Wissenschaft2

Physik - Modell oder Realität?

Diskussion mit einem Physiker
von Hans-Joachim Heyer
geschr. ab 1.7.08

(1.7.) Sehr geehrter Herr xxx,

.... Mich interessiert zudem, warum Sie meine Kritik am Libet-Artikel nicht übernommen haben. Haben Sie etwas Inhaltliches an ihr auszusetzen gehabt?

viele Grüße
Hans-Joachim Heyer

(2.7.) Sehr geehrter Herr Heyer,

vielen Dank für den Hinweis auf die Urheberrechtsverletzung. Ich habe den Fehler mit der Autorenschaft korrigiert (entschuldigung) und möchte Herrn xxxx benachrichtigen. Können Sie mir seine e-Mail-Adresse geben? Ich bekam disen Artikel von einem Bekannten zugesandt und wusste nicht, dass er aus der xxx ist. Das wäre aber, wie ich jetzt weiß, leicht heraus zu finden gewesen.

Wir suchten damals für unsere Website nach Beiträgen, die im Rahmen der Lehrplaneinheit "Freiheit und Determination" von Interesse sein könnten. Das Libet-Experiment ist in diesem Zusammenhang besonders beachtenswert und diskussionswürdig. Ich lade Sie aber auch herzlich ein, den Aufsatz des Philosophen Schmidt-Dalomon zu lesen (von dem ich die Erlaubnis zur Veröffentlichung habe). Sie trifft im Wesentlichen meine Meinung zu diesem Thema. Andere Aufsätze geben andere Meinungen wider, was ja auch gut so ist.

Ihr Kommentar war mir gar nicht bekannt. Ich habe ihn mittlerweile gelesen und stimme (pardon) nicht mit Ihrer Meinung überein. Ich muss mich kurz fassen, da ich gerade etwas wenig Zeit habe.

Also: Eigentlich bin ich ein freiheitsliebender Mensch und habe mich auch oft dafür eingesetzt. Aber ich bin auch Physiker. Und als solcher weiß ich, dass Naturphänomene deterministisch ablaufen - oder eben rein zufällig, wie Sie richtig schreiben. Aber in der makroskopischen Welt geht Heisenbergs Unshärfe nun mal gegen 0, so dass dort Determinismus herrscht. Wenn nun aber die Prozesse der Physik deterministisch ablaufen, dann tun es auch die der Chemie, die ja auf den Wechselwirkungen und den Teilchen der Physik beruht. Und wenn die Chemie deterministisch ist, das gilt ja auch für die Biologie, die eine sehr komplexe Ansammlung chemischer Prozesse ist (Variation und Selektion der Gene usw.) Das Gehirn nun begreife ich - und hier mögen Sie anderer Meinung sein - als einen biochemischen Computer, der deterministisch arbeitet und das auch muss, weil aufgrund seiner Komplexität jedes zufällige Moment zu ernsthaften Funktionsstörungen führen würde. Das wäre sicherlich nicht das, was wir unter Freiheit verstehen. Libets Experiment ergänzt nur diese mirkroskopische Sicht, die Physiker von der Welt haben, um ein nachvollziehbares Experiment im makroskopischen Bereich des Verhaltens. Daher die besondere Bedeutung.

Sie schrieben:
Das erinnert mich an den Besoffenen, der seinen verlorenen Autoschlüssel unter der Staßenlaterne sucht, obwohl er weiß, daß er ihn anderswo verloren hat: "Weil ich nur dort suchen kann, wo Licht ist!"

