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Politische Kultur
von Hans-Joachim Heyer
8.10.2002

1.    Einleitung

Es geht in dieser Arbeit um den Versuch, drei „w“- Fragen zur Politischen Kultur zu beantworten: l. Was ist Politische Kultur? 2. Wie entsteht Politische Kultur? 3. Warum gibt es Politische Kultur? Bei meinen Versuchen, diese Fragen zu beantworten, stieß ich auf ein unüberwindliches Hindernis, auf ein Tabu! Politik unterscheidet sich von Politikwissenschaft ungefähr so viel wie ein Baum von einem Foto eines Baumes. Ich mußte also unterscheiden zwischen »Politischer Kultur« und »Politikwissenschaftlicher Kultur« oder »politikwissenschaftlichem Verständnis von Politischer Kultur«. In aller mir zur Verfügung stehenden Literatur firmierte jedoch das, was ich als »Politikwissenschaftliche Kultur« identifiziert hatte, als »Politische Kultur«.

Als Ursache dieser Unentschiedenheit der Wissenschaft fand ich dem Kampf der Politikwissenschaftler um die Disziplin ihres Fachgebietes als Wissenschaft: Krampfhaft – mit ihren Worten: streng methodisch - versuchen sie, die Politik wissenschaftlich abzubilden. Dabei ging das Wesentlichste der Politik überhaupt verloren, ja wurde geradezu unsichtbar: der freie Wille des Politikers, den die Wissenschaft nur »vernünftig« abzubilden vermag. Immer und immer wieder suchte sie nach Erklärungen für etwas, das nicht erklärt werden kann. Was »Wille« und »Macht« eigentlich sind, ist der Wissenschaft systembedingt vollkommen fremd – und auch das Wesentliche der »Politischen Kultur«!

Diese Behauptungen zu untermauern, soll auch Thema dieser Arbeit sein, obwohl dabei der streng wissenschaftliche Rahmen übertreten werden muß. Beginnen möchte ich mit der ganz konventionellen

2.    Begriffsbestimmung

Das Begriffspaar „Politische Kultur“ entsprang nicht etwa der Praxis des politischen Geschäfts, sondern entstand im Umfeld politikwissenschaftlicher Forschung. Da die wissenschaftliche Methode Wertfreiheit und Empirie impliziert, ist es naheliegend, daß sich die Politikwissenschaft vorwiegend mit dem befaßt, was sich in Gestalt von gemessenen (oder zB durch Umfragen gewonnenen) Daten oder Fakten erheben und statistisch auswerten läßt. Man wollte ein Bild des politischen Status Quo erhalten: „Was glauben die Menschen über die politische Wirklichkeit zu wissen?“

Es konnte allerdings nicht ausbleiben, daß früher oder später nach den Ursachen dieses Glaubens oder Wissens gefragt werden mußte, und zwar nicht nur nach den kausalen Ursachen („wie?“), sondern auch nach den normativen Ursachen, also den politischem Verhalten zugrundeliegenden Werten („warum?“). Außerdem konnte es nicht ausbleiben, daß in der politischen Praxis - von Politikern und Journalisten - dieses Begriffspaar aufgenommen und in ihren Dienst gestellt wurde. Und da politische Praxis nichts anderes, als der Kampf um Ideen ist, also zum großen Teil Willens - und damit Werte - orientiert ist, erfuhr es auch auf diesem Wege eine normative Auslegung.

2.1. Empirisch deskriptive Dimension der Politischen Kultur

Wolfgang Rudzio benutzte folgende Definition:

„In der Politikwissenschaft umfaßt ‘politische Kultur’ wertneutral

● zunächst kognitive, affektive und wertende Einstellungen gegenüber dem politischen System und Politischen Rollen, d.h. die psychologische Dimension eines solchen Systems,

● dazu auch typische Verhaltensmuster in der Politik, reichend von Partizipationsmustern bis zur Elitenrekrutierung und den ‘Modalitäten der politischen Regelung gesellschaftlicher Konflikte’, d.h. nicht normativ fixierte, doch ein politisches System charakterisierende Verhaltensweisen.“[1]

2.2. Normative Dimension der Politischen Kultur

Kurt Sontheimer definiert die normative Politische Kultur folgendermaßen:

„Politische Kultur ist in dieser werthaften Perspektive ein Gut, ein Ideal, ein Gesinnungs- und Verhaltenskodex. Dieses Verständnis impliziert in der Demokratie die Verpflichtung aller, die an der Politik mitwirken, sich „kulturkonform“ d.h. sachgemäß, tugendhaft und - last not least - demokratiegemäß zu verhalten. Politische Kultur wird in diesem Verständnis quasi identisch mit politischem Wohlverhalten, mit guten demokratischen Sitten, mit politischem Stil. (...) Die Normen politischer Kultur beziehen sich in der Tat sowohl auf das Verhalten im Raum der Politik wie auch auf die Inhalte des Politischen, auf das, was gedacht, gewollt, realisiert wird.“[2] Wichtig für das Politikverständnis einer reifen demokratischen politischen Kultur ist die Einsicht, daß Politik sich nicht (...) als Unterscheidung von Freund und Feind begreifen läßt, sondern das Bemühen ist, nach geregelten Verfahren unter Respektierung gemeinsamer


