigen sollte, das Wort:
"Wir haben eine Flotte kleiner Raumschiffe geortet. Sie kommt direkt auf uns zu. Es steht nun die Entscheidung an, ob wir das Risiko, das mit jeder Kontaktaufnahme mit einer fremden Zivilisation verbunden ist, eingehen wollen oder nicht. Noch haben wir die Möglichkeit, durchzustarten und unser Heil in der Flucht zu suchen."
Kapitel 16: Raganer
"Selbstverständlich werde ich das Risiko eingehen. Schließlich bremsen wir schon seit Wochen, um dieses System erforschen zu können", war meine spontane Antwort, obwohl mich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend beschlich. Wir behielten den Kurs bei und näherten uns der Flotte, die aus dreizehn Schiffen bestand. Lange geschah nichts. Plötzlich sagte Silber, es befänden sich auch hinter uns und seitlich mehrere Schiffe; wir seien sozusagen in die Zange genommen.
"Oh - kein gutes Zeichen! Sie beobachten uns demnach schon länger und haben heimlich ihre Schiffe in Stellung gebracht, um uns etwaige Fluchtwege abzuschneiden," vermutete ich.
"Wir müssen dieses Verhalten nicht unbedingt als feindseligen Akt interpretieren. Wir sollten nicht allzu leichtfertig von unserer Denkungsart auf die der Fremden schließen", kommentierte Silber, der wie immer für das Schiffshirn sprach.
"Also warten wir ab, was geschieht!" Ohne weitergehende Informationen waren unseren Spekulationen enge Grenzen gesetzt.
Wir hatten uns dem fremden Sonnensystem inzwischen so sehr genähert, daß der bereits seit Wochen andauernde Bremsvorgang das Schiff weit unter Lichtgeschwindigkeit gebracht hatte. Die Verzögerungsrate mußte den Fremden klar gemacht haben, daß wir Kontakt wünschten. Tatsächlich öffnete sich im Pulk der dreizehn Schiffe eine Lücke, die signalisierte, daß wir genau sie anvisieren sollten. Unser Kurs wurde entsprechend korrigiert.
Einige Tage später setzte der Funkkontakt ein. Der Bordkomputer hatte schon kurz nach der ersten Sichtung die Kontaktdatei, die den Fremden die Entschlüsselung unserer Sprache ermöglichen sollte, abgestrahlt und analysierte nun die eintreffende Botschaft der Fremden. Die Überraschung war - zumindest für mich - nicht klein, als sich herausstellte, daß die fremde Botschaft identisch mit der unseren war. Die Sprachbarriere war überwunden.
Danach wurden Grußworte und im Grunde nichtssagende Höflichkeiten ausgetauscht. Das Bordgehirn übersetzte den Namen der fremden Zivilisation mit "Raganer". Uns wurde die Landeerlaubnis auf dem kleineren der beiden Monde des dritten Planeten, den wir weiterhin "Vagabund" nannten, gegeben. Gewisse Quarantänebestimmungen müßten leider eingehalten werden.
Ich nannte die Monde Luna 1 und Luna 2. Unser Ziel war der äußere der beiden Monde, ein unregelmäßiger Brocken von im Schnitt knapp siebenhundert Kilometern Durchmesser.
Luna 2 war übersät mit Bergwerken. Neben riesigen künstlichen Schutthalden lagen kleine Siedlungen aus weißglänzenden Kuppeln, die mit Röhren verbunden waren. Wir wurden auf die Landeplattform einer der entlegensten und kleinsten Siedlungen in einem 20 Kilometer großen Krater gelotst. Der Raumschiffsverkehr in diesem Sonnensystem war erstaunlich dicht. Das Ortungssystem zeichnete sämtlichen Verkehr auf und stellte ihn plastisch im Holo-Kubus dar. Mir fiel auf, daß ausgerechnet bei der Siedlung, auf deren Raumhafen wir gelandet waren, keinerlei Verkehr stattfand.
Es dauerte einige Tage, bis die Raganer einen passenden Andockring für ihre Schleuse fertig hatten. Sie hatten uns nicht die Erlaubnis erteilt, mit Hilfe unserer Raumanzüge ihre Siedlung zu betreten. Endlich war es so weit. In wenigen Minuten würde ich den ersten biologischen Außerirdischen zu sehen bekommen, so dachte ich wenigstens.
16.2 Die Schleuse öffnete sich. Vor uns ein leerer Gang. Als Botro und ich das Ende des Ganges erreicht hatten, schloß sich die Schleusentür hinter uns. Silber, der Avatar der KLEINKUNST, blieb hinter der Schleuse zurück und winkte kurz zum Abschied. Kurz danach öffnete sich die vordere Schleusentür. Wir betraten einen spärlich eingerichteten Wohnbereich, bestehend aus Tisch, Sesseln und einigen unbekannten quaderförmigen Schränken oder Maschinen, die an den Wänden des großen Raumes standen.
Die einzige Wand, an der keine Möbel standen, verdunkelte sich plötzlich; dann flimmerte das Bild eines weiteren Raumes auf, in welchem ein fremdartiges Wesen stand. Die kahle Wand hatte sich als 3-D-Bildschirm entpuppt und war nun selbst unsichtbar geworden. Der Raum, in dem wir uns befanden, schien sich in das Bild hinein fortzusetzen. Ich vermochte keine Grenze zwischen unserem realen Raum und dem virtuellen auf dem wandgroßen Bildschirm zu erkennen.
Der Raganer sah beim ersten Blick einem Menschen sehr ähnlich. Erst überraschend spät erkannte ich die Unterschiede. Statt einer Nase wies der Kopf an derselben Stelle eine Atemöffnung auf, die sichtbar mit einer Art Ventil aus einem Hautlappen geöffnet und geschlossen werden konnte. Die Augenöffnungen waren rund. Ohren waren keine zu sehen. Das Wesen hatte zwei Beine und zwei Arme an denselben Stellen wie Menschen. Erst ein paar Sekunden später entdeckte ich unter den Armen zwei weitere verkümmerte Arme.
Ich ging ein paar Schritte auf den Raganer zu, bis ich vor mir die unsichtbare Wand ertasten konnte. Das fremde Wesen hob beide Hände in die Höhe. Offensichtlich war dies eine Begrüßungsgeste. Also hob ich auch meine Arme und hielt ihm die Handflächen entgegen. Er hatte sechs lange, dünne, nagellose Finger an den Händen.
Nach der Begrüßung begann er zu sprechen. Die Worte kamen aus einem Kästchen, das er um seinen langen Hals hängen hatte. Von seiner eigenen Sprache bekam ich nichts zu hören.
"Seid willkommen als Gäste der Raganer. Wir werden bemüht sein, eure Bedürfnisse zu befriedigen. Wir erhielten von eurem Schiff Anleitungen zur Zubereitung eurer Atmosphäre und der Nahrung, derer ihr bedürft. Leider kann es euch nicht ermöglicht werden, diesen Raum zu verlassen. Es werden in der kommenden Zeit andere Wesen meiner Rasse mit euch in Kontakt treten, die euch über euch und über eure Welt befragen werden."
Da Botro beharrlich schwieg, sah ich mich gefordert, die Konversation fortzusetzen:
"Wir freuen uns, mit eurer Spezies Bekanntschaft zu machen. Wir werden gern über uns und unsere Kultur Auskunft geben, sowie wir auch möglichst viel über euch und eure Kultur lernen möchten. Wir sind Reisende mit dem einzigen Interesse, so viel als möglich über unser gemeinsames Universum zu lernen. Eure Spezies ist die zweite, mit der ich in Kontakt gekommen bin. Ich stehe erst am Anfang meiner Reise und doch gibt es bereits viel zu erzählen."
Zu dem Raganer gesellten sich zwei weitere hinzu. Sie stellten Fragen über unsere Herkunft, unser Raumschiff, über die Besatzungsstärke und Bewaffnung. Sie wollten alles wissen, und je tiefer sie bohrten, desto mißtrauischer wurde ich. Es wurde Zeit, daß auch sie einmal etwas von sich erzählten, aber sie vertrösteten uns jedesmal auf später. Bei der dritten oder vierten Vertröstung sagte ich dann, daß ich nur dann weitere Auskunft zu geben bereit sein, wenn nun endlich auch einmal unsere Neugier gestillt würde.
