Kritische
Bemerkungen zur Evolutionstheorie
Teil 3
FAZ vom 19.3.2002: Laßt uns die Briten doch noch ein wenig verbessern - Der ungeklärte Kausalitätsbegriff in den Biowissenschaften: Über die wissenschaftsgeschichtliche und politische Herkunft eines blinden Flecks / von Thomas Weber
(Dieser Text ist der Schlußteil eines längeren Artikels der FAZ.)
Der Neid des Faches (Biologie) auf die Physik ist leider ein zeitloses Thema in der Biologie. Dieser Neid drückt sich häufig auf eine sehr naive Weise aus - in endlosen und unauflösbaren Diskussionen, ob exakte Vorhersagbarkeit ein Merkmal einer wahren Naturwissenschaft sei oder ob historische Wissenschaften wie die Evolutionsbiologie überhaupt die Bezeichnung "Wissenschaft" verdienen. Fishers (1) Theorie ist hochmathematisch und erlaubt exakte Vorhersagen über die Änderung von Genhäufigkeiten im Laufe der Evolution. Doch in einem Punkt ist dieser Neid auf die Physik möglicherweise gerechtfertigt und auch Fishers Theorie ist dabei keine Ausnahme. Denn in der Physik sind die Komponenten von Theorien und Erklärungsmodellen meist eindeutig und klar definiert und meist leicht von einer Theorie auf eine andere übertragbar. In der Biologie sieht es jedoch völlig anders aus. Was ist eine Population? Alle Blattläuse auf einem Blatt, alle auf einem Ast, alle auf einem Baum oder alle Läuse eines Waldes? Und wäre in diesem Zusammenhang ein Wald? Was ist ein biologisches Merkmal, das unabhängig von anderen Merkmalen von der natürlichen Auslese geformt wird? Was ist ein Gen?
Die theoretische
Biologie kann auf solche Fragen viel zu häufig keine eindeutigen und
allgemeingültigen Antworten geben und dies kompromittiert die Aussagekraft
vieler biologischen Theorien. Manche Biologen wie etwa der an der Yale University
tätige Günter Wagner argumentieren, daß Erklärungsmodelle
in den Biowissenschaften nicht objektive Beschreibungen der Natur mit Ausschließlichkeitsanspruch
sind, sondern daß sie auf eine grundlegende Weise interessegeleitet
sind. Dies ist eine erste wichtige Erkenntnis, die helfen kann, die Schwächen
biologischer Theorien und Beschreibungen zu überwinden. Die Komponenten
eines Modells und ihre Eigenschaften ergeben sich aus den biologischen Phänomenen,
die erklärt werden sollen. Jedes Modell eines Phänomens bildet ein
eigenes Zeichensystem, in dem die Bedeutung jeder Komponente durch ihre Beziehung
zu den anderen Komponenten bestimmt wird. Verschiedene Erklärungsinteressen
nutzen daher verschiedene Modelle, die ihren Komponenten jeweils verschiedene
Eigenschaften zuordnen. Ein evolutionäres Gen, von dem etwa Richard Dawkins
spricht, hat völlig andere Eigenschaften als ein molekulares Gen, an
dem James Watson interessiert ist. Evolutionsbiologen interessieren sich dafür,
wie und warum Stücke von DNS mit unterschiedlichem Erfolg an nachfolgende
Generationen weitergegeben werden. Molekularbiologen hingegen wollen wissen,
wie ein Gen an der Ausprägung eines Merkmales teilnimmt. Diese beiden
Erklärungsstrategien sind nicht ohne weiteres miteinander vereinbar,
unter anderem weil die Wirkung molekularer Gene ungemein kontextabhängig
ist.
Fishers Theorie der Genetik ist auch in diesem Sinne wie alle biologischen
Theorien interessegeleitet. Diese Erkenntnisinteressen sind ein integraler
Bestandteil aller biologischer Erklärungsmodelle. Fishers Theorie
ist aber in einem besonderen Maße politisch "verunreinigt",
da sein Erkenntnisinteresse auf sozialen und politischen Urteilen beruht.