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 Wertgrundlagen einen friedlichen Ausgleich zwischen verschiedenen Positionen und Interessen zu finden.“[3]

3.    Politische Bühnen

3.l. Die öffentliche Bühne

Diese von Rudzio genannte ‘psychologische Dimension’ und jene ‘typischen Verhaltensmuster können aus zwei völlig verschiedenen Positionen heraus beschrieben und erklärt werden und zwar einmal aus der Position der Bevölkerung als Masse und einmal aus der der Führungselite. Regierte und Regierende sehen sich dabei selbst in völlig verschiedenen politischen Landschaften weilend, in denen sie ihre jeweiligen Erfahrungen machen und ihre politischen Einstellungen gewinnen.

Im Wissen, daß sich das Volk kaum mehr, als ein vages Bild von der politischen Welt machen kann, gibt es für die Führungselite nur zwei Möglichkeiten: entweder dem Volk gar keinen Einblick in ihre Tätigkeit zu geben oder einen simplifizierten, also verfälschten. Im ersten Fall läge eine ‚unsichtbare Regierung’ vor; im zweiten das, was ich ‚Bühnen- Inszenierung’ nennen möchte. Rudzio schreibt dazu:

„Die wahlwerbenden Parteien müssen daher um Aufmerksamkeit ringen. Sie tun dies, indem sie die Komplexität der Politik auf knappe Wahlslogans (...) reduzieren. (...) Vor allem aber sollen Emotionalisierungen und eine „wertende Sprache“, generell Unterhaltungselemente bis hin zur Darstellung von Politik als dramatischem Theater, den Zugang zum Wähler verschaffen.“[4]

Ich möchte in dieser Arbeit die Bedeutung dessen, was Rudzio oben „politische Rollen“ und ich verschärfend „Bühneninszenierung“ nenne, herauszuarbeiten versuchen. Sodann geht es mir um die Frage, inwiefern die Inszenierer selbst wissen, was sie tun, denn es ist ja denkbar, daß sie ihre Inszenierungen nicht am Maßstab der Wahrheit (wobei geklärt werden müßte, ob es sie gibt), sondern an dem einer weiteren Bühne - von deren Realität sie überzeugt sind - orientieren. Hinter den Kulissen der Bühne „Demokratie“ steht also nicht unbedingt das Monstrum der Wahrheit, sondern möglicherweise eine zweite Bühne, die ebenfalls erforscht sein will.

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk hält das Verbergen der ‘wahren Absichten’ der Elite für nötig. Er schrieb: „Moderner Elitismus muß(te) sich demokratisch verschlüsseln“[5] Warum? - Weil man das Verhalten der Menschen als Menge von Individuen und als psychologische Masse berücksichtigen mußte. Um das Chaos zu verhindern, mußte man Strukturen schaffen, die zweierlei Bedingungen erfüllten: Erstens mußten die vielen Wünsche, Meinungen und Einstellungen kanalisiert und in ihren Wirkungen neutralisiert werden, und zwar so, daß nur Hauptströmungen die Filter passieren konnten. Zweitens mußten Kanäle geschaffen werden, die diese Hauptströme zu lenken vermochten.[6] Um diese Ziele zu erreichen, wurde das in der Weimarer Republik noch gebräuchliche Plebiszit für das Grundgesetz nicht übernommen, denn, wie Theodor Heuß sagte: „Plebiszite sind in der großräumigen Demokratie die Prämie für jeden Demagogen.“[7]

Vielmehr installierte man eine Reihe von Parteien. Diese erfüllten ihre oben genannten Aufgaben der Erfassung, Markierung und Steuerung von Volkes Wille besser, als offene Demagogie. Sontheimer formuliert sich vorsichtiger, ja verschlüsselt, wohl weil er sich für die Aufrechterhaltung des common sense[8] verantwortlich fühlt:

„... doch ist der in den 70er Jahren geführte Kampf zwischen der traditionellen politischen Kultur und einer aufsteigenden, zum Teil radikalen alternativen politischen Kultur darüber weitgehend in den Hintergrund getreten, erst recht nach der Aufhebung der deutschen Teilung. Der Hauptgrund dafür ist nicht das


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Verschwinden alternativer Positionen, sondern deren teilweise Absorption in die Programmatik und Rhetorik der wichtigen politischen Organisationen, in erster Linie der großen politischen Parteien.[9]

Rudzio drückt sich - ebenfalls meiner Auffassung nach etwas verharmlosend - so aus:

„Die Aggregierung von Interessen, d.h. die Bündelung und Umformung spezieller Interessen durch größere Interessenorganisationen, soll zwar deren Durchsetzungsfähigkeit stärken, bedeutet aber für das politische System eine Komplexitätsreduktion, welche die Interessen überschaubar und damit verarbeitbar macht; verbunden hiermit ist auch eine Entlastung von Einzelkonflikten.“[10]

Wichtig in diesem Szenario sind ständige Volksumfragen. Hier wird das Volk abgefragt, ob es seine Lektion gelernt hat (n. Carlo Schmid).

