Zur Philosophie Karl Poppers
von Hans-Joachim
Heyer
Leser seit 8.10.2002
Ich möchte in diesem
Essay die Philosophie Poppers vorstellen. Sie bietet uns einen gründlichen und
doch einfachen Einstieg in das Verständnis der Naturwissenschaft und der menschlichen
Gesellschaft samt ihrer Kultur. Darüberhinaus ermöglicht sie uns - im systematischen
Weiterdenken - einen phantastischen Ausblick auf die Schöpferkraft, die uns
allen innewohnt. Nach Popper war diese Schöpferkraft primär unbewußt. Sie brachte
jedoch den Menschen hervor und in ihm Bewußtsein. Der bewußte Mensch kann nun
diese Schöpferkraft gezielt einsetzen und mit ihr - im Prinzip - alles erschaffen,
was er nur will. So können selbst kühnste Träume physikalische Wirklichkeit
werden. So kann das, was die Vielen "Unbekannte Flugobjekte" nennen,
realisierten Träumen besonders bewußter Wesen entstammen.
Was ist Wissenschaft? Wie kommt der Mensch zu seinem Wissen, mit dem er seine Kultur und seine technische Welt errichtet? Popper gelang der Nachweis, daß wir nicht durch Beobachtung der Welt und Verallgemeinerung des so gesammelten Beobachtungsmaterials zu unserem Wissen über die Welt kommen, sondern durch schöpferische - kreative - Theorien, die wir dann in der Lebenspraxis überprüfen. In der Fachsprache heißt das: Wir gewinnen unser Wissen nicht induktiv, sondern deduktiv. Ein simples Beispiel soll dies verdeutlichen: Eine induktive Methode läge vor, wenn wir aus der tausendfachen Sichtung weißer Schwäne den verallgemeinernden Schluß ziehen könnten, alle Schwäne seien weiß. So stellt man sich induktives Schließen vor. Popper wies nach, daß das ein Irrtum ist. Selbst nach 10000 gleichlautenden Beobachtungen schießen wir über das Ziel hinaus, wenn wir sagen, alle Schwäne seien weiß; schließlich könnte der 10001. ein schwarzer Schwan sein! . Die Theorie, alle Schwäne seien weiß, ist nicht völlig von Beobachtungen gestützt. Sie ergibt sich deshalb nicht aus den Beobachtungen; sie ist ein Vorausgriff über sie hinaus. Deshalb ist sie eine geistige Schöpfung des Menschen, die nun geprüft werden muß und sich als falsch erweisen kann (Falsifikation). Induktives Schließen ohne jenes über das bestehende Wissen hinausgreifende Theoretisieren wäre eine Behauptung der Richtigkeit eines Schlusses (Verifikation). Popper weist nach, daß es keine Beweise von Richtigkeit in dieser Welt geben kann, nur das Gegenteil, der Nachweis von Falschheit! Daß es nur Falsifikation und nicht Verifikation gibt, beweist, daß der Mensch beim Wissenserwerb schöpferisch ist. Er ist kein Wissenssammler. Eine Theorie, Wissen, das nicht falsifiziert werden kann (dazu gehören zB alle psychologischen und soziologischen Systeme), gehört nicht zur Wissenschaft.