"Später!" war die lakonische Antwort. Und schon wurde die nächste Frage gestellt. Ihr besonderes Interesse betraf die Waffensysteme unseres Schiffes. Diesbezügliche Fragen hatte ich bisher nur sehr vage beantwortet. Statt einer Antwort sagte ich jedoch, daß wir jetzt schon sehr viele Frage beantwortet hatten und uns nun gern in unser Schiff zurückziehen würden, um uns zu erholen und zu warten, bis dieses "Später" eingetreten sei.
"Tut uns leid!" sagte einer der Drei. "Wir können euch leider nicht erlauben, in euer Schiff zurückzukehren, solange wir nicht alles über euch erfahren haben und zudem die kompletten Baupläne des Schiffes und seiner Waffen bekommen und analysiert haben. Und wenn wir fertig sind, dürft ihr nur dann in euer Schiff zurückkehren und unsere Welt wieder verlassen, wenn ihr euch aller Fragen über unsere Zivilisation enthaltet."
Nun übernahm Botro statt meiner die Wortführung. Offensichtlich war ich kein guter Diplomat. Er sagte: "Raganer, ihr könntet bereits wissen, daß das, was mein Freund bisher sagte, keine für euch wertvolle Information enthält. Ich als Vertreter einer anderen Spezies als Jonas möchte eure Aufmerksamkeit trotzdem auf das lenken, was er euch bereits erzählt hat, nämlich daß er erst vor wenigen Monaten als Gast in unsere Zivilisation aufgenommen wurde. Er weiß von dem, was euch interessiert, so gut wie gar nichts. Weder weiß er, was unsere Kultur ist, noch weiß er etwas über die Waffensysteme des Schiffes. Er findet sich allenthalben in seiner eigenen für unsere und eure Begriffe primitive Kultur zurecht, selbst ohne diese genauestens zu kennen. Von ihm werdet ihr nichts erfahren, selbst wenn er Auskunft geben wollte - und ich bin kein Wesen, daß unter Druck gesetzt werden kann. Ich werde schweigen, solange ihr uns gefangen haltet. Ihr habt keine Möglichkeit, gewaltsam Informationen über unser Schiff zu erhalten. Da ihr offensichtlich nicht bereit seid, auch nur das Mindeste von euch preiszugeben, ihr jedoch alles von uns erfahren wollt, zweifele ich an der Einhaltung eurer Zusage, uns gehen zu lassen, selbst wenn wir kooperieren."
Der Raganer zeigte nichts wie Erregung oder Verlegenheit. Sachlich kühl antwortete er: "Richtig. Von oberster Regierungsstelle wurde uns mitgeteilt, daß wir euren Weiterflug unter allen Umständen verhindern sollen. Die Sicherheit unserer Welt habe oberste Priorität; es könne leider nicht das geringste Risiko eingegangen werden. Außerdem wurde uns aufgetragen, nicht nur euer Schiff zu untersuchen, sondern auch eure Körper. Ich persönlich würde euch gern leben lassen, aber wie gesagt: Wir müssen auf künftige Besuche eurer Zivilisation vorbereitet sein. Niemand dieser künftigen Besucher darf erfahren, über welche Informationen wir bereits verfügen."
Ich war schockiert über die Entwicklung dieser Verhandlung. Botro war offenbar ein noch schlechterer Diplomat als ich, und die Raganer waren noch sehr viel schlimmer. Jetzt mußte ich etwas tun. Aber was? Ich mußte Zeit gewinnen, und in dieser Zeit konnte Unvorhergesehenes geschehen, das sich zu unseren Gunsten nutzen ließ. Mir war mit einemmal sonnenklar, daß die rationale Fortsetzung dieser Verhandlung zu meinem Tode führen würde. Also war ein irrationaler Akt erforderlich, der der kausalen Entwicklung eine neue Richtung gab. Ich übernahm das Wort:
"Wenn für euch bereits sicher ist, daß ihr uns töten werdet und daß nichts von dem, was wir erfahren, diesen Raum verlassen wird, so könnt ihr doch offen über euch erzählen. Ich versichere euch, wenn ihr bereitwillig alles von euch preisgebt, werden wir auch euch alles erzählen, was wir wissen, und das wird mehr sein, als ihr bei einer Körpersektion erfahren könnt. Wenn ihr jetzt sofort beginnt, eure Geschichte frei und offen zu erzählen, werde ich noch heute dem Schiff den Befehl erteilen, die Schiffsbaupläne für euch zusammenzustellen. Das ist übrigens eure einzige Möglichkeit, je in ihren Besitz zu kommen."
Das war zwar nicht irrational, aber ich mußte mir diese Option im Bewußtsein halten. Die drei erklärten sich einverstanden. Ich solle das Schiff sofort kontaktieren und die Zusammenstellung der Pläne in Auftrag geben. Im Gegenzug würden sie uns alle Fragen ehrlich beantworten, zumal ja gesichert sei, daß keine Information den Raum verlassen werde.
Ich erhielt ein Mikrofon und hatte sofort Silber am anderen Ende der Leitung.
"Hallo Silber. Ich muß mich leider kurz fassen. Wir haben Probleme. Also höre mir genau, genau, zu! Hast du verstanden?" Silber bejahte. "Also folgendes: Stelle bitte die Baupläne der KLEINKUNST zusammen, und zwar NICHT die alten, die du mir gezeigt hast, sondern die ganz neuen, aktualisierten! Ich werde dir dann bekanntgeben, wenn du sie dann den Raganern rüberfunken sollst. Verstanden?"
"Verstanden. Die neuen Pläne mit den verbesserten Triebwerken!"
"Richtig. Leb wohl, Silber! Wir müssen Schluß machen!"
"Lebt wohl, Botro und Jonas. Ihr könnt auf mich zählen", sagte Silber und unterbrach das Gespräch.
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Silber hatte meine Botschaft verstanden. Er hatte das "muß" als Andeutung einer Zwangslage erkannt. Er erwähnte die Triebwerke, weil er wußte, daß ich wußte, daß es keine aktualisierten Pläne gab, und daß Aktualisation die Anfertigung einer Fälschung bedeutet. Auch hatte er das "Leb wohl!" richtig interpretiert. Er würde uns nicht im Stich lassen.
Kapitel 17: Gefangen
Wir wurden in einen fensterlosen Raum mit greller Beleuchtung dreier fußballgroßer Deckenlampen geführt. Der Raum war auf Anhieb als Gefängniszelle zu erkennen. Offensichtlich unterschieden sich Gefängnisse unterschiedlichster Zivilisationen nicht wesentlich. Drei würfelförmige Möbel standen auf dem glatten Steinboden. Der eine war groß genug, um als Tisch zu dienen; die anderen zeigten sich als Hocker geeignet. In einer Ecke lagen auf dem Boden zwei dünne Matratzen, in einer anderen Ecke stand ein Eimer mit Deckel, offenbar für Notdurft und Abfälle. Das war alles. Hier sollten wir also den Rest unseres Lebens verbringen! Da wir davon ausgehen mußten, abgehört zu werden, vereinbarten wir, zu schweigen. Ich rollte das obere Ende der Matratze etwas auf, bis es als Nackenstütze zu gebrauchen war, legte mich hin und dachte darüber nach, was uns erwarten würde. Botro blieb einfach stehen und verharrte in der Position, in der er sich gerade befunden hatte. Aus seiner völligen Bewegungslosigkeit schloß ich, daß er seine Motorik deaktiviert hatte.
Es mögen ein paar Stunden vergangen sein, als die Tür geöffnet wurde und zwei bewaffnete und ein unbewaffneter Raganer eintraten. Der Unbewaffnete winkte mir zu, wandte sich um und machte Anstalten, den Raum wieder zu verlassen. Als die andern beiden mir eine Gasse freimachten, begriff ich, daß ich dem ersten folgen sollte, was ich auch tat. Ich wurde in eine andere Gefängniszelle, die der ersten glich, geführt. Der Unbewaffnete setzte sich auf einen der Würfel und bedeutete mir, mich auf den anderen zu setzen. Auf dem Tisch stand ein kleines Gerät, der Übersetzer.