Das ist eben nicht richtig! Naturwissenschaftler suchen nicht nur "unter der Laterne", sondern überall: In der kleinsten Welt der Elementateilen ebenso wie in den größten Welten der Galaxien etwa. Und über dort werden Experimente gemacht, die stehts die bereits erkannten Naturgesetze erneut auf den Prüfstein setzen. Das Ergebnis (in Ihrem Bild): Es gibt keinen verlorenen Autoschlüssel. Für eine andere Art des Verständnisses von Determinismus gibt es keine Evidenz. Auch Sie haben keine! Sie behaupten einfach nur. Sie sprechen von der "Seele" als etwas von der materiellen Struktur des Gehirns Unabhängigem. Wie kommen Sie darauf? Gewohnheit in unserem Kulturkreis - nichts weiter! Alles, wirklich alles, deutet darauf hin, dass "Seele" die Funktionalität des Gehirns ist. Um mit Bertrand Russell zu sprechen: Bereits kleinere Stoffwechselstörungen, wie z.B. Jodmangel, führen zu dramatischen Persönlichkeitsveränderungen. Aus intelligenten Menschen werden Idioten, aus friedfertigen aggressive. Und dann soll "Seele" den Totalverlust seiner materiellen Basis, dem Gehirn überdauern?

So weit für heute. Mit freundlichen Grüßen,

xxx

(3.7.) Sehr geehrter Herr xxx,

Zu Ihrer Argumentation in Sachen Freiheit und Determination:

Ich kenne Ihre Sichtweise sozusagen aus dem Effeff. Sie beschreibt das szientistische Weltmodell. Scientismus ist die naturwissenschaftliche Interpretation der Welt ohne Kenntnis der Möglichkeiten und Grenzen der nat.-wiss. Methodik. Das von Ihnen gebrauchte Modell ist in vielen Teilen schlüssig, aber nicht in allen. Es gibt eine Anomalie im Modell, die dem Wahrheitsucher den Weg weisen kann.

Selbst im nat.-wiss. Modell ist akzeptiert, dass sich die Welt in unserer Sehrinde im Gehirn abbildet. Was Sie als Welt erleben, also die gesamte Physik, die Anfassbarkeit von Gegenständen usw., spielt sich in Ihrer Sehrinde ab. Sie laufen sozusagen in Ihrer Sehrinde herum. Dass sie zugleich noch in einer realen Welt (mit realem Gehirn) herumlaufen, ist Spekulation. Sie gehen davon aus, ohne es beweisen zu können. Sie glauben es. Es ist Ihre Religion. Sie glauben, dass die Physik, die in Ihrer Sehrinde stattfindet, auch in der realen Welt stattfindet. Sie glauben Realität und Abbildung seien annähernd identisch.

Die physikalische Welt ist Produkt der unbewussten Interpretation Ihres Gehirns (Sehrinde), nicht Ursache des Gehirns samt Sehrinde. Es ist reine Spekulation, zu glauben, das Gehirnprodukt "Welt" sei (zumindest annähernd) identisch mit der realen Welt, weil im Falle eines Auseinanderklaffens von Interpretation und Realität die Menschheit längst ausgestorben wäre. Fakt ist: Wir wissen nichts von einer realen Welt; wir haben stets nur unsere Interpretationen. Wir wissen absolut nichts von einer Ähnlichkeit oder Deckungsgleichheit, denn wir haben keine Theorie über die Genauigkeit unserer physikalischen Theorien.

Willensfreiheit kann mit der nat.-wis. Methodik nicht beschrieben werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sie nicht gibt. WIR als Subjekte sind willensfrei, nicht die phys. Interpretation in der Sehrinde, die Objekte. Der Interpret (Subjekt) ist frei, nicht die Interpretation (Objekt). Falls Sie einer der wenigen Glücklichen werden sollten, die den Sprung vom eigenen Objekt-Sein zum Subjekt-Sein schaffen, werden Sie verstehen, dass Sie Ihre Selbst- und Weltinterpretation bewusst ändern und damit eine andere Welt erleben können. Und das, ohne die Gesetze der Physik zu verletzen: Falls es Ihnen einmal gelingen sollte, einen Akt wirklich freien Willens zu tätigen, werden Sie sehen, dass dieser Wille in der Welt als in Zufall plus Notwendigkeit zerfallen erscheint. Was Sie gewollt haben, erscheint dem Scientisten als zufällig oder determiniert.

