Der Berg

Eine Stunde schon fahre ich mit meinem Rennrad dem Berg entgegen und komme ihm nicht näher. Nur größer wird er, immer größer! Fünfundzwanzig Kilometer im gleichen Rhythmus; das ist Musik wie Urwaldtrommeln. Der Berg, vor einiger Zeit noch ein Kegel am Horizont; nun hat er den ganzen Landstrich verschlungen. Er ist ein gefräßiger Berg und mächtig! Einsam steht er da seit Ewigkeiten schon und wartet auf mein Opfer.

Zweitausendfünfhundert Meter Felsen über mir: Unter ihrer Macht fühle ich mich wie ein Sünder, der sich nach Licht, Luft, Freiheit und Leben sehnt und dies alles in der Welt da oben zu finden hofft. Da oben - auf dem Gipfel des Berges!

Brütende Hitze. In jeder Schweißperle auf den Armen ist eine kleine Sonne. Und der großen Sonne fahre ich entgegen.

Es geht aufwärts. Ich schalte kleiner, um den Rhythmus nicht zu verlieren. Zwei Herzschläge für eine Pedalumdrehung. Also hat ein Herzschlag die Kraft eines Beines. Das Herz wird mich zum Ziel meiner Sehnsucht bringen, nicht der Kopf, wie man mir weismachen will!

In ungezählten Serpentinen züngele ich mich einer beutesuchenden Schlange nach oben. Und mein Fang ist groß: Mit den augen erhasche ich die Fluten des Lichts, mit den Lungen die luftige Frische; die Beine spüren Glück in ihrem anstrengenden Werk, und die Adern sind prall voll pochenden Lebens.

Was kann ich oben noch finden? Wohin zielt dann die Sehnsucht? Ist sie unersättlich? Je näher ich der Sonne komme, desto kühler wird es um mich herum. Das Grün weicht der Weiße des Schnees. Eben noch war es Frühling; nun bin ich im Winter. Die Straße wird rauh. Überall plätschert Wasser von den Felsen, Nebel zieht auf. Ich bin dem Ende der Welt nahe.

Dämonisch streift der nasse Wind um die Beine, bis auch die letzten Nebelschwaden zurückbleiben. Gleich bin ich am Ziel und werde die Krönung meines Glückes erleben! Die Sonne strahlt! Da vorn! Die Bergkuppe! - Mein Gipfel!

Die letzte Kurve: Ein großer Parkplatz, zehn Busse, hundert Autos, tausend Köpfe, aufgeregtes Geschnatter, Stöckelschuhe, Fotoapparate, Videokameras. "Was wollen die hier nur?" frage ich mich enttäuscht, würdige dem entweihten Panorama keinen Blick und rase halsbrecherisch die Abfahrt hinunter.


Der Sturz

Es ging in rasender Abfahrt den Berg hinab. Der Fahrtwind rauschte um die Ohren. Vor der langen Kurve bremste ich etwas, verlagerte das Gewicht zur Seite, und mit fünfundvierzig Grad Schräglage folgte ich exakt der Ideallinie. Am Scheitelpunkt der Kurve hatte mich das Rennrad hart an den linken Straßenrand getragen, dann zog mich die enorme Fliehkraft wieder zusehends nach rechts. Die Lage kaum stabilisiert, näherte ich mich schon der nächsten Kurve. Kein entgegenkommendes Auto zu sehen. Also bremste ich wieder nur wenig, fuhr sie ganz außen an und drückte das Rad in starker Rechtslage auf die andere Straßenseite. Ein schwarzer Fleck, kein Widerstand, das Rad scheppert hinter mir her. Mit der Brust schlage ich auf, dann nichts. Ich falle, drehe mich, sehe unter mir Felsen, ein stechender Schmerz.

Da liege ich. mit zertrümmerten Knochen. Das Rad hängt weiter oben im Geäst eines strauches. Mindestens hundert Meter bin ich abgestürzt. Niemand wird mich hier finden.

Es ist hell. Alles strahlt in hellem Sonnenschein. Herrlich schönes Wetter! Radfahrerwetter! Es ist, als ob die Felsen leuchten. Auch die Bäume und die Grasbüschel. Der Tote da unten auch. Der Tote, das bin ich.

Alles wird größer. aber da ich mich entferne, bleibt alles, wie es ist. Alles strahlt, verliert seine Farbe und wird durchsichtig. Meine Augen finden immer weniger. Nun ist alles Licht, und ich bin sehenden Auges blind. Fühle, fühle die Felsen, die Erde, die Luft. Fühle, fühle die Welt. Bin, bin die Welt. Die Welt ist in meinen Gedanken. Die Welt ist in meinen Gedanken, wie Träume in meinem Geiste.

Geborgen, Vertrauen, Liebe, Weite. Das Bild eines Freundes. Ich bin wieder. Nur Denken noch und Werden.

Und schweben. Schweben über dem Wasser. Und das Wasser weicht dem Land. Das Land wird grün mit Bäumen. Tiere leben auf dem Land und Menschen. Viele Menschen. Viele fern. Es geht weiter. Weiter lange Zeit. Bis ich mich gefunden habe in einem neuen Leibe, in einem neuen Menschen. Da sind die Eltern, die mich zu dem machen, der ich jetzt bin.


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