Halten wir fest: Eine Theorie ist (nach Popper) ein Vorgriff auf die Zukunft. Sie wird an der gegenwärtigen Welt getestet und möglicherweise falsifiziert. Dann muß eine neue Theorie kreiert werden usw. Die Theorien, die bisher nicht falsifiziert werden konnten, bilden schließlich unser Wissen - ja mehr noch: unser ganzes Sein in der Welt. Popper weist nach, daß selbst unsere materiellen Körper Produkte von Theorien sind, denn der Körper muß erst dasein, ehe er dem Überlebenstest ausgesetzt wird. Also ist auch er ein Vorgriff auf die Zukunft. Die Evolution des Lebens ist eine Abfolge von immer komplexer werdenden Theorien. Charles Darwin beschrieb die Evolution als ein Aufeinanderwirken von Mutation und Selektion (Abweichende Nachkommen und Auslese des Untauglichen). Popper setzte die Mutation mit der Theoriebildung und die Selektion mit der Falsifikation gleich. Die Bildung eines neuen Körperorgans beispielsweise stellt für das neue Individuum den Versuch (Theorie) dar, ob es im Kampf ums Überleben Vorteile bringt oder nicht. Popper beschreibt hier zwar nur Darwins Evolutionstheorie mit seinen eigenen Worten, aber es kommt etwas Entscheidendes hinzu: nämlich daß das, was Darwin 'Mutation' nannte, nun - da mit 'Theorie' gleichgesetzt - ein Vorgriff auf die Zukunft ist! Und da alle Theorien, die nicht falsifiziert wurden, die Tendenz besitzen, sich körperlich zu manifestieren - es gibt ja materielle Körper - , bewirkt die Verkörperung den Zeitpfeil! Was oben (also bei Popper) nämlich 'Zukunft' hieß, ist (meiner Ansicht nach) ja nicht das, was einmal eintreten wird, sondern es ist ein Gebrodel aus Myriaden von Zeitpfeilchen, die schleifenartig in sich selbst zurücklaufen und ein chaotisches Zeitnetz - ewige Allgegenwart oder das Urchaos - bilden.* Diesem Urchaos wird die Struktur der Theorie auferlegt, und dann - falls keine Falsifikation erfolgt - wächst die materielle Realität in diese Struktur hinein. Die Abfolge der nicht verifizierten Theorien stellt demnach das her, was wir 'Zeit' nennen, denn die Vorgriffe auf die Zukunft, bzw. auf das Urchaos, summieren sich zum Zeitverlauf, wie wir ihn erleben.
Es stellt sich nun die Frage, wie dieser kreative Akt der Mutation oder der Theorienbildung möglich ist. Hier fand ich bei Popper keine befriedigende Antwort. Mangels besserer Theorie hat er sich hier wohl mit Darwins Antwort begnügt: Mutationen (und Theorien) bilden sich zufällig. Das mag für unbewußte Lebewesen sogar richtig sein, aber bestimmt nicht für bewußte! Bewußte Wesen können Strukturen schaffen, die zwar die bestehenden Strukturen beinhalten, selbst aber über sie hinausgreifen: Ich habe beispielsweise das Wissen (die Struktur) von 1000 weißen Schwänen. Nun erschaffe ich die Struktur von unendlich vielen weißen Schwänen und sage: Alle Schwäne sind weiß. Dann sehe ich einen schwarzen Schwan - neue Struktur. Nun bilde ich eine erweiterte Struktur, die weiße und schwarze Schwäne enthält. Diese erweiterte Struktur ist relativ willkürlich; sie muß nur die Bedingung erfüllen, die bisher nicht falsifizierten Strukturen allesamt zu enthalten (Thomas Kuhns Paradigmensysteme).
Es ist wie bei einem Puzzle, bei dem mir viele Steinchen fehlen. Ich setze die bestehenden Teile so zueinander in Beziehung, daß es mir gelingt, die Zwischenräume fantasievoll auszumalen. Die ausgemalten (theoretischen) Zwischenstücke kann ich nun mit der Außenwelt vergleichen: Ich kann jetzt gezielt hinschauen und prüfen. Vorher war das nicht möglich. Ohne Theorie kann man nicht hinschauen. All dies entspricht genau dem, was ich in den vorangegangenen Heften über die Erschaffung eines Mythos geschrieben habe.** Mein Mythos ist nämlich die von mir erfundene Geschichte, die alle bestehenden Wissens-Puzzlesteine in ein größeres System einbindet. Was Popper Theorie nannte, heißt bei mir Mythos. Und mit Popper stimme ich darin überein, daß Theorien die Tendenz haben, sich zu materialisieren, wenn sie über längere Zeit nicht falsifiziert werden. Es gibt sowas wie 'richtige' Theorien. Es sind die, die dem Bestehenden nicht widersprechen, es aber durchaus umdeuten dürfen: Neue Sichtweisen sehen das Alte anders und zusätzlich etwas Neues (neues Paradigmensystem)! Siehe Poppers neue Sichtweise der Evolutionstheorie: Zusätzlich sah er den Vorgriff in die Zukunft, die Deduktion.
Es ist wie beim Wachstum eines Baumes: Was Holz geworden ist, entspricht den materialisierten Theorien. Diese kann der Baum nicht mehr loswerden. Aber er kann verbrennen. Das heißt: Selbst das manifest Gewordene kann immer noch falsifiziert werden. Aber es ist das Gerüst, auf das wir aufbauen können. Der Baum kann beliebig neue Theorien (Äste) bilden - mit der Einschränkung, daß er das bestehende Holz berücksichtigt. Er kann in jede Richtung wachsen, aber was dann gewachsen ist, muß Grundlage weiteren Wachstums bleiben.