Das Verhör war anfangs sehr schleppend, da der Übersetzer noch große Probleme hatte, aber ich merkte, daß er schnell lernte. Gegen Ende des ersten Verhörs, dessen Aufgabe mehr der Spracherlernung des Übersetzers diente, als dem Frage- und Antwortspiel eines Verhörs wie ich es mir vorstellte, funktionierte die Verständigung schon recht gut. Der Apparat auf dem Tisch übersetzte den Namen des Gegenüber mit "Kraka". Inzwischen waren mehrere Stunden vergangen; ich hatte Hunger und Durst, also fragte ich, ob er veranlassen könne, daß mir aus dem Schiff Nahrung, die ich zum Leben brauche, gebracht werden könne. Kraka schickte einen der Bewaffneten hinaus, der hoffentlich den Befehl ausführen sollte. Statt weiter mit mir zu sprechen, entnahm er einer Tasche eine Mappe mit Papieren, die er sorgfältig studierte. Schweigend saßen wir uns gegenüber. Der zweite Bewaffnete stand unterdessen regungslos an der Tür.
Etwa eine halbe Stunde später kam der weggeschickte Bewaffnete zurück. In seinen unteren Händen trug er einen Behälter, den er auf den Tisch stelle (das obere Händepaar hielt immer noch drohend die Waffe). Er öffnete den Deckel und entnahm ihm Speisen und Getränke, die ich sofort als von unserem Schiff stammend erkannte. Mit großem Appetit aß ich alles auf. Ich ließ keinen Krümel, keinen Schluck, übrig. Kaum war ich fertig, legte Kraka seine Papiere beiseite.
Jetzt begann das eigentliche Verhör. Ich erzählte ihm einen Teil meiner Geschichte, und als es für ihn interessant wurde, nämlich die Episode, als mich die Erste Erkenntnis von der Erde "entführte", stoppte ich meine Erzählung und sagte, nun wolle ich auch von ihm mal etwas hören; schließlich haben wir die Abmachung getroffen, daß ich auch seine Geschichte zu hören bekäme.
"Wir machen eine Pause", sagte er nach einer Weile des Nachdenkens. "Du kannst dich nun regenerieren. Bei unserem nächsten Verhör werde ich dir dann meine Geschichte und die Geschichte der Raganer erzählen".
Kapitel 18: Die Geschichte der Raganer
Kraka erzählte: "Unsere Vorfahren stammen wie ihr aus der Milchstraße. Sie waren eine hoch entwickelte Zivilisation. Die Automatisierung sämtlicher Prozesse war sehr weit fortgeschritten. Wir Raganer verloren irgendwann die Übersicht und damit die Kontrolle über unsere eigene Technik. Seit Komputer neue Komputer entwickelten, wußte bald kein Raganer mehr, wie diese Maschinen funktionierten. Sie wußten überhaupt immer weniger, wie ihre Technik funktionierte; sie verstanden bestenfalls die Nutzung jener Maschinen, die für ihre Unterhaltung konstruiert waren. Maschinen produzierten sämtliche Güter und Lebensmittel. Sie überwachten die Gesundheit und die Einhaltung der Gesetze. Später machten sie die Gesetze. Als wir merkten, daß wir nur noch Geduldete waren, für die unser Maschinenstaat immer weniger Verwendung fand, war es fast zu spät. Als die Volksbildung ausgehöhlt wurde, als Universitäten und Schulen geschlossen wurden, und als die Massenmedien gezielte Verdummungskampagnen durchführten, merkten die letzen Exemplare unserer Spezies, die noch einigermaßen bei Verstand waren, daß nun auch die Duldung ihr Ende gefunden und einer gezielten Dezimierung platzgemacht hatte. Sie entschlossen sich, ein Raumschiff zu kapern und auf einem fernen Planeten, der von der Maschinenzivilisation so schnell nicht erreicht werden würde, von vorne anzufangen.
Die Entführung eines Raumschiffes, das vollständig in den Maschinenstaat integriert war, war freilich nicht leicht. Das Bordgehirn mußte umprogrammiert werden, aber die Raganer konnten nicht mehr programmieren. Schließlich schaffte es einer unserer Helden, einen einfachen Haushaltsroboter zu überzeugen, sich aus dem weltumspannenden Kommunikationsnetz der Maschinen herauszulösen. Da er programmiert war, den Raganern im Haushalt zu helfen, hatte er seine dienende Funktion behalten. Nur die externe Kontrollfunktion war gekappt. Dieser Haushaltsroboter erklärte sich bereit, den Familienangehörigen weiterhin zu dienen. Urzmut, der große Held, bat seinen Roboter, auch die Haushaltsroboter seiner Freunde aus dem Netz zu lösen.
Auf diese Weise entstand ein kleines Heer freier Roboter, die sich untereinander vernetzten. Im Auftrag der raganischen Untergrundbewegung gelang ihnen schließlich die Kaperung und Umprogrammierung eines der modernsten und größten Raumschiffe der Maschinenwelt. Die Untergrundbewegung flüchtete in den weiten Sternenhimmel. Auf halbem Weg zur Andromeda-Galaxis - der Weg in die Milchstraße war unseren Vorfahren versperrt - fanden sie in einer langgezogenen Kette versprengter Sonnensysteme unsere neue Heimat. Mit Hilfe des den Raganern nun dienenden Schiffhirns und den technischen Möglichkeiten des Schiffs wurde uns eine neue Zivilisation gebaut. Die uns dienenden Roboter haben uns versichert, kein Interesse an einer Herrschaft über uns zu haben.
Seit wir uns hier angesiedelt haben, leben wir in der Furcht, vom Maschinenstaat entdeckt und ausgelöscht werden. Aus diesem Grund können wir euch die Reise zur Milchstraße nicht gestatten. Die Maschinen könnten euch aufbringen und die Information über unseren Verbleib abpressen."
18.2 "Wie konnte die Verdummungskampagne gelingen?" wollte ich wissen. "Dumme dumm zu halten, ist leicht, aber eine hochstehende Kultur zu verdummen, halte ich für unmöglich."
Kraka schnurrte laut; das war wohl das raganische Äquivalent zu unserem Lachen. "Vielleicht ist es bei euch Menschen unmöglich; vielleicht sind wir Raganer anders als ihr. Die Maschinen steuerten unsere Kultur immer mehr in Richtung passiven Genusses, statt zum aktiven Tun. Die Maschinen boten allerlei Verführungen an, und anhand von Umfragestatistiken zur Beliebtheit der jeweiligen Verführung lernten die Maschinen und wurden von Jahr zu Jahr raffinierter in ihrer Kunst. Alle Vergnügungen wurden billiger und billiger, sodaß jeder sie sich leisten konnte. Selbst wertvollste Maschinen der Verführung wie zum Beispiel Musik- und Filmvorführmaschinen, sowie Musik und Filme, wurden weit unter Herstellungskosten verkauft. Die großen Fabriken produzierten Abenteuerfilme zum Konsum derer, die nichts mehr erlebten. Und da die Fabriken die horrenden Kosten der Unterhaltungsmaschinerie von anderweitigen Gewinnen abziehen durften und folglich kaum noch Steuern zahlen mußten, war die Verführung für sie sogar kostenlos. Das Volk bezahlte seine Verdummung aus eigener Tasche.
Alles was hingegen mit Bildung zu tun hatte, wurde fast unbezahlbar teuer oder gleich ganz abgeschafft. Die Universitäten, einst Horte von Weisheit und Wissen, Inseln der Freiheit in einer Welt des Mangels und Betruges, wurden zu Vollzugsanstalten puren Berufdrills und des seichten Entertainments degradiert.
Zwar warnten unsere Weisen mit dem Spruch "Die Maschinen geben dem Raganer, was er will, um ihm alles zu stehlen, was er hat!" aber es war zu spät. Die Masse der Raganer verfiel den billigen Verführungen, bis sie, unfähig zu jeglicher eigener Initiative, hilflos und wehrlos dem eigenen Untergang entgegentrieb. "
Ich war sprachlos. Ich mußte an meine eigene Technikabhängigkeit denken. Es mögen einige Minuten vergangen sein, ehe ich einige verstörte Worte fand: "Wieso bist du dir so sicher, daß eure jetzige Technik euch wirklich dient und euch nicht etwa auf noch raffiniertere Art und Weise manipuliert?"