Ich kann Ihnen diese Dinge natürlich nicht innerhalb des Physikmodells beweisen, denn es handelt sich hier um ein größeres Modell der Philosophie.

viele Grüße
Hans-Joachim Heyer

(8.7.) Sehr geehrter Herr Heyer,

Sie schrieben:

> Ich kenne Ihre Sichtweise sozusagen aus dem Effeff. Sie beschreibt das szientistische Weltmodell.
<
Das ist kein szientistische Weltmodell, sondern ein naturwissenschaftliches. Und das muss immerhin den Ansprüchen genügen

* ein Minimum an Axiomen vorauszusetzen
* Schlussfolgerungen streng logisch (mathematisch) zu ziehen
* und in sich widerspruchsfrei, insbesondere frei von Widersprüchen zu experimentellen Ergebnissen zu sein

Der Vorwurf des Scientismus wird eigentlich immer nur dann erhoben, wenn versucht wird, atavistische Weltmodelle vor der Abrissbirne naturwissenschaftlicher Evidenz zu retten. Es wird dann immer verheißungsvoll gemunkelt, da gäbe es noch etwas zwischen Himmel und Erde, von dem wir nichts wüssten. Und das würde schon irgendwie unseren tradierten Vorstellungen Recht geben.

> Selbst im nat.-wiss. Modell ist akzeptiert, dass sich die Welt in unserer Sehrinde im Gehirn abbildet.
<
Wenn dem nicht so wäre, dann bräuchten wir die Physik ja gar nicht. Würde unser Gehirn mittels der Sinneseindrücke die Welt real erfassen, dann wären wir am Ziel angekommen. Dass Sinneseindrücken oft fehlerhaft sind und daher in Frage gestellt werden müssen, das lernt ein Student in der ersten Physikvorlesung. In meiner 1. Vorlesung wurden wir mit dem bekannten Phänmen der "farbigen Schatten" konfrontiert. Durch eine besondere Versuchusanordnung kann man Schatten erzeugen, die nicht schwarz, sondern grün, rot oder blau aussehen können. Das kann ja irgenwie nicht sein: Schatten, die Abwesenheit von Licht, kann ja wohl keine verschiedenen Farben haben. Nun, das Ganze ist eine Täuschung, ein Spuk, den uns unser Gehirn vormacht. Und darauf kommt es an: Man darf nicht glauben, was man wahrnimmt. Aber während Sie an diesem Punkt aufgeben und sich in tradierte Vorstellungen flüchten, lernt der Physikstudent in der 2. Vorlesung, was man dagegen tun kann. Das führt auf den Begriff des Messens oder Experimentierens - eine wesentlichen Quelle der Erkenntnis. Man kann z.B. die farbigen Schatten fotografieren und wird feststellen, dass sie dann nicht farbig aussehen. Und man kann mit Prismen eine Frequenz- (=Farb-)Analyse vornehmen, die zeigt, dass die Schatten nicht unterschiedliche Farben haben können. Immer nimmt unser Gehirn die Resultate wahr: Aber mal ist es ein Farbeindruck, ein anderes Mal eine frequenz- (farb-) abhängige Ablenkung eines Lichtstrahls, ein anderes Mal ein Zeigerausschlag. Bei Täuschungen widersprechen sich diese Wahrnehmungen. Messungen führen uns zu dem tatsächlichen Sachverhalt.
In der heutigen Physik spielen direkte Sinneswahrnehmungen ohnehin keine Rolle mehr. Es wird nur noch gemessen und mit Apperaten "beobachtet": Mikroskope (und Beschleunigeranlagen) für den Bereich des Kleinen, Fernrohre, Teleskope, ja Sateliten mit Messinstrumenten zur Erforschung des Großen. Und die Fülle der Erkenntnisse über unser Sein kann sich sehen lassen: Entstehung des Weltalls durch den Urknall, Entstehung der Bausteine des Lebens durch die Chemie geklärt, Entstehung des Lebens durch die Evolution. Und was haben die Leute erreicht, die das Wort "Scientismus" im Munde führen?