Wie der Baum, so der Mensch! Unsere nicht falsifizierten Theorien setzen sich in der Lebenspraxis in Materie um: Wir haben Leiber, Bibliotheken, Häuser, Autos und Flugzeuge. Sie sind die Puzzlesteine, die mindestens in unseren Mythen enthalten sein müssen, wenn diese die Chance haben sollen, zu materialisieren.
Zurück zu Popper: Wichtig in Poppers Philosophie ist seine Entdeckung, daß die Welt nicht determiniert ist. Die Welt läuft nicht wie ein Uhrwerk: keine strenge Folge von Ursache und Wirkung! Die Existenz der menschlichen Erfindungen, zB Autos und Flugzeuge, können nach Popper nicht im Urchaos des Weltanfangs vorauskonstruiert gewesen sein. Es hatte vieler Zwischenschritte bedurft. Bei keiner Neukonstruktion lag vorher fest, daß sie den Falsifikationstest bestehen würde. Diese Entdeckung, die Einsteins Auffassung ("Gott würfelt nicht!") widerspricht, ist sehr wichtig, denn sie begründet die Freiheit unseres Willens, die offene Gesellschaft und das offene Universum. Nach Popper ist somit die Deduktion an Indeterminismus gebunden und beinhaltet dadurch das lebendige, kreative Moment, und die Induktion führt zu einem toten Determinismus.
Poppers Philosophie gipfelt in seiner 3 - Welten - Theorie. Demnach wäre die 1. Welt die reale physikalische Welt. Die 2. Welt ist das menschliche Selbst-Bewußtsein und die 3. Welt die Kultur, die Sprache und unsere Theorien. Welt 3 ist das Produkt unseres Selbstbewußtseins. Trotzdem ist sie real wie Welt 1, denn unsere Bibliotheken sind materiell vorhanden und ihre Schätze können, selbst wenn sie für Jahrhunderte verloren gehen, wiedergefunden und entziffert werden. Auch die künstlichen Produkte, zB Autos, werden in Welt 1 umgesetzt, werden physisch realisiert. Alle drei Welten schaukeln sich gegenseitig hoch und immer höher: "Hirn macht Sprache; Sprache macht Hirn!". Beide schaukeln sich zu immer komplexeren Systemen auf. Die Sprache führt zu Theorien und diese zu materiellen Produkten. Diese verändern die physikalische Welt und diese wiederum die Sprache usw. Dazwischen das Selbstbewußtsein als Vermittler.
Popper sagt "drei Welten", weil Welt 3 nicht physikalischen Gesetzen gehorcht und doch real ist. Popper: Die Natürlichen Zahlen sind vom Menschen kreiert. Der Rest der Mathematik, zum Beispiel die Primzahlen, wurde entdeckt - weil er von da an real ist!
Poppers Dreiweltentheorie bedeutet eine Auflösung der Dualität zwischen Materie und Geist und die Einfügung unseres Selbstbewußtseins in die Mitte zweier realer Welten. Würde zB unsere Sonne explodieren, würden Welt 2 und 3 vernichtet werden; nicht jedoch Welt 1. Dies ist der Grund, weshalb Poppers Philosophie "Kritischer Realismus" heißt. Es gibt eine Realität auch ohne die Existenz des Menschen.
Als ergänzende Lektüre empfehle ich: 1) http://visor.unibe.ch/SS99/Hypothesen/2604.htm (gefunden am 10.5.2003)
2. Karl R. Popper / Franz Kreuzer: Offene Gesellschaft - offenes Universum: Ein Gespräch über das Lebenswerk des Philosophen, Serie Piper, 1986, 99 Seiten, DM 9.80 (alter Preis)
* vergleiche DEGUFORUM 1/15:
"ewige Gegenwart, DEG 2/21 und 2/26: "multidimensionales Bewußtsein"
DEG 4/13: "integrales Bewußtsein
DEG 12/8ff, DEG 13/18 ff "holistisches Universum"
DEG 14/33 ff
** vergleiche DEG 1, Seite 15, DEG 5/7, DEG 5/24: Vallee: "mythologische Ingenieurskunst" DEG 15, 13ff.
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