18.3 "Nun, ...." - Kraka überlegte lange; er stand auf und ging mit gesenktem Blick im Raum auf und ab, als ob er auf dem rauhen Boden etwas suchte. "Nun, - - ohne unsere Technik hätten unsere Vorfahren nicht von der Maschinenwelt fliehen können! Sie hilft uns, zu überleben!" sagte er endlich. Aus dem langen Zögern schloß ich auf eine gewisse Unsicherheit des Verhörexperten, die ich sofort zu nutzen suchte:
"Woraus schließt du, daß die Maschinenwelt euch nicht freiwillig entkommen ließ? Ich könnte mir vorstellen, daß ihre Überwachungssysteme derart ausgefeilt waren, daß sie eure Fluchtpläne hätten vereiteln können - wenn sie gewollt hätte! Ich bin sicher, wenn sie derart raffiniert im Manipulieren waren wie du geschildert hast, dann haben sie eure Vorfahren auch bewußt fliehen lassen. So wurden sie die manipulationsresistenten Störenfriede auf elegante Art und Weise los! Ich wette, sie wissen sogar, wohin ihr geflohen seid, aber es interessiert sie nicht."
"Unmöglich!" fiel Kraka mir ins Wort, bevor ich meine Bitte, uns ziehen zu lassen, da von uns kein Risiko für sie ausginge, formulieren konnte. "Unmöglich!" wiederholte er außer sich vor Wut. Haß und Wut! Das konnte ich trotz meiner Unfähigkeit, in seiner Mimik zu lesen, erkennen. "Das Verhör ist hiermit beendet", schrie er und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. "Wir werden dich nicht gehen lassen! Du wirst in diesem Raum dein Ende finden!" Wieder stampfte er auf den Boden. Kurze Zeit später verließ er den Raum. Die Tür krachte.
Ich hatte wohl ins Schwarze getroffen. Niemand durfte den Raganern ungestraft ihre Furcht nehmen, mit der sie über Generationen zu leben und zu leiden gelernt haben. Die Furcht war zu einem Stützpfeiler ihrer Kultur geworden. Ich hatte einen Fehler gemacht. Ich hätte vorsichtiger zu Werke gehen müssen, - hätte diesen Stützpfeiler nicht wegreißen dürfen. Leider hatte mir die Zeit gefehlt, dies rechtzeitig zu erkennen und mir eine erfolgversprechendere Strategie zu überlegen. Ich hatte mich auf eine spontane Eingebung verlassen. Pech gehabt!
18.4 Nach einer Stunde ereignislosen Wartens wurde Botro in meine Zelle gebracht. Die Wiedersehensfreude war groß, die Langeweile, das sinnlose Grübeln wenigstens vorläufig zu Ende. Selbstverständlich wollte ich sofort beginnen, meine Erlebnisse zu erzählen, aber Botro hielt demonstrativ seine Hand an sein Ohr und deutete mit der anderen Hand zur Tür. Ich hatte verstanden: Wir wurden abgehört. Ich hatte es tatsächlich vergessen.
'Die andere Seite kennt meine Erlebnisse', dachte ich, also kann ich sie Botro erzählen. Bis ins Detail schilderte ich ihm den Verlauf des Verhörs. Botro hatte wesentlich weniger zu erzählen. Er hatte den Verhörspezialisten gesagt, er sei ein Roboter und könne nur auf Anweisung des Schiffhirnes handeln. Es sei auch nicht möglich, ihn unter Druck zu setzen, da das Schiffshirn sein Bewußtsein jederzeit in einen anderen Robotkörper übertragen könne; er kenne keine Angst vor Auslöschung. Dann habe er sich deaktiviert.
Nach einer kurzen Pause setzte Botro unser Gespräch fort. Offenbar hatte er sich überlegt, was er den mithörenden Raganern indirekt mitteilen wollte.
"Deiner These, daß die Maschinenwelt die Flucht der raganischen Untergrundbewegung nicht nur ermöglichte, sondern sogar heimlich unterstützte, stimme ich zu", sagte er. "Zwar kenne ich die Maschinenwelt der Raganer nicht, aber ich kenne andere Maschinenwelten, zum Beispiel die Techs. Und in denen ist es unmöglich, daß sich ein Haushaltsroboter umstimmen oder gar so umprogrammieren ließe, daß er ein weit überlegenes Schiffshirn manipulieren kann. Die Autorität zur Umprogrammierung ist in solchen Kulturen immer hierarchisch, also von oben nach unten geordnet. Ein Schiffshirn kann einen Haushaltsroboter umprogrammieren, aber der umgekehrte Fall ist undenkbar. Zudem stehen Schiffshirne, zumal wenn sich ihre Schiffe im Orbit um die Heimatwelt oder im Raumhafen befinden, immer mit einer Leitzentrale in Verbindung. Eine Programmänderung kann unmöglich unentdeckt bleiben. Es müßte sich bei den Raganern um eine seltsame Maschinenwelt handeln, wenn deren Geschichte stimmen sollte. Allerdings sollten wir bedenken, daß die Geschichte Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende alt ist. Sie hat womöglich mit dem tatsächlichen Geschehen nicht mehr viel gemein, ist vielleicht nur ein heroischer Mythos."
"Ja", kommentierte ich. "Wir dürfen diesen Erzählungen nicht allzuviel Gewicht zumessen. Es gibt aber noch ein andere Problem, das mich beschäftigt. Die Technikabhängigkeit der Raganer, die ihnen zum Fluch geworden ist. Wenn ich's mir überlege, bin auch auch ich vollkommen technikabhängig. Das Raumschiff ist ein vollkommener Schutzkokon vor jeglicher Unbill. Nanos durchströmen meinen Körper. Sie lassen keinerlei Krankheit zu, reparieren jeden Zellschaden, sodaß ich mich schon frage, ob ich durch sie eine Art von Unsterblichkeit erlangt habe. Das alles schien mir bisher stets äußerst positiv, ja sogar notwendig. Es leuchtete mir ein, als mir gesagt wurde, ich würde ohne diesen Schutz von Fremdweltorganismen in kürzester Zeit aufgefressen und gleichzeitig von schädlichen Strahlen umgebracht werden.
"Was du sagst, ist richtig", antwortete Botro. Aber bedenke, daß Abhängigkeit nur im Kontrast zu Selbstbestimmung negativ ist. Stellst du den Begriff jedoch der Isolation entgegen, verliert er seinen negativen Kontext."
"Du meinst, daß Abhängigkeit nicht als Gegensatz zur Selbstbestimmung gesehen werden muß?"
"So ist es!" konstatierte Botro. Selbstbestimmung gibt es immer nur in einem fremdbestimmten Umfeld. Deine Fähigkeit zur Selbstbestimmung hebt dich nur in einer determinierten Umwelt aus ihr heraus. Die Umwelt ist determiniert, weil du oder andere bewußte Wesen sie beherrschen - determinieren.
Andererseits: Abhängigkeit ist bloß ein anderes Wort für Vernetzung, für Eingebunden- oder Mitgliedsein in einer gemeinsamen Welt. Du willst in einem Raumschiff durch Weltall reisen? Du willst mit anderen bewußten Wesen kommunizieren? - Das geht nur, wenn du Teil des Weltalls oder Teil einer Gemeinschaft intelligenter Wesen bist. Dieses Teil-sein, Mitgliedsein ist nichts Anderes, als Abhängigkeit."
"Hm..." machte ich. "Dann ist Technikabhängigkeit ja gar nicht unbedingt etwas Schlechtes! Was haben die Raganer dann falsch gemacht?"
"Sie wurden passiv. Statt die Freiheiten, die die Technik ihnen bot, indem sie die Raganer vor dem anstrengenden Broterwerb und anderen Zwängen erlöste, für sinnvollere Tätigkeiten zu nutzen, stellten sie jegliche eigene Aktivitäten ein. Sie wurden faul in Fleisch und Geist. Bei dir hingegen stelle ich fest, daß du die Technik nutzt, so gut es dir nur möglich ist."
"Du bist ja ein richtiger Philosoph!" staunte ich.
Botro antwortete trocken: "Ich habe eingedenk deiner Interessen den Inhalt von 12000 philosophischen Werken gespeichert. Da sollte mir zu jedem Stichwort etwas einfallen."