Mit freundlichen Grüßen,

xxx

(9.7.) Sehr geehrter Herr xxx,

zur "naturwissenschaftlichen Evidenz" möchte ich anmerken, dass nicht nur diese farbigen Schatten Differenzen zwischen Erscheinungswelt (Modell) und Realität darstellen, sondern auch zB die Farben. Mein Professor, bei dem ich studierte, meinte, die Farben gehören zum Modell (das sich das Gehirn von der Welt macht), wohingegen die diversen elektromagnetischen Wellenlängen (physikalische) Realität seien. Die Physik sei die Basis, auf welcher alle Naturwissenschaften und Philosophien aufbauen...

Ich konterte mit der Behauptung, die Physik sei nicht Basis, sondern ebenfalls Modell - ein mentales Modell. Die Physik sei ein intellektuelles Produkt. Die Formeln, mit denen wir die Naturgesetze nachmodellieren, seien Interpretationen, die unser "Gehirn" anstelle. Physik sei die Bewusstmachung der Strukturen, nach welchen wir Subjekte meist unbewusst die vermeintliche Außenwelt interpretieren.

Demnach seien nicht nur farbige Schatten, nicht nur die Farben, sondern auch die el.-mag. Wellen Interpretation, die unser Geist vornimmt. Physik ist nicht Basis, sondern Modell. Ebenso wie unsere erlebte Alltagswelt mit ihren Farben Modell sei.

Der Professor (Prof. Dr. Thomas Metzinger) hat nie widersprochen, hat jedoch trotzdem meine Einwände stets ignoriert und hat seine scientistische Mission, für die er bezahlt wird, unbeirrt weitergeführt.

Sie sehen also: Nicht ich gab auf, sondern Metzinger - und Sie. Metzinger und Sie flüchten sich in tradierte Vorstellungen, nicht ich. Was ich schreibe, ist zwar nicht neu, aber tabu! Die Wirtschaft profitiert von Metzingers Philosophie, nicht von meiner.

Das Messen, zB das Fotografieren der farbigen Schatten, erzeugt bloß ein anderes Modell, welches nach anderen Regeln abbildet. In diesem Fall führen Sie das Alltagsmodell, wie es uns unsere Sehrinde liefert, in das abstraktere nat.-wiss. Physikmodell über.

Das Physikmodell unterscheidet sich vom "Alltagsmodell" durch größere Schärfe in den Details, (was uns ermöglicht, Technik zu entwickeln) und durch fehlende Sinnhaftigkeit, was unser Bewusstsein (Subjektsein) reduziert. Im Physikmodell gibt es weder Bedeutung, noch Sinn, noch Zweck, noch Bewusstsein, aber es ermöglicht Maschinen, die irgendwann einmal womöglich so etwas wie Bewusstsein simulieren können (Bestehen des Touringtests). Dies ist übrigens Metzingers Anliegen. Es arbeitet an der Überflüssigmachung des Menschen.

Da wir vom Alltagsmodell auf das Physikmodell umzusteigen im Begriff sind, spielen "direkte" Sinneseindrücke immer weniger eine Rolle. (In Wahrheit gibt es keine direkten Sinneseindrücke; sie sind bereits Interpretation). Teleskope, Mikroskope, Messapparate liefern uns nicht die Realität - auch keine Annäherung, sondern bloß ein (technisch verwertbares) anderes Modell, eines, mit dem sich mehr Geld verdienen und Macht gewinnen lässt.