Die von Rudzio als Einwand gegen die Oligarchiethese vorgetragenen Argumente - „innerparteiliche Konflikte“, „Kampfabstimmungen“, „Machtblöcke, durch die übermächtige Parteiführungen unmöglich werden“ und das „Prinzip der antizipierten Reaktion“[11] lassen sich auch in dem Sinne interpretieren, daß hier >politischer Wille von unten< neutralisiert wird. Der dadurch entstehende Frust der Durchschnittsdeligierten wird bei Rudzio auf Seite 172 recht anschaulich beschrieben.

Ein weiterer möglicher Einwand - die Kritik der Wähler zB an den Bundestagsdebatten - zeigt keinesfalls das Durchschauen der kräfteneutralisierenden Bühneninszenierung auf. Statt den Rednern wirkliche Politik verschleiernde Ablenkungsmanöver vorzuwerfen, unterstellt er ihnen lieber Dummheit - nur, um nichts hinter dem Gerede suchen zu müssen und den Schein zu wahren. Satirische Fernsehsendungen, zB Hildebrands „Scheibenwischer“ suggerieren diese Haltung.

3.2 Die Bühne der politischen Elite

Auf der Bühne der Regierenden wird ein anderes Stück, als das der „Demokratie“ gespielt. Ohne daß der Wähler je gefragt wurde, ja ohne daß er es bemerkte, wurde beispielsweise über ihn hinweg entschieden, daß die deutsche Sprache zugunsten einer Weltsprache (Englisch) abgeschafft wird. Noch heute glauben die meisten Leute, der Siegeszug der englischen Sprache sei eher dem Zufall, als einem politischen Willen zuzuschreiben. Nach meiner Auffassung ist diese Entwicklung eine logische Konsequenz des Glaubens der Elite an die kommende Globalisierung - Weltwirtschaft, Weltbank, Weltstaat, Weltbürger, Allgemeine Menschenrechte usw. (Vorstufe: NATO, UNO, Vereinigtes Europa). Notwendig einher mit der globalen Vernetzung geht der Zerfall der alten Netze: religiöse und philosophische Morallehren, Familienbande, Nationalstolz usw. Vorzelebriert wird das neue Leben täglich 24 Stunden im Massenmedium Fernsehen. Dies ist die Bühne, auf der der größte Teil der politische Elite bereits zu leben glaubt.

4.    Errichtung der öffentlichen Bühne

4.l. durch Erschaffung eines Geschichtsbildes.

Das oben genannte Bühnenstück namens ‘Demokratie’ bildet in den Köpfen der Bevölkerung eine falsche Vorstellung von der gegenwärtigen Welt. Und da die Gegenwart als Extrapolation aus der Vergangenheit gesehen wird, trachtet die Elite stets danach, auch auf das Geschichtsbild Einfluß zu nehmen. Dabei muß nicht unbedingt gefälscht werden; es reicht völlig, aus dem schier unendlich komplexen Geschehen der Vergangenheit den erwünschten Mythos gezielt zu selektieren.

Der französische Arzt Gustave Le Bon schreibt in seinem Buch „Psychologie der Massen“:

„Aus dem Vorstehenden folgt klar, daß die Geschichtswerke als reine Phantasiegebilde zu betrachten sind. Es sind Phantasieberichte schlecht beobachteter Ereignisse nebst nachträglich ersonnenen Erklärungen. ... Die legendären Helden, nicht die wirklichen Helden haben Eindruck auf die Massen gemacht. Leider sind die Legenden selbst nicht von Dauer. Die Phantasie der Massen formt sie je nach den Zeiten und den Rassen um. ... Diese Wandlung erfolgt oft innerhalb weniger Jahre. Wir haben in unseren Tagen erlebt, wie sich die Legende eines der größten Helden der Geschichte (Napoleon) in weniger als fünfzig Jahren wiederholt verändert hat“ und Le Bon beendet das Kapitel mit der Feststellung, „daß die Geschichte nur Mythen zu verewigen vermag.“[12]


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Es gilt also nicht der Satz „Aus der Geschichte lernen“, sondern „Geschichte machen!“ Die Geschichte wird stets von den Siegern geschrieben. Ist eine Geschichte erst einmal in den Köpfen der Bevölkerung installiert, strickt sich ihre implizite Logik selbständig fort. Wir können daran sehen, wie Zukunft[13] gemacht wird.