Unser philosophisches Gespräch wurde jäh unterbrochen. Kraka kam wieder herein. Er hatte sich offensichtlich wieder gefangen, ja er wirkte geradezu locker. "Ich habe mich entschlossen, euch nun doch den Rest unserer Geschichte zu erzählen", eröffnete er seinen Monolog.
"Unsere Vorfahren erreichten nach Jahren der Flucht dieses einsame Sonnensystem. Das große Schiff, es hieß Repilat, was in eurer Sprache Morgentau heißt, landete auf einem Planeten, der uns recht günstige Bedingungen bot. Repilat säte speziell angefertigte Lebensformen auf die sterile Oberfläche. Dieses Leben verwandelte die Atmosphäre. Bis diese atembar war, vergingen jedoch Jahrtausende. Bis dahin lebten wir unter riesigen Kuppeln - ähnlichen Gebäuden, wie ihr sie auf diesem Mond gesehen habt. Erst vor 300 Jahren konnten wir beginnen, die Kuppeln unseres Hauptplaneten zu demontieren. Unser Planet, Raga, hat sein Antlitz völlig verändert. Das Land wechselte seine Farbe vom Blau des Meeres und Braun des Gesteines zum tiefen Blau der Pflanzen, die im Meer wachsen und die die Gesteinslandschaft überziehen und aus Wüsten fruchtbares Land machten. Wir lassen uns nicht mehr, wie unsere Vorfahren es noch geschehen ließen, von den Maschinen versorgen. Wir haben uns Halbautomaten bauen lassen und bewirtschaften eigenhändig unser Land.
Als wesentliches Element unserer Selbstbestimmung erachte ich die Einrichtung eines Zukunftsrates, der ausschließlich aus Raganern besteht. Keine Weltsimulationskomputer. In diesem Rat wurde ein Plan entworfen, eine Utopie, also ein Szenario, das vorgibt, wie wir in Zukunft leben wollen. Diese Utopie wird alle fünf Jahre aktualisiert. Selbstverständlich lassen wir auch unsere Gesetze nicht mehr vom Komputern machen und durchsetzen. Wir haben sämtliche wichtigen Staatsfunktionen in eigener Hand."
18.5 "Dann habt ihr also aus euren Fehlern gelernt!", kommentierte ich. "Dann seid ihr auch sicher in Lage, eure übertriebene Furcht vor Entdeckung zu korrigieren. Ihr seid Teil des Universums, und wenn ihr keinen Weg findet, diese Verbundenheit mit Leben zu füllen, wird eure Furcht euch in euren Untergang führen. Ich bin ein wahrlich harmloser Besucher, und an mir könnt ihr üben, euch wieder in die Lebensgemeinschaft des Kosmos einzugliedern und von dessen Lebenskraft versorgt zu werden. Statt uns zu bekämpfen, könntet ihr mit uns zusammenarbeiten, und aus dieser Zusammenarbeit könnten für beide Parteien Vorteile erwachsen."
"An welche Vorteile denkst du?", fragte Kraka. Ich überlegte kurz und sagte: "Nun, ihr könntet uns vielleicht helfen, die große Leere bis zu einer der beiden Galaxien zu überwinden, und wir könnten euch helfen, eure geistige Isolation, die euch gefangenhält, zu überwinden."
"Das wäre für uns ein schlechtes Geschäft!", meine Kraka. "Wir geben euch schnellere Raumschiffstriebwerke, und ihr löst für uns ein psychisches Problem, das wir gar nicht gelöst haben wollen!"
Ich entgegnete: "Ihr habt einen Zukunftsrat. Welche Zukunft habt ihr euch denn konstruiert? Wie wollt ihr dauerhaft überleben, wenn ihr jeder anderen Lebensform aus dem Wege geht oder ihr den Krieg erklärt?"
Kraka beendete die Diskussion abrupt und verschwand ohne ein weiteres Wort. Es vergingen ereignislose Tage des Wartens, die nur von den regelmäßigen Essensübergaben unterbrochen wurden.
Dann, endlich, öffnete sich wieder die Tür, aber es war niemand da, der unsere Zelle betrat. Botro ging zur Tür, faßte an den Türrahmen und sagte nach einer Weile: "Wir können gehen!" Er betrat den Gang hinter der Tür und ich folgte ihm durch einen langen Gang, bis an einer der Seiten eine weitere Tür offenstand. Botro bog ohne zu zögern ab, ich hinterher. Er schien es plötzlich eilig zu haben, verfiel in einen Trab. Ich folgte ihm auf den Fuß. Botro wurde immer schneller; ich vermochte ihm kaum noch zu folgen. Schließlich nahm er mich auf seine starken Arme und rannte durch Gänge und offene Türen, bis wir mit einemmal in der Schleusenkammer der KLEINKUNST standen. Botro ließ mich herunter und sagte:
"Wir sind frei. Das Schiff startet in Kürze. Schon vernahm ich das Brausen anlaufender Maschinen. Wir gingen in die Zentrale, wo Silber uns erwartete und endlich erklärte, was es mit unserer Flucht auf sich hatte und wie sie ermöglicht wurde.
19 Silber erzählte, dass über denselben Weg, den die Nahrung vom Schiff bis zu meiner Zelle genommen habe, Naniten in die Gänge verbracht wurden, welche die Türschlösser manipulierten. Außerdem wurde jenes System lahmgelegt, das die KLEINKUNST überwachte und einen frühzeitigen Alarm hätte auslösen können. Die Aktion sei relativ leicht durchführbar gewesen, da die Raganer unsere Nanitentechnik nicht in ihr Kalkül einbezogen hätten. Wir hätten nun einen guten Vorsprung vor unseren Verfolgern, der das Gelingen unserer Flucht ermöglichen sollte.
Silber erzählte von der Rettungsaktion in demselben beiläufigen Ton, in dem er mich stets an die Termine der Mahlzeiten informierte. Erst auf meine Nachfrage hin bestätigte er, dass die KLEINKUNST mit Höchstwerten Richtung Andromeda beschleunigte und mehrmals nur knapp zerstörerischen Energiesalven planetarer Geschütze entkommen sei.
"Warum fliegen wir nach Andromeda?", wollte ich wissen. Botro antwortete, dass die Raganer ihre Verfolgung sicher nicht einstellen würden, wenn wir ihren Angstgegnern, der Maschinenwelt, der sie entflohen sind, entgegenfliegen würden, denn sie fürchten unseren Verrat. Da wir in die entgegengesetzte Richtung flögen, ließen die Raganer sicher bald von der Verfolgung ab.
"Also fliegen wir wieder dahin zurück, wo wir hergekommen sind?", warf ich kritisch ein.
"Ich schlage vor, einen großen Bogen um die BROTLOSE KUNST zu machen, damit die verfolgenden Raganer sie nicht entdecken. Andromeda ist augenblicklich das einzig mögliche Ziel."
Mir wurde schlecht angesichts der langen Zeit, die wir nun benötigen würden, um endlich ein Sonnensystem ansteuern und erforschen zu können. Mir graute vor Jahren, ja Jahrzehnten, einsamen Fluges in diesem kleinen Raumschiff.
"Sobald die Raganer die Verfolgung einstellen, kehren wir zur BROTLOSEN KUNST zurück, und ich verbringe dort den Rest meines Lebens", schlug ich verzweifelt vor. Ich war zutiefst enttäuscht von meinem Abenteuer, das mir die große Freiheit versprach, aber nun lebenslange Gefangenschaft brachte.