Das Physikmodell ist NICHT realitätsnäher als das Alltagsmodell, weil es keine Angaben über seine Realitätsnähe machen KANN. Dazu müsste es Aussagen über seine eigene Genauigkeit machen können, was grundsätzlich nicht möglich ist. Ein Scientist ist, wer diese grundsätzlichen Grenzen der Naturwissenschaften nicht kennt, bzw. nicht berücksichtigt.

Die alte, abgeblich ungelöste philosophische Frage, ob Mathematik und Physik die reale Welt abbildet oder konstruiert, ist beantwortet: Weder noch! Wir wissen nichts von einer realen Welt hinter den Modellen. Wir haben stets nur Modelle, wenn auch von unterschiedlicher Qualität, unterschiedlichen Möglichkeiten und Grenzen. Mit Mathe und Physik konstruieren wir uns ein anderes Weltmodell, in dem wir dann leben. Wir konstruieren uns unsere erlebte Welt.

Jede Welt ist sich selbst bestätigendes System, das an ihren Rändern Anomalien aufweist, die zur Weltvergrößerung drängen. Die Anomalie Ihrer Welt ist das "Russische-Puppen-Phänomen", wonach Sie in Ihrer Sehrinde herumlaufen mit einem Gehirn, in dem sich eine Sehrinde befindet, in der Sie herumlaufen etc bis ins Unendliche.

mit freundlichem Gruß
Hans-Joachim Heyer

(12.7.) Sehr geehrter Herr Heyer,

Sie schrieben:

>>
Die Formeln, mit denen wir die Naturgesetze nachmodelllieren, seien Interpretationen, die unser "Gehirn" anstelle. Physik sei die Bewusstmachung der Strukturen, nach welchen wir Subjekte meist unbewusst die vermeintliche Außenwelt interpretieren.
<<

Eben gerade nicht. Durch die bereits beschriebene Vorgehensweise werden die Erkenntnisse losgelöst von der Subjektivität und Fehlerhaftigkeit des menschlichen Hirns und der Sinnesorgane gewonnen. Experimentelle Physik macht nichts anderes, als Wege zu finden, die Restriktionen und Fehlerhaftigkeit unserer menschl. Warnehmungen zu überwinden. Verschiedenartige Mess- oder Beobachtungsmethoden werden auf die gleiche Fragestellung angewandt. Das Hirn müsste nun immer jeden der ganz verschiedenen Eindrücke (zB Farbe, Lichtstahlauslenkung, Zeigerstellung) in die gleiche Richtung falsch interpretieren, wenn eine Diskrepanz unbemerkt bleiben wollte. Hinzu kommt, dass eine gewonne Erkenntnis mittels der Mathematik beschrieben wird und LOGISCHE Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Diese müssen wiederum widerspruchsfrei mit Beobachtungen (verschiedene Methoden!) übereinstimmen. SO gewinnt man Erkenntnisse und schafft es, spektakuläre Erfolge wie das treffsichere Ansteuern eines Jupitermondes oä zu erzielen.

Während Sie es bejammern: "Wir wissen nichts von einer realen Welt hinter den Modellen." entschlüsseln Wissenschaftler den genetischen Code und die Vererbungsmechanismen, finden Medikamente gegen Krankheiten, rekonstruieren die Entstehung des Universums, unseres Sonnensystems und der Erde, entwickeln Techniker Kommunikationesmittel, die die Völker verbinden (die von Religionen und Politik wieder auseinander dividiert werden) usw. Ich muss da schon mal fragen: Welche Erkenntnisse und kulturellen Errungenschgaften hat Ihre Denkweise hervor gebracht?

Kein Wunder, dass Ihr Professor sich nicht weiter mit Ihren Thesen befasst hat!

Laut Ihrer Website sind Sie "Berater für Sucher nach einem sinnvollen Leben". Wie das denn? Wie wollen Sie den andere Menschen beraten? Alle Ihre Sinneseindrücke und vermeintlichen Erkenntnisse sind doch nur Modelle Ihrer Hirnrinde, die mit der Realität nichts zu tun haben.