Spielen solche Kontaminationen eine Rolle in der modernen Humangenetik? Fishers
Erbe ist noch immer quicklebendig, und die Dominanz seiner Theorie hat problematische
Folgen, wenn diese auch nichts mehr mit Eugenik zu tun haben. Wechselwirkungen
zwischen Genen werden in Fishers Theorie eine nebensächliche Rolle zugestanden,
da sie für ihn zu unerwünschten Komplikationen im Ausleseprozeß
führten. Die zeitgenössischen Suche von Krankheitsgenen kann deswegen
sehr oft zum falschen Ziel führen, wenn solche genetischen Wechselwirkungen
vernachlässigt oder bewußt übersehen werden. Es können
daher scheinbar problemlos immer wieder Gene für Schizophrenie, manische
Depression oder Kriminalität gefunden werden, da eigentlich kein einziges
Gen in Isolation solche Merkmale mitbestimmt. Über eine Theorie der Zurechung
von Wirkungen auf elementare Ursachen verfügt die Biologie in vielen
solcher Fragen nicht.
Es wäre völlig übertrieben und selber ein Fall von falscher
Zurechnung, Fishers Erbe für alle Probleme der zeitgenössischen
Humangenetik verantwortlich zu machen. Wichtig zu sehen und aus seinen
eugenischen Phantasien zu lernen ist aber, welche entscheidende, nicht nur
erkenntnistheoretische, sondern auch politische und moralische Bedeutung den
Grundbegriffen biologischen Forschens zukommt. Das Kausalitätsdenken
in der Genetik ist alles andere als wertneutral. Welche Ursachen als wichtig
gelten, hängt davon ab, welche Fragen gestellt werden und wohin die Aufmerksamkeit
der Wissenschaftler gerichtet ist. Und dies ist eine Wahl, für die die
es keine objektiven, wertfreien Maßstäbe gibt, so die niederländische
Bioethikerin Cor van der Weele. Sobald eine Verbindung eines Merkmals mit
einem Gen hergestellt werden kann, wird heutzutage meist das Gen sofort zum
Verursacher erklärt - als könnten biologische Ursachen sauber und
schön in Ketten angeordnet werden, bei denen zumeist ein Gen am Anfang
steht.
Gene als erste
Ursachen zu betrachten ist aber zuallererst eine Entscheidung, biologische
Systeme auf diese Weise zu analysieren, nicht eine objektive Beobachtung von
unabänderlichen Tatsachen. Der Philosoph Alan Garfinkel illustriert dies
mit dem Beispiel rothaariger Menschen, die in einer hypothetischen Gesellschaft
einer besonderen Steuer unterworfen sind. Die resultierende verzweifelte soziale
Lage der Rothaarigen hat für einen naiven Beobachter eine genetische
Ursache. Doch die soziale Lage der Rothaarigen ist natürlich die Folge
des diskriminierenden sozialen Mechanismus einer selektiven Besteuerung. Ein
genetischer Unterschied bekommt erst durch soziale Praktiken eine Bedeutung.
Dieses in diesem Beispiel so offensichtliche und absurde Erklärungsmuster
ist aber auch an weniger sichtbaren Stellen ganz alltäglich in der Genetik.
Ein Umwelteinfluß wie eine Temperaturänderung kann eine biochemische
Signalkaskade auslösen, an deren Ende das Ein- oder Ausschalten eines
Gens steht. Meist wird jedoch das Gen als die Ursache aller darauf folgenden
Vorgänge betrachtet und alle anderen Faktoren nur als die Aktivität
des Gens ermöglichende Bedingungen beschrieben. In der molekularen Entwicklungsbiologie
wimmelt es daher nur so von sogenannten "Master"-Kontrollgenen,
die bei einem genaueren Hinsehen jedoch selbst einer komplexen, nicht notwendigerweise
genetischen Steuerung unterliegen.
Anders als bei Ronald Fisher stehen hier wahrscheinlich nur selten moralische
Vorurteile hinter den Erklärungsmustern: nicht oder nur selten hinterfragte
disziplinäre Traditionen oder verfügbare Methoden und Instrumente
sind wohl eine angemessenere Erklärung. Statt Ideologie wäre also
erkenntnistheoretische Naivität oder das Desinteresse an wissenschaftstheoretischer
Reflexion als eine Quelle biologischer Kurzschlüsse zu bezeichnen. Die
Entscheidung dafür, Gene und nicht andere Faktoren als wichtigste Ursachen
von Merkmalen oder Erkrankungen zu betrachten, ist von enormer Bedeutung in
einer Vielzahl von sozialen Kontexten, da moralische Probleme auf diese Weise
vorstrukturiert werden. Die Hoffnung, daß moralische und wissenschaftliche,
erkenntnistheoretische Fragen trennbar sind, ist eine Illusion.
1) Ronald
A. Fisher: "The Genetical Theorie of Natural Selevtion"