An den Arbeiten der Geschichtsforscher, die nach Maßgabe ihres ihnen unbewußten Wertesystems ihre sog. „Fakten“ erheben und daraus ein „empirisches“ Bild von der Vergangenheit konstruieren, können die eingeweihten Politiker ablesen, wie der momentan für real gehaltene Mythos aussieht. Diesen brauchen sie dann nur zu extrapolieren, um zu sehen, ob ihr mythologischer Zukunftsentwurf noch ihren Wünschen entspricht.

4.2. durch Übergang vom Mythos zur Methode

Bis zum Ende des Mittelalters war noch die Kirche für die Erschaffung der zu glaubenden Mythen zuständig. Mit brutalster Gewalt wurde aller Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt ausgerottet.

Vor etwa 300 Jahren wurde hier jedoch eine geniale, aber auch gefährliche Vereinfachung eingeführt. Statt den herrschenden Mythos willkürlich weiter zu gestalten, hatte man sich ganz auf die Überwachung der Einhaltung einer simplen Methode festgelegt, nämlich der des rationalen Empirismus (Verschmelzung Bacons Empirismus mit Descartes Rationalismus zur „modernen wissenschaftlichen Methodik“)[14] Nur diese Methode galt als wissenschaftlich; alles andere wurde diffamiert und verschwand mehr und mehr aus dem Bewußtsein der Menschen.

Die Frage nach dem „wie?“ löste die nach dem „warum?“ ab. Man fragte nicht mehr nach Gründen, sondern nach kausalen „Ursachen“ - also nach den Zuständen vor dem befragten Zustand. Das heißt, daß die Wissenschaft nichts erklärt, sondern nur das Werden der Dinge beschreibt. Isaak Newton: „Daß ich die Schwerkraft nicht erklären kann, ist irrelevant!“[15] Auf diese Weise führte die Wissenschaft zu einem Erklärungsnotstand, der kaum bemerkt wurde, da die Menschen zunehmend die Antworten der auf „wie?“ gestellten Fragen mit denen auf „warum?“ gestellten verwechselten.[16] Die Wahrnehmung des menschlichen Willens schwand immer mehr aus dem Bewußtsein der Bevölkerung und die kausal denkende Vernunft setzte sich durch. Die Folge davon war, daß sich für die willensgesteuerte Machtelite riesige und für das Volk trotzdem kaum erkennbare Freiräume für ihre Willensentscheidungen eröffneten. Was die Mächtigen wollten, sahen die Regierten zunehmend als vernünftige Reaktionen auf Sachzwänge - und waren eher bereit, deren Entscheidungen zu tolerieren.

Der Wechsel vom „warum“ zum „wie“ kommt einem Wechsel von einer Welt in eine andere gleich. Er zeigt den Wechsel von einer sinnerfüllten, lebendigen Welt in eine sinnlose mechanische, tote Welt auf. Politiker und Politikwissenschaftler leben in zwei völlig unterschiedlichen Welten: der machtorientierte Politiker lebt in der lebendigen Welt des Sinns; der Politikwissenschaftler in der vernünftigen Welt der Mechanik. Der Politiker kümmert sich um das „Warum“ und der Wissenschaftler um das „Wie“. Als Beleg mag Heft 36 der „Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung: Extremismus, Terrorismus, Kriminalität“ dienen, wo Politiker und Wissenschaftler zu demselben Thema zu Wort kommen. Der Wissenschaftler Rudolf Wassermann, Präsident des OLG Braunschweig, schreibt:

„Wer ›individuellen Terror‹ praktiziert, Politiker, Richter, Unternehmer entführt und tötet, Bomben legt, Geiseln festsetzt und Flugzeuge kapert, ... (vertritt seine Ansichten nicht nach den Regeln der für alle Bürger gelten Gesetze), „bewegt sich nicht im Rahmen des politischen Prozesses, sondern bricht das Gesetz ...“ [17]

Ganz anders der Politiker Heiner Geisler, Generalsekretär der CDU, an Wissenschaftler im Rahmen einer Wissenschaftlichen Fachtagung:

„Jede Verantwortung richtet sich immer an Personen, nicht an die anonyme ›Gesellschaft‹! Es gibt kein ›Jüngstes Gericht‹ für Kollektive. Spüren wir nicht, daß viele hier, ohne es zu merken, eine Denkfigur der Terroristen übernehmen, die ja auch die ›Gesellschaft‹ für alles verantwortlich machen? Wenn alle schuld sind, ist keiner mehr wirklich schuld.“[18]

Der Wechsel vom „warum“ zum „wie“ kommt dem Verzicht auf bzw dem Verlust einer ganzen Dimension des Lebens gleich.[19] „Wie“ - Fragen bleiben der materiellen Ebene verhaftet; „warum“- Fragen richten sich auf eine geistige Dimension darüber. So entstand in den Köpfen der Menschen ein völlig materialistisches Weltbild, das aller geistigen Größen entbehrt. Es enthält weder Bewußtsein, noch ethische Werte, also nichts, was die analysierte, zerstückelte Welt zusammenhalten könnte. Hirnforscher Wolf Singer: „...alle Hirnleis