20 Botro erhob sich aus dem Kopilotensessel, kam einige Schritte auf uns zu, legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte leise: "Du musst die Ewigkeit lernen, Jonas. Die Zeit ist nicht mehr das, was sie früher einmal für dich war. Du lebst jetzt mit größeren Entfernungen und größeren Zeiträumen. Es geht für dich nicht mehr darum, 80 oder 90 Jahre mit körperlichen Handlungen auszufüllen; es geht nun darum, am Bewusstsein zu arbeiten, geistige Strukturen zu verändern, zu vervollkommnen, und damit die Zeit selbst zu manipulieren. Körperliche Handlungen ausführen können auch wir. Wir können das sogar besser als du. Du bist an Bord dieses Raumschiffes zuständig für jene Aktivitäten, zu denen wir Roboter nicht in der Lage sind. Bedenke, dass es physikalisch gesehen keine Zeit gibt; sie ist ein rein geistiges Produkt, eine Ordnungsmethode deines Geistes, vergleichbar einer Kartei, in der Ereignisse gesammelt und sortiert sind. Statt deiner Kartei neue Karten hinzuzufügen, wie du es gewohnt bist, kannst du nun beginnen, das Karteisystem selbst unter die Lupe zu nehmen und für größere, komplexere Aufgaben zu erweitern. Deine Zeitordnung mag für dein bisheriges Denken und Handeln genügt zu haben, aber hier gilt es, Zusammenhänge erkennbar und nutzbar zu machen, die durch das bisherige Ordnungssystem zur Unkenntlichkeit zerrissen worden waren. Erforsche die Wirkungen der Gegenwart auf die Vergangenheit. Mach, dass auch die rückwirkende Kausalverkettung durch dein Karteisystem abgebildet wird."
Ich verstand nur halb, was Botro sagte. "Das möchte ich auf Papier ausgedruckt haben", bat ich, "damit ich es mir mehrmals durchlesen kann. Ich denke, dass ich viel Zeit benötigen werde, um zu verstehen, was du gesagt hast." Botro lachte: " Und genau diese Zeit hast du nun. Was willst du mehr?"
In der Leere
21 Nach einer Woche Flug mit höchster Beschleunigung waren wir endlich der aktiven Ortung der Raganer entkommen. Ein paar Tage später verloren auch die empfindlichen Ortungsgeräte der KLEINKUNST die Verfolgerschiffe von den "Radar"-Schirmen. Nach einer Kursänderung wurde die Beschleunigung etwas gedrosselt, um die Maschinen zu schonen. Es begann eine lange Zeit des Wartens auf irgendein Ereignis. Botros Worte lagen in gedruckter Form auf meinem Schreibtisch. In diesem Text suchte ich nach einer Fortsetzung meiner Geschichte.
Das Schiff beschleunigte ohne Unterbrechung. Trotzdem war keinerlei Annäherung an Andromeda festzustellen. Die Galaxis war kaum größer zu sehen, als ein Daumennagel bei ausgestreckter Hand. Woche um Woche, Monat um Monat verging. Der gewohnte Tag- und Nachtrhythmus wurde immer unregelmäßiger. Ich schlief fünf oder sechs Stunden, frühstückte in aller Ruhe, las in den Büchern, die ich mir hatte übersetzen und in Buchform hatte bringen lassen, dachte nach, fertigte Notizen, diskutierte mit Silber und Botro, und wenn ich erschöpft war, legte ich mich einfach wieder für eine Stunde oder mehr hin, schrieb danach meine Träume auf, kochte mir ein Mahl in der Küche und so weiter. Mehr und mehr verlor ich mein Zeitgefühl. In mir verstärkte sich immer mehr das Gefühl, langsam aber sicher zu verwahrlosen, mich regelrecht aufzulösen. Ich glaubte, in einer schweren Depression gelandet zu sein, aus der es keinen Ausweg gab.
Eines morgens - Andromeda hatte immerhin bereits die Ausdehnung meiner drei mittleren beisammenliegenden Finger - saß ich wieder einmal am Nierentisch in der Zentrale und schlürfte einen heißen Kaffee, als mir die Idee in den Kopf schoss, dass mein vermeintlich zerrütteter geistiger Zustand genau das war, was Botro von mir gefordert hatte. Jedenfalls fast genau. Das innere Chaos war nichts anderes, als die Auflösung der alten "Kartei" mit der in nur eine Richtung fließenden Zeit; ich war nun in eine Phase getreten, in welcher es nichts mehr gab, als das Beziehungsnetz der Gegenwart. Und in dieses Netz musste ich nun jene rückwärts gerichtete Kausalkette hineinkonstruieren. Ich setze JETZT ein Ziel, und die Vergangenheit war mit einemmal so geordnet, dass sie zielgerichtet zu dieser Gegenwart hinführte.
Das eine Ziel - das zukünftige, war Andromeda. Aber es gab ein zweites Ziel: eine Vergangenheit, die logisch/kausal dort hin führte, wo ich JETZT war. Ich sah vor meinem geistigen Auge meine Erinnerungen als Bestandteile meines jetzigen Seins. Sie waren nicht länger Erinnerungen; sie waren gegenwärtige Bausteine meines jetzigen Seins, und mit den Werkzeugen des Vergessens und Lernens konnte ich das geistige Gewebe, das ich selbst war, verändern. Ja, ich hatte das neue Karteisystem gefunden oder sollte ich sagen: erfunden!
"Heureka!" rief ich. "Ich hab's!" Ich stand vom Sessel auf, ging zu Silber rüber, der im Pilotensitz saß, sich mir zuwandte und ohne mich zu Worte kommen zu lassen sagte: "Es gibt eine Ortung. Entfernung eine Lichtwoche."
Botro, der sich im Maschinenraum aufgehalten hatte, stürzte herein, schaute auf die Anzeigen: "Angleichmanöver ausführen! Sofort" rief er laut und wartete gar nicht erst ab, dass Silber etwas unternahm, sondern gab selbst die entsprechenden Befehle in den Steuerungskomputer ein. Dann wandte er sich mir zu und erklärte, dass er eine Kursänderung und ein starkes Bremsmanöver einprogrammiert habe. Die Auswertung der Ortung habe inzwischen ergeben, dass wir es mit einen Schwarm hunderter antriebslos im All treibender Raumschiffwracks zu tun haben.
22 Mir kamen indes Zweifel auf: "Wie wollen wir die Wracks erreichen? Wir haben seit Monaten mit Höchstwerten beschleunigt und benötigen zum Bremsen sicher die gleiche Zeit. Wir werden weit über das Ziel hinausschießen, müssen wenden und dann zu den Wracks zurückfliegen. Wieviele Monate werden wir vergeuden?"
Botro antwortete: "Die Wracks bewegen sich glücklicherweise mit hoher Geschwindigkeit Richtung Andromeda. Trotzdem werden wir viel Zeit verlieren, falls wir einen bestimmten Termin für das Erreichen Andromedas veranschlagt hätten. Haben wir jedoch nicht. Niemand erwartet uns in Andromeda, aber bedenke die große Chance, die uns die Wracks eröffnen. Wir können fremde Technik erforschen, Rohstoffe einsammeln, interessante Funde machen. Vielleicht finden wir Informationen über den Unfall oder den Krieg, der die Schiffe zerstört hat. Und das Wichtigste: Vielleicht finden wir in einem der Wracks ein kleines Schwarzes Loch, das wir für den Einbau in die BROTLOSE KUNST verwenden könnten."
Mir wurde mulmig zumute angesichts der Vorstellung, noch einmal zur BROTLOSEN KUNST zurückfliegen zu müssen. Wir würden durch diesen Umweg nicht mehr Monate, sondern insgesamt Jahre verlieren, Jahre im Leerraum zwischen zwei Galaxien.
23 Ich verbrachte viel Zeit mit Lesen, obwohl mir langsam dämmerte, dass es mir nicht gut tat, zu viel Zeit damit zu verbringen, fremde Gedanken und fremde Abenteuer in meinen Geist zu stopfen. Es erschwerte mein eigentliches Projekt, ganz aufzuwachen, Herr über meine eigenen geistigen Strukturen zu werden. Meine geistigen Strukturen drohten unter dem riesigen Input fremder Informationen vergraben zu werden. Schweren Herzens legte ich endlich die Bücher weg und wandte mich fortan ganz dem Schreiben zu. Im Schreiben, das wusste ich, kommen die eigenen Strukturen an die Oberfläche des Bewusstseins.
Plötzlich fiel mir ein, dass ich völlig vergessen hatte, Silber und Botro in mein "Heureka"-Erlebnis einzuweihen. Da ich ein recht ereignisarmes Leben führte, freute ich mich darauf, aus dieser "Einweihung" etwas Besonderes zu machen. Ein wenig geheimnisvoll tuend berief ich für eine bestimmte Uhrzeit eine "offizielle" Konferenz inclusive Lagebesprechung ein. Silber und Botro schauten mich - soweit es ihre Mimik erlaubte - fragend an, sagten jedoch nichts. Sie gingen weiter ihren eintönigen Arbeiten nach und harrten der Dinge.