Mit freundlichen Grüßen,

xxx

(14.7.) Sehr geehrter Herr xxx,

wir argumentieren immer noch auf zwei völlig verschiedenen Ebenen. Unsere Thesen und Antithesen konnten deshalb noch gar nicht zusammenstoßen und zu einer Synthese führen.

Sie argumentieren, indem Sie weiterhin innerhalb der Erscheinungswelt (nach Kant) operieren; ich beschäftige mich mit jener Ebene (der geistigen), von der aus gefragt wird, was diese Erscheinungswelt generiert. Die Erscheinungswelt ist das Weltmodell, wie es uns nach unseren (physikmodellgesteuerten) Interpretationen erscheint.

Die Physik erzeugt ein Modell, von dem die Physiker glauben, es sei der Realität näher als andere Modelle. Ob realitätsnahe oder nicht, Fakt ist, es ist ein Modell gleichwie unsere Alltagsmodelle (Naiver Realismus), religiöse oder magische Modelle. Ihr Glaube an das Physikmodell erzeugt die Illusion der Identität des Modells mit der Realität (= Scientismus). Mit anderen Worten: Wo echter Glaube vorliegt, fallen Modell und Realität zusammen.

Sie glauben nun, das Physikmodell stehe näher an der Realität, weil es weniger Widersprüche enthält (Logik!) und weil es funktionierende Techniken, zB Komputer, ermögliche. Nun, frei von inneren Widersprüchen können auch falsche Modelle sein. Die Freiheit von Widersprüchen zwischen Modell und Realität lässt sich nicht feststellen, da wir zwar Modelle machen können, jedoch keine Aussagen über über die Qualität der Modelle (Maß der Übereinstimmung von Modell und Realität) machen können. Die Naturwissenschaft kann Theorien aufstellen, aber sie kann keine Thorien über die Qualität dieser Theorien aufstellen, denn dann müsste sie die Wahrheit bereits kennen und bräuchte keine Theorien.

Die (auch von mir voll anerkannte) technische Anwendbarkeit der Physik ist ebenso kein Beweis ihrer Realitätsnähe, da auch andere Modelle die Eigenschaft der Selbstbestätigung aufweisen. Der Naive Realist wird wie Sie sagen, sein Modell müsse wahr sein, schließlich bestätige es sich in seinem Alltagsleben. Der Anhänger eines religiösen oder magischen Modells wird ebenfalls erleben, dass sein Modell sich täglich bestätige. JEDER Mensch lebt in einem sich selbst bestätigenden System (Modell). Fragen Sie mal einen gläubigen Zeugen Jehovas. Er wird Ihnen bestätigen, dass sich sein Modell täglich bestätigt.

Da Sie vollständig vom nat.-wiss. Modell vereinnahmt sind (sie GLAUBEN an dieses Modell), haben Sie leider nicht die Möglichkeit, zu erleben, dass sämtliche Modelle das Erleben des Menschen derart verändern, dass er empirische Bestätigung des Modells erfährt. Ich lebe in der glücklichen Situation, sowohl an die Naturwissenschaft (mit Physik als Leitwissenschaft) zu glauben, als auch an meine Philosophie (die dem Radikalen Konstruktivismus (s. www.hanjoheyer.de/Roth.html) nahesteht).

Sie schreiben: "Das Hirn müsste nun immer jeden der ganz verschiedenen Eindrücke (zB Farbe, Lichtstahlauslenkung, Zeigerstellung) in die gleiche Richtung falsch interpretieren, wenn eine Diskrepanz unbemerkt bleiben wollte."

So ist es. Ihr Modell bestätigt sich für Sie, weil sie (unbewusst) stets in die gleiche Richtung falsch (besser: modellgeleitet) interpretieren. Bei mir ist es nicht anders. Bei mir kommt allerdings hinzu, dass ich darüber Bescheid weiß und folglich die Interpretation und damit die Selbstbestätigung des jeweiligen Systems ändern kann.