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tungen - einschließlich der höchsten geistigen und psychischen Funktionen - (sind) auf die Wechselwirkungen von Nervenzellen zurückzuführen, die den bekannten Gesetzen von Physik und Biochemie folgen.“[20] Wer vermag schon der Physik zu widersprechen? Der auf diese Weise aller Selbstführung verlustig gegangene Mensch ist dann angewiesen auf äußere Regierung durch jene, die sich von den o.g. „Zwängen“ der Naturgesetze nicht haben ihren WILLEN austreiben lassen.[21]

4.2.l. Le Bons Empirismus in der Tradition Machiavellis

Nach Gustave Le Bon schließt sich eine Menge isolierter individueller Menschen zu sozialen Gruppen zusammen, die unbewußt ihre individuellen Gedanken, Wünsche, Einstellungen usw einander angleichen, d.h., ihre persönlichen Gedanken werden in einer Art gemeinschaftlicher Hypnose aufgegeben zugunsten denen der Gruppe - nun Masse genannt.

Le Bon fand nun heraus, daß die Intelligenz dieser Masse nicht etwa der durchschnittlichen Intelligenz der Einzelpersonen entspricht, sondern einem wesentlich niedrigerem Niveau, wobei sie zugänglich für (demagogische) Suggestionen werden. Dabei würde es keine Rolle spielen, wie intelligent nun die Einzelpersonen waren:

  „... und die Abstimmung von 40 Akademikern über allgemeine Fragen gilt nicht mehr als die von 40 Wasserträgern.“[22] Weiter schreibt Le Bon: „Die Massen haben nur eingeflößte, nie vernünftige Meinungen“[23] und schließt daraus: „Ohne Zweifel sind die Abstimmungen der Massen oft recht gefährlich.“[24] Und da die Masse der Vernunft mit ihren Begründungen oder gar Beweisen nicht zugänglich ist, haben die Führer lernen müssen, eine direkte Kommunikation mit dem Unterbewußtsein der Menschen aufzubauen.

„Der unbekannte Redner, dessen Rede gute Beweisgründe, aber nur Beweisgründe enthält, hat keine Aussicht, auch nur angehört zu werden.“[25] Die direkte Wirkung auf das Unbewußte erlangt man über Bilder, bildhafte Sprache, Posen, Gesten usw. Le Bon schreibt:

„Er muß eine besondere Beredsamkeit besitzen, die aus energischen Behauptungen, die nicht zu beweisen sind, und eindrucksvollen von ganz allgemeinen Urteilen umrahmten Bildern zusammengesetzt ist.[26](...) „Schon öfter haben wir die besondere Macht der Worte und Redewendungen betont, die so gewählt wurden, daß sie nur recht lebhafte Bilder hervorrufen.“[27]

Daß diese beinahe 80 Jahre alten Erkenntnisse Le Bons auch heute noch Gültigkeit haben, zeigt der SPIEGEL Nr. 46/1997, wo der Politologe Thomas Meyer schreibt: „Letztendlich belohnt der Wähler mit seiner Stimme nicht die beste Politik, sondern den besten Inszenierer“ und verweist auf die gestellten Posen und Bilder in den Massenmedien. Er schließt sein Statement mit den Worten: „Das genuin Politische, das Formulieren neuer Gesetze, das Ringen um Entscheidungen entzieht sich dagegen der öffentlichen Wahrnehmung und findet in geheimen Zirkeln und Hinterzimmern statt.“[28]

Rudzio bestätigt: „Offene Diskussion und Entscheidungssuche verlagern sich hinter die geschlossenen Türen der Fraktionssäle.“[29]

Rudzio, Meyer und Le Bon unterscheiden also klar zwischen „Inszenierung“ und „wahrer Politik“.

Die Inszenierung geschieht, um der Masse die Illusion von Macht vorzugaukeln, ohne sie wirklich daran teilhaben zu lassen. Zu diesem Zweck wurde der Mythos „Demokratie“ erfunden. Innerhalb ihrer Strukturen sollen sich die vielen kleinen Wünsche der Millionen Individuen neutralisieren. Letztendlich wählen die Wähler nur Ämter; diese aber sind im wahren Spiel der Mächte bedeutungslos.

Anhand des hier vorgebrachten Materials ist leicht zu erkennen, daß mit dem Wechsel vom Mythos zur Methode auch der Zynismus Eingang in das Denken der beteiligten Menschen gefunden hat. Die nahezu verschwundenen alten Mythen wie Platonismus und Christentum, ja sogar der Glaube an das Geschichtsbild wa


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ren ernstgemeint. Erst mit Machiavelli kam eine neue Geisteshaltung auf die Welt. Sontheimer schreibt:

„Demnach ist Machiavelli ein wichtiger Denker im Rahmen unseres Themas (Vorbildfunktionen), denn er ist es, der erstmals den neuzeitlichen Gedanken des autonomen Individuums, der großen machtvollen Persönlichkeit, in die Mitte der politischen Philosophie stellt und damit jene Tradition des Persönlichkeitsdenkens entdeckt, die von der Renaissance über die Reformation in unsere Moderne hineingewirkt hat.“[30]