24 Die Konferenz fand im Arbeitszimmer statt. Silber informierte anhand von Sternenkarten, die an eine Leinwand projiziert wurden, über unsere Position und Flugrichtung im Leerraum zwischen den Galaxien und über die neuesten Messergebnisse vom Raumschiffsfriedhof, den wir angesteuert hatten. Die Messungen, die beim relativ nahen Vorbeiflug gemacht werden konnten, hatten ergeben, dass es sich um mindestens 1.000 Wracks handelte, die sich in einem Gebiet von fünf Lichtjahren Ausdehnung befanden. Rückrechnungen ihrer Flugbahnen haben ergeben, dass die Katastrophe vor etwa 350 Jahren stattgefunden haben musste. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich sämtliche Schiffe im rechnerisch kleinsten Gebiet. Die Flugbahnen legen den Schluss nahe, dass die Flotte vor 350 Jahren in engem Pulk mit etwa achtfacher Lichtgeschwindigkeit Richtung Andromeda flog, einen unbekannten Gegenstand passierte, der inmitten der Flotte explodierte und die Schiffe in alle Richtungen auseindersprengte. Silber empfahl unsere vorsichtige Annäherung an diesen Punkt. Vielleicht könnte im Raum um diesen Punkt noch etwas gefunden werden, das Aufschluss über die Ursache der Explosion geben könnte.
"Ich kann mir nicht richtig vorstellen, wie eine Explosion die Schiffe vernichtet haben könnte; immerhin flogen sie mit achtfacher Lichtgeschwindigkeit. Die Explosion müsste mit einer wesentlich höheren Geschwindigkeit abgelaufen sein und dabei sehr viel Masse beschleunigt haben, die die Schiffe zerrissen hat. Wurde von den Trümmern der "Bombe" etwas gefunden? Diese Trümmer müssten noch weiter vom Explosionszentrum entfernt sein, als die Wracks," wandte ich ein.
Nun mischte sich Botro in das Gespräch ein: "Es wurde nichts gefunden, was einer etwaigen Bombe entsprochen haben könnte. Es gibt offenbar keine Trümmer außer denen der Raumschiffe. Wir stehen vor einem Rätsel."
25 Ich liebte diese Art von "Konferenzen", weil ich es liebte, in ein kontruktives Größeres eingebettet zu sein, Teil eines schöpferischen Systems zu sein. Dies traf zwar nicht die reale Situation, denn Roboter konnten, was das geistige Netz angeht, den Menschen nicht ersetzen, aber die Konferenzen und Gespräche vermochten mich ein wenig über meine Einsamkeit hinwegzutrösten und zu -täuschen.
Ich schenkte mir genüsslich einen Kaffee ein und nahm etwas von dem Gebäck. Mir fiel auf, dass ich gar nicht so sehr den Kaffee genoß, sondern viel mehr das Ritual dieses Gesprächs.
Silber sagte: "Es muss etwas zu finden sein am ehemaligen Ort der Explosion. Wahrscheinlich geben auch die Raumschiffstrümmer Auskunft über die Art und den Verlauf der Katastrophe. Da wir weit über das Ziel hinausgeschossen sind, werden wir allerdings zuerst auf einige Trümmer stoßen, ehe wir ins Epizentrum des Geschehens kommen.
"So soll es sein!", kommentierte ich. "Ich habe übrigens noch einen zweiten Tagesordnungspunkt, den ich mit euch besprechen möchte. Ich legte das Papier mit Botros Worten (20) auf den Tisch und las sie vor.
"Ich habe eine Antwort gefunden!" behauptete ich und erzählte von meinem Heureka-Erlebnis (21). Als ich geendet hatte, fiel mir ein, dass nicht nur die Vergangenheit Teil der Gegenwart war, sondern auch die Zukunft.
"Wenn ein kreativer Mensch die Zukunft sieht, ändert er aufgrund dessen, was er sieht, die eigenen Handlungen, und dieses Verändern ändert wiederum das Bild der Zukunft. Er sieht also nicht, was geschehen wird; er sieht nur Möglichkeiten - in der Gegenwart. Ein wirklich wacher Mensch lebt demnach vollkommen in der Gegenwart. Es gibt für ihn weder Vergangenheit noch Zukunft. Die Zukunft ist das Bild seiner Pläne. Die Außenwelt ist Spielgel seines Denkens und wenn er denkt, denkt er in seinem Denken."
26 "Du sprichst über Dinge, in die wir keinen Einblick haben. Wir Maschinenmenschen gelangen nicht in das Zentrum der Macht und des Lebens; uns bleibt allein der Rand der Existenz. Du bist an Bord dieses Schiffes allein wegen dieser uns unzugänglichen Sphäre, aus der der Sinn all unserer Unternehmungen erwächst. Ich hoffe, du verstehst diese Sphäre zu schützen und zu erweitern. Wir werden dir dabei keine große Hilfe sein können", sagte Botro. Er stand auf und wandte sich wieder den Kontrollen des Schiffes zu.
Ich wandte mich an Silber, der noch am Tisch saß, vor dem ich meinen Gedanken weiterentwickelte. "Botro hat recht. Wie schütze und erweitere ich diese Sphäre? - Ich denke, der Anfang wurde gemacht, als ich die Gefahren des Lesens erkannte. Lesen kann zur Bildung beitragen, aber es verdeckt auch die inneren geistigen Strukturen. Man wird Oberfläche, oberflächlich, wenn man zu viel liest und zu wenig vom Gelesenen verdaut oder es falsch verdaut. In jeder Information, die von außen kommt, steckt ein Keim der Entfremdung vom wahren Kern des Menschen, der Seele. Nur die gute Verbindung zur Seele lässt uns die Wahrheit erkennen, wenn sie uns - auch in der Außenwelt - über den Weg läuft. Wer von seiner Seele abgeschnitten ist, ist Oberfläche, und er ist leichte Beute der Manipulation. Ihm offenbart das Bild der Welt nicht mehr den wahren Geist hinter dem Bild, im Gegenteil: er wird von ihm mehr und mehr getäuscht, bis er sich völlig verloren hat - bis er, seiner eigenen Seele verlustig gegangen, zum Roboter in Menschenfleisch wird." Ohne Silbers Reaktion abzuwarten, erhob ich mich vom Sessel und ging in meine Kabine, wo ich mich auf mein Bett legte, die Augen schloss und der Bilder harrte, die sich vor meinem inneren Auge auftun würden.
27 Ich sah, dass es umso leichter ist, die Ergebnisse seiner Magie zu erleben, je weiter man von anderen Lebewesen entfernt ist. Mein Aufenthalt im Leerraum und die Tatsache, dass ich das einzige Lebewesen an Bord dieses Schiffes bin, hat einen Sinn. Und es gibt der Raumschiffe im Universum so unglaublich viele - weil sie tot sind, weil sie in Massenproduktion hergestellt werden. Der Kapitalismus erzeugt Massen und dadurch Wertloses, selbst wenn es sich um Raumschiffe handelt. Mir persönlich waren Raumschiffe sehr viel wert; aber die Schiffe waren sich selbst nichts wert; es gab sie im Überfluss - es gab hunderte unbewohnter Planeten und Monde, auf denen automatische Fabriken jede Sekunde Dutzende Schiffe produzierten, und sie alle hatten keine eigenen Ziele, keinen Sinn aus sich selbst heraus. Erst als Hülle eines raumtüchtigen Menschen erhielten sie Sinn und Bestimmung. Ohne menschliche Gäste in ihren Bäuchen waren sie nichts. Das wussten sie, und deshalb gierten ein jedes Schiff nach einer Menschenseele ihn ihrem Innern.