Wir können feststellen, ob ein Sachverhalt logisch ist, aber wir können nicht erkennen, ob die Logik logisch ist. Dazu müssten wir etwas außerhalb der Logik haben, mit dem wir die Logik logisch untersuchen können. Das geht nicht. Die Logik kann keine Aussagen über ihre Logik machen. Solche Versuche enden in selbstbezüglichen Systemen, in Paradoxen wie dem vom Kreter, der sagt, dass alle Kreter lügen, und es führt in unendliche Regresse wie dem von den Russischen Puppen.

Ich nehme mit Interesse die Ergebnisse Forschung zur Kenntnis und und verfolge mit Interesse die Arbeit der Astronomen. Trotzdem weiß ich, dass es weder Raum noch Zeit gibt. Beides sind Schöpfungen unseres Geistes, Produkte unserer Sehrinden. Aber das ist eine andere Ebene. Beide Ebenen zu vermengen, führt nicht weiter.

"Kein Wunder, dass Ihr Professor sich nicht weiter mit Ihren Thesen befasst hat!"

- Wahrlich kein Wunder. Er wird dafür bezahlt, den konstruktivistischen Ansatz der Bewusstseinsforschung NICHT zu behandeln. Trotzdem sagte er mal in einer schwachen Stunde: "Glaubt nicht, hier in einem Vorlesungssaal zu sitzen! Jeder sitzt in seiner eigenen Sehrinde!" (Der Raum ist ein Hirnprodukt. Deshalb kann er auch nicht gemessen werden. Ebensowenig wie die Zeit als solche.) Ein anderer Professor, der sich um die Evolutionstheorie verdient gemacht hat, dem ich einmal meine Philosophie erklärt habe, bestätigte mir unter 4 Augen, dass ich wahrscheinlich recht habe, aber er könne es leider nicht öffentlich machen, da er ansonsten seine Karriere aufs Spiel setzen würde.

"Laut Ihrer Website sind Sie "Berater für Sucher nach einem sinnvollen Leben". Wie das denn? "
Nun, die Wissenschaft jedenfalls kann KEINE Aussagen über den Sinn des Lebens machen. Dazu fehlt ihr schlicht die Sprache und Möglichkeit. Das Physikmodell ist eben nur ein Modell, und diesem Modell fehlt die Möglichkeit, Aussagen über Sinn, Zweck, Wert, Leben, Bewusstsein, Freiheit usw. zu machen.

Ich kann durchaus philosophisch beraten, da ich Einfluss auf die Interpretastion von Sinnesdaten und Erlebnissen nehmen kann. Ich kann modelländernd wirken und Menschen mit mehr oder weniger gescheiterten Welt- und Selbstmodellen ("Ich habe große Sorgen...) helfen, besser funktionierende Modelle aufzubauen.

Ich habe nie behauptet, Modelle haben nichts mit der Realität zu tun. Ich habe behauptet und begründet, dass wir nichts über das Maß der Übereinstimmung zwischen Modell und Realität wissen können. Wir wissen nichts über die Realität außer unsere Modelle.

Ich habe übrigens schon mehrmals mit Physikern über diese Thematik (erfolgreich!) diskutiert - siehe zB http://www.hanjoheyer.de/Evolution2.html .

viele Grüße
Hans-joachim Heyer

(30.7.) Sehr geehrter Herr xxx,

ich habe in den vergangenen Jahren bereits sehr viele Diskussionen über "unser" Thema bestritten, ja, habe einen Beruf aus diesen Diskussionen gemacht (was Sie ja kritisierten, da ich angeblich nichts Gescheites über den Sinn des Lebens zu berichten habe).