Machiavellis und Le Bons empirischer Methode steht eine andere Methode gegenüber, die Sontheimer wie folgt charakterisiert:

„... aber die Geistesgeschichte und auch die politische Geschichte lehren uns, daß die Ideen, durch die wir uns die Wirklichkeit erkennend aufschließen, selbst Wirklichkeit konstituieren. Sie sind kein bloßes Produkt zugrundeliegender ökonomischer Verhältnisse, (...), sondern stets auch ein Produkt des kreativen und unabhängigen Geistes selbst, der sich denkend der Wirklichkeit zu bemächtigen versucht. Insofern sind die linken Intellektuellen (...) keineswegs nur die >Boten<, (...), sondern auch die Gestalter und Schrittmacher eines Bewußtseins, das sich mit den gegebenen Verhältnissen in unserer Gesellschaft nicht arrangieren will.“[31]

Hier offenbart Sontheimer, daß er über die zweite Bühneninszenierung - also die der sog. politischen Elite (nach Kapitel 3.2), hinauszusehen vermag und daß er zum „inneren Kreis“ der wirklichen Elite gehört. Dieses Wissen geht über jenen Mythos der Globalisierung und über den zynischen Empirismus hinaus. Allerdings ist damit der Widerspruch in Sontheimers Äußerungen – einmal den Empirismus nach Machiavelli und einmal den Konstruktivismus mit ›der Autonomie der Person‹ in Verbindung zu bringen -  nicht erklärt, es sei denn, er argumentiert auf zwei Ebenen – verzichtet dabei dann jedoch auf den klassischen Wahrheitsbegriff.

Möglich ist auch, daß er beim Verfassen des Buches in seinen Streit mit Habermas[32] zurückfiel und diesen an seine Verantwortung für das Leben[33] erinnern wollte. Dabei verfiel er der Polemik - und immer wenn das Herz höher schlägt, offenbart sich das Leben selbst - und Sontheimer äußerte Wahrheiten, die er sich sonst zu äußern verboten hätte. Seine Frage

„Können Menschen, die sich geistig mit den Fragen der Politik und der gesellschaftlichen Entwicklung befassen und auf die Öffentlichkeit einwirken, geistige Veränderungen, Bewußtseinswandlungen, wie wir sie in der Bundesrepublik ohne Zweifel gehabt haben, von sich aus herbeiführen?“[34]

wurde eindeutig mit „ja“ beantwortet. Dabei geht die geistige Beeinflussung nicht über die mittelbare machiavellische Methode des Empirismus - Lügen und Inszenierungen haben kurze Beine und müssen demnach ständig und mit größtem Aufwand wiederholt werden, was ein Einzelner niemals zu leisten vermag; vielmehr geht sie über die unmittelbare geistige „Methode“, von der ob ihrer Unwissenschaftlichkeit in der Regel nichts in Publikationen mit wissenschaftlichem Anspruch zu finden ist. Aus diesem Grund schätze ich das hier gefundene Kleinod ganz besonders. In der Regel muß man sich mit schmalerer Kost begnügen. In der Politischen Vierteljahresschrift beispielsweise heißt es:

„Damit (Umfrageergebnisse) weisen also die Eliten eine noch engere Bindung an die etablierten Parteien auf als die Bevölkerung, was noch durch die große Zahl von Parteimitgliedern (43,4 %) unterstrichen wird.“[35]

Bei Aussagen dieser Art (siehe auch Rudzio S. 502) wird übersehen, bzw. übergangen, daß die o.g. Bindung der Bevölkerung aus anderen Motiven herrührt, als die der Elite. All diese Bindungen in einen Topf zu werfen, (aus unterschiedlichen Qualitäten eine Quantität zu machen) ist eine der typischen Handlungsweisen, die der empirischen Methode (nach welcher nur das zählt, was ›unten raus‹ kommt) entspringen. Diese geht einher mit der Generalisation. Erst nach dem Generalisierungsprozeß gibt es Vielheit (Quantität), die statistisch (wissenschaftlich) behandelt werden kann. Was Sontheimer oben über „geistige Beeinflussung“ schrieb, geschieht nicht auf der „Quantitätsebene“, sondern auf der Ebene der Qualität.

Fragebogenaktionen erzwingen quantitative Antworten und stützen generalisierte Weltbilder und politische Systeme, die auf Quantität bauen.