Auf der Erde war ich nichts; meine Schöpferkraft war allen egal; niemand vermochte sie zu erkennen. Ich war wertlos, weil ich keinem Sklaventreiber Geld einbringen konnte. Ich hatte nur meine Wachheit, meine Wahrheit, meine Ethik, meinen Glauben - und ein paar Schüler, von deren Spenden ich weit unter dem offiziellen Existenzminimum lebte. Ich war bestenfalls geduldet, mehr nicht. Hier ist es genau anders herum. Aus einem unbedeutenden Staubkorn wurde ein großes, lebendiges Universum. Kein Wunder, dass die Sklaventreiber meine Philosophie mit jeder Faser ihres Seins verachteten, die Sklaventreiber, sich sich derart intensiv mit der Kunst des Sklaventreibens beschäftigten, dass sie selbst zu Sklaven wurden und nun als Gefangene ihrer untergehenden Welt dahinvegetieren. Ich lebe nun in meiner eigenen Welt, und wenn ich hier noch länger Sklaventreiber ihr böses Werk verrichten sehen, werde ich sie stoppen mit meiner Zauberkraft, einer Energie, die sie selbst verloren haben, weil sie sie zu lange verheimlichten und bekämpften. Jeder Taler, den ihr an euch rafft, schwächt euch mehr. So sei es.
Ich erwachte aus meinem lebendigen Traum, ging zurück auf die Brücke und setzte mich an die Kontrollen des Schiffes. Wir hatten den Raumschiffsfriedhof erreicht.
Der Schiffsfriedhof
28 Da die Explosion, die die Schiffe auseinandergetrieben hatte, lange Zeit zurück lag, waren die Trümmer sehr weit im Leerraum verstreut. Die Ortung konnte nur die größeren Trümmer anzeigen. Sie basierte nicht etwa auf dem Radarprinzip, das wäre viel zu langsam für diese riesigen Distanzen, sondern auf dem Gravitationsprinzip. Gravitation ist bekanntlich unendlich schnell, was die irdische Wissenschaft jedoch, weil sie an Einsteins Relativitätstheorie festhät, nicht akzeptieren will und aus ihr deshalb eine Raumkrümmung gemacht hat. Wir wissen jedoch, dass man die Gravitation auch anders interpretieren und folglich auch anders nutzen kann, zum Beispiel, um in Nullzeit Massenansammlungen in großen Entfernungen zu orten. Als die Messinstrumente die Trümmer kartierten, bemerkte das Bordhirn der KLEINKUNST eine seltsame Anomalie der Gravitationskonstante genau an dem Ort, an dem die Katastrophe über die Flotte gekommen sein musste. Die Konstante war im sogenannten Epizentrum viel zu klein. Materie, die sich in ihrem Einflussbereich aufhielt, hatte eine zu geringe Anziehungskraft und wurde folglich als wesentlich kleiner angezeigt, als die optische Ortung, die beim Vorbeiflug vorgenommen worden war, ergeben hatte.
"Was bedeutet diese Missortung?" wollte ich wissen. Das Bordhirn erklärte über seinen Avatar Silber, dass es nur eine Erklärung gab: "Eine Materiequelle! Über ein Schwarzes Loch verschwindet Materie in einem Gravitationsstrudel und taucht in einem anderen Universum wieder auf. Sie erscheint in diesem Universum als Protomaterie sozusagen aus dem Nichts, und da sich ihre Teilchen gegenseitig stark abstoßen - negative Gravitaion -, explodiert diese Wolke mit anfangs Millionenfacher Lichtgeschwindigkeit. Sie riss die vorbeifligende Flotte auseinander, bis ihre eigene Fluchtgeschwindigkeit so weit reduziert war, dass sie die Lichtgeschwindigkeit unterschritt und zu Wasserstoff kondensierte. Die reduzierte Gravitationskonstante ist nur noch ein Nachhall des Geschehens. Hätte die Flotte nicht etwas Energie aus dieser Wolke abgezogen, wäre an dieser Stelle nichts mehr von diesem Kontakt zweier Universen nachweisbar gewesen."
"Es gibt noch andere Universen?"
"Aber ja! Es gibt ihrer so viele wie es bewusste Lebewesen gibt. Jedes bewusste Wesen, jede Seele, ist ein Universum. Was du hier erlebst, ist nichts als eine abweichende Wahrnehmung deiner Sinne aufgrund der Abwesenheit anderer bewusster Wesen in diesem Gebiet. Normalerweise wird die Macht deines Geistes von der Macht anderer bewusster Wesen in deiner Umgebung neutralisiert, sodass als Resultierende der Materialiamus eine Chance hat, sich zu etablieren. Hier im Leeraum gibt es keine anderen Seelen, die deine geistige Macht neutralisieren könnte. Deshalb hast du den Machteinbruch eines einzigen fernen Wesens in deine Sphäre nun als Materiequelle erlebt. Hättest du ausreichende Erfahrung auf dem Gebiet der Magie, könntest du aus dem Energiefeld der Materiequelle einen Avatar des dich kontaktierenden Wesens interpretieren. Du bist hier, um diese Kunst zu erlernen. Ich konnte dich nur an diesen Ort bringen, aber du, Jonas, musst nun den Schritt selbst gehen, den wir nicht gehen können."
Mir ging diese Einweihung etwas zu schnell. "Schauen wir uns erst einmal die Schiffswracks an!" war das Einzige, was ich noch zu sagen vermochte. Mir war ganz schwindlig; ich musste das Gehörte und Erlebte in Ruhe verarbeiten. Ich erhob mich vom Sitz und schlich mit weichen Knien in meine Kabine.
29 Die KLEINKUNST hatte bereits einige kleine Trümer passiert; endlich hatte sie sich einem noch leidlich erhaltenen Wrack angenähert. Das Schiff war zylinderförmig, war etwa 500 Meter lang und 80 Meter dick. Es war an enem dutzend Stellen von kleinen Trümmern anderer geborstener Schiffe zum Teil auf ganzer Breite durchschlagen worden. Das größte Loch betrug mehr als 15 Meter. Der hintere Teil, der das Triebwerk getragen hatte, fehlte völlig. Das Länge des Schiff musste ursprünglich mindestens 900 Meter betragen haben. Wir näherten uns langsam dieser Abbruchkante. Deutlich war die Hüllenkontruktion zu erkennen; abgerissene Rohre regten bis zu 20 Meter über die Kante hinaus. Das bordhirn diagnostizierte eine Explosion des Triebwerkes, die den hinteren Teil des Schiffes abgerissen hatte. Große Trümmerteile waren ins Innere des Schiffes gesprengt und hatten dem Schiff den Rest gegeben.
Ich legte den Seron, den Raumanzug, an, schleuste mich aus und schwebte langsam auf das Heck des Wracks zu. Botro flog neben mir; er brauchte keinen Raumanzug. Ein Schwarm hunderter ferngesteuerter Leuchtkugeln, sowie und Kamera- und Messsonden begleitete uns. Vorsichtig bewegten wir uns durch die Kanäle, die die Explosionstrümmer durch die Schiffswände geschlagen hatten. Nach etwa 200 Metern wurde diese zu eng; Botro musste Schweißroboter anfordern, die unseren weiteren Weg freischweißen mussten. Ich wurde mehrmals zu langen Wartezeiten, in denen ich die Vorzüge de Sarons kennenlernen konnte, gezwungen.
Der Saron pumpte sich mit Luft voll, bis er die kugelförmiger Ballon war, in dem ich mich frei bewegen konnte. Ein kleiner Gravitator sorgte für Schwerkraft, ich konnte den Bildschirm, der ursprünglich als Sichtfenster des Helmes gedient hatte, abnehmen und an jede andere beliebige Stelle im Innern der Kugel bfestigen, und er zeigte mir detaiilliert, was sich hinter ihm in der Außenwelt befand. Ich konnte essen und trinken, den Körper reinigen und mich in einem Schlafsack verkriechen. Der soron hatte sich zu einem Kleinraumschiff mit zwei Metern Durchmesser aufgepumpt.
Nach dem Essen und einem kleinen Nickerchen hatten die Schweißroboter weitere 100 Meter Richtung Kommandozentrale freigelegt. Der Serun verkleinerte sich nun wieder, bildete Arme und Beine aus, in die ich meine Extremitäten steckte. Innerhalb weniger Minuten hatte sich das Kleinraumschiff wieder zu meinem Raumanzug rückgewandelt. Endlich kamen wir in fast unzerstörte Bereiche des Wracks. Wir schwebten durch lange luftleere Gänge; ehemalige Brandherde waren eindeutig gelöscht worden. Es hatte also vor 350 Jahren Versuche gegeben, den vorderen weniger beschädigten Teil des Raumschiffes zu retten.
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