Bei einer dieser Diskussionen mit einem Physiker in einem Restaurant, der wie Sie glaubte, die Realität sei physikalisch, begab es sich, dass er mich nach der Rückkehr von der Toilette fragte, ob ich die Schüssel getroffen habe. Etwas verlegen ob dieser Frage antwortete ich trotzdem wahrheitsgemäß: "Klar, ich bin doch nicht besoffen!" Er kommentierte die Antwort, indem er sagte: "Und ich kann die erklären, warum das möglich war: An der Stelle, an die deine Sehrinde eine Toilette abbildet, steht tatsächlich eine reale Toilette. Hätte deine Sehrinde die Toilette woanders abgebildet, hättest du danebengemacht!"

Ich war es inzwischen leid, ihm meine Position zu erklären zu versuchen. Diesmal bot ich ihm an, nicht über meine Gedankengänge zu diskutieren, sondern seine Argumentation genauer unter die Lupe zu nehmen.

Ich fragte ihn also, was genau beim Anblick der Toilettenschüssel passiere. Die Antwort lautete etwa so:

"Die Lichtstrahlen (Fotonen) der Lampe werden von der realen Toilettenschüssel reflektiert und gelangen über Pupille, Linse und Glaskörper des Auges zur Netzhaut, wo ihre Energie in Information umgesetzt wird. Die Sehzelle sendet Nervenimpule aus, wenn sie von Fotonenenergie stimuliert wird. Diese Nervenimpulse werden über den Sehnerv in die Sehrinde des Gehirns geleitet. In der Sehrinde werden die Nervenimpulse interpretiert und zur Aktualisation des internen Modells der Realität genutzt. Du siehst zwar nicht die reale Kloschüssel, aber du siehst dieses aktualisierte Modell. Selbstverständlich hat dein Gehirn auch ein Modell des gesamten Toilettenraums incl. deiner selbst erstellt. Dein Modellkörper p.... dann zwar nur in die Modellschüssel, aber gleichzeitig p.... auch dein realer Körper in die reale Schüssel. Mit anderen Worten: Ich gehe davon aus, dass aufgrund der Evolution Modell und Realität recht gut übereinstimmen. Das Maß der Übereinstimmung mag unterschiedlich sein. ZB die Farbe mag keine gute Interpretation der elektromagnetischen Frequenzen sein, aber Ort und Zeit und die Anatomie des Körpers müssen sehr gut übereinstimmen, sonst hättest du danebengep.....".

Lieber Herr xxx, ich gehe davon aus, dass Sie dieser Argumentation des Physikerkollegen voll zustimmen. Laut dieser Argumentation stimmen Realität und Modell weitgehend überein. Die Naturwissenschaft, speziell die Physiker, tun nichts anderes, als das Maß der Übereinstimmung zu vergrößern. Es gibt Differenzen zwischen Modell und Reaität - Anomalien genannt - und diese werden mittels der Forschung ausgeräumt. Leider ist das menschliche Gehirn zu klein, um ein komplettes Modell der Realität zu generieren. Das Modell, das wir subjektiv erleben, wird immer unvollkommen bleiben. Aber das Physikmodell, an dem hunderttausende Physiker gleichzeitig seit 300 Jahren arbeiten, übersteigt die subjektiv erlebten Weltmodelle erheblich. Das Physikmodell stimmt deshalb in weit höheren Maß mit der Realität überein.

Könnte diese Email ein neuer Anfang einer Diskussion über Modell und Realität sein?

mfg
Hans-Joachim Heyer

PS: Leider antwortete Herr xxx nicht auf diese Email, von welcher ich dachte, ihm damit sehr entgegengekommen zu sein, denn ich hatte versucht, wie oben zu sehen ist, mit meinen Worten seine Position darzustellen. Erst nach seiner Zustimmung hätte ich begonnen, diese Position mit von naturwissenschaftlich anerkannten Mitteln der Logik zu hinterfragen.

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