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4.2.2. Das Primat der Ökonomie

In fast allen Diskussionen - seien es nun politische oder wissenschaftliche - wird heute kaum noch das Primat der Ökonomie angezweifelt. Politik und Wissenschaft können heute fast nur noch innerhalb ökonomischer Strukturen gedacht und ausgeübt werden und werden dadurch blockiert. „Nie war Mündigkeit ein Ideal der Industriemonopole und ihrer Verbände.“[36] Der in Kapitel 4.2. genannte rationale Empirismus ist fast ganz unter die Vorherrschaft der ökonomischen Logik gefallen. Die Ökonomie beruft sich immer noch auf einen falsch verstandenen Darwinismus[37] und denkt in mechanistischer (Newton’scher) Weltsicht und ist daher völlig ungeeignet, Probleme zu erkennen oder gar zu lösen, denn „Jeder Kampf führt notwendig zu einer gegenseitigen Verdinglichung der Subjekte.[38] Die Katastrophen, auf die wir zueilen, sind Beweise für die gescheiterten Lösungsversuche der Ökonomie. Alles fällt ihrer toten und daher todbringenden „Logik“ zum Opfer: Erst die Natur, dann der Mensch, dann die Ökonomie selbst. Die Politik ist ihr schon lange zum Opfer gefallen. Nur noch ihr Kleid ist übrig; und unter diesem Deckmantel verbergen sich Ökonomen, die alle Andersdenkenden unter ihre Knute zwingen. Der Kommunismus wurde ökonomisch besiegt. Ebenso die Demokratie, die freie Forschung, das Bildungsbürgertum usw usw. Alles ist zur Ware verkommen, deren Wert an Verkäuflichkeit gemessen wird. Wirtschaftlichkeit ist die einzige Realität, die anerkannt wird. Getan wird nur noch das, was „sich rechnet“. Man hat vergessen, was „Leben“ ist. Immer mehr Menschen scheinen anzunehmen, unbesorgt auf Kosten der Allgemeinheit (Mitmenschen, Natur, Staat) leben zu können. Doch was soll man anderes tun, wenn man seine Lebenswelt nur noch durch die ökonomische Brille sieht? Die Nutzung, bzw. Ausbeutung des Egoismus der Bevölkerung (Karriere...) wird scheitern.

Der französische Historiker Le Roy Ladurie sagte unlängst im SPIEGEL:

„Die französischen Sozialisten haben keinen Tony Blair hervorgebracht, der dem Glauben an den Staat weitgehend abgeschworen hat. Bei uns (in Frankreich) hat sich die Wirtschaft immer noch nicht aus dem Griff des Staates befreien können.“[39]

Dies sei ein ‘Erfolg’ der Regierung aus Sozialisten, Kommunisten und Grünen. Le Roy Ladurie befürchtet allerdings das Scheitern aller politischen Bemühungen, Kontrolle über die Wirtschaft zu behalten.[40]

 Und in Deutschland hat - wie in Groß Britannien - die Regierung gegen die Macht der Wirtschaft bereits resigniert. Das soziale Netz[41] - die Solidarität der Menschen - wird zerrissen.

 Die Folge dieses Prozesses wird, wenn nicht gegengesteuert wird, Krieg sein. Daher ist es ist unbedingt nötig, dem Materialismus einen Widerpart gegenüberzustellen: Spiritualität, die die Individuen erkennen läßt,

● daß sie Teil eines Kollektivbewußtseins sind, ohne das sie nicht leben können,

● daß der freiwillige selbstgesuchte Dienst an diesem Gemeinschaftsgeist die einzige Möglichkeit ist, sein Schicksal zu erfüllen,

● daß es letztlich nur ein einziges Kriterium für ‘Wahrheit’ gibt: die lebenslange Suche nach innerer Harmonie mit sich und der Welt, wozu es nötig ist, im Lebensvollzug das Geheimnis der Paradoxie zwischen Materialismus und Spiritualismus zu lösen.

Was ich hier als Spiritualismus bezeichnet habe, dürfte deckungsgleich mit dem sein, was Sontheimer oben die „Wirklichkeit konstituierenden Ideen“ nennt.[42]

5.    Die Philosophie Karl Poppers

Diese Darstellung Poppers Philosophie soll folgendes leisten:

● Sie soll die Bedingungen und Grenzen der wissenschaftlichen Methodik aufzeigen. Politologische Modelle sind - wie soziologische und psychologische - dafür anfällig, daß sie Erklärungen für alles liefern wollen (geschlossene Modelle). Popper weist nach, daß diese dann unwissenschaftlich sind.

● Die in 2.1 und 2.2 angeführten deskriptiven und normativen „Dimensionen“ der politischen Kultur finden bei Popper in der Diskussion um „Induktion“ und „Deduktion“ ihren Widerhall: Da es lt. Popper Induktion nicht gibt, ist auch der in 2. l geschilderte Zweig der politischen Kulturforschung fragwürdig.

● Le Bons Äußerungen über die Geschichte als Mythos, Sontheimers Entgegnung an Habermas, sowie meine Darlegungen (u.a.) in Kapitel 4.2 („Vom Mythos zur Methode“) finden in Poppers Erklärung des „Theorie“ - Begriffs Ergänzung und Bestätigung.[43]


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● Meine Behauptung, daß Theorien und Mythen aus einem metaphysischen, wissenschaftsfernen Bereich stammen und erst im Prozeß der experimentellen oder mathematischen Prüfung zu wissenschaftlichen Aussagen gemacht werden, soll untermauert werden. Zudem erhoffe ich mir dadurch eine gewisse Akzeptanz meiner obigen Aussagen zur Spiritualität.

Was ist Wissenschaft? Wie kommt der Mensch zu seinem Wissen, mit dem er seine Kultur und seine technische Welt errichtet? Popper gelang der Nachweis, daß wir nicht durch Beobachtung der Welt und Verallgemeinerung des so gesammelten Beobachtungsmaterials zu unserem Wissen über die Welt kommen, sondern durch schöpferische - kreative - Theorien, die wir dann in der Lebenspraxis überprüfen. In der Fachsprache heißt das: Wir gewinnen unser Wissen nicht induktiv, sondern deduktiv.[44]

Ein simples Beispiel soll dies verdeutlichen: Eine induktive Methode läge vor, wenn wir aus der tausendfachen Sichtung weißer Schwäne den verallgemeinernden Schluß ziehen könnten, alle Schwäne seien weiß. So stellt man sich induktives Schließen vor. Popper wies nach, daß das ein Irrtum ist. Selbst nach 10000 gleichlautenden Beobachtungen schießen wir über das Ziel hinaus, wenn wir sagen, alle Schwäne seien weiß; schließlich könnte der 10001. ein schwarzer Schwan sein! Die Theorie, alle Schwäne seien weiß, ist nicht völlig von Beobachtungen gestützt. Sie ergibt sich deshalb nicht aus den Beobachtungen; sie ist ein Vorausgriff über sie hinaus. Deshalb ist sie eine geistige Schöpfung des Menschen, die nun geprüft werden muß und sich als falsch erweisen kann (Falsifikation). Induktives Schließen ohne jenes über das bestehende Wissen hinausgreifende Theoretisieren wäre eine Behauptung der Richtigkeit eines Schlusses (Verifikation). Popper weist nach, daß es keine Beweise von Richtigkeit in dieser Welt geben kann, nur das Gegenteil, der Nachweis von Falschheit! Daß es nur Falsifikation und nicht Verifikation gibt, beweist, daß der Mensch beim Wissenserwerb schöpferisch ist, und daß empirisches Wissen nicht ‚objektiv’ wahr sein kann, weil es die Erscheinungswelt betrifft und nicht die Wahrheit dahinter, die die Erscheinungswelt hervorruft. Eine Theorie, die nicht falsifiziert werden kann (dazu gehören zB alle psychologischen und soziologischen Systeme), gehört nicht zur Wissenschaft.[45]

Halten wir fest: Eine Theorie ist (nach Popper) ein Vorgriff auf die Zukunft. Sie wird an der gegenwärtigen Welt getestet und möglicherweise falsifiziert. Dann muß eine neue Theorie kreiert werden usw. Die Theorien, die bisher nicht falsifiziert werden konnten, bilden schließlich unser Wissen - ja mehr noch: unser ganzes Sein in der Welt. Popper weist nach, daß selbst unsere materiellen Körper Produkte von Theorien sind, denn der Körper muß erst dasein, ehe er dem Überlebenstest ausgesetzt wird. Also ist auch er ein Vorgriff auf die Zukunft. Die Evolution des Lebens ist eine Abfolge von immer komplexer werdenden Theorien. Charles Darwin beschrieb die Evolution als ein Aufeinanderwirken von Mutation und Selektion. Popper setzte die Mutation mit der Theoriebildung und die Selektion mit der Falsifikation gleich. Die Bildung eines neuen Körperorgans beispielsweise stellt für das neue Individuum den Versuch (Theorie) dar, ob es im Kampf ums Überleben Vorteile bringt oder nicht. Popper beschreibt hier zwar nur Darwins Evolutionstheorie mit seinen eigenen Worten, aber es kommt etwas Entscheidendes hinzu: nämlich daß das, was Darwin ‘Mutation’ nannte, nun - da mit ‘Theorie’ gleichgesetzt - ein (die Zukunft konstituierender! (Heyer)) Vorgriff auf die Zukunft ist! Und da alle Theorien, die nicht falsifiziert wurden, die Tendenz besitzen, sich körperlich zu manifestieren - es gibt ja materielle Körper -, bewirkt die Verkörperung den Zeitpfeil! Was oben (also bei Popper) nämlich ‘Zukunft’ hieß, ist (meiner Ansicht nach) ja nicht das, was einmal eintreten wird, sondern es ist die ‘ewige Allgegenwart’ oder das ‘Urchaos’. In der Physik heißt dieser Zustand, bei dem Raum und Zeit zu einem höherdimensionalen Kontinuum verschmelzen, ‘Raum-Zeit-Singularität’.[46] Dies sind Strukturen, in denen Raum- und Zeitdimensionen unterschiedslos verwoben sind zu einem Phasenraum.[47] Dieser enthält das Potential aller möglichen Universen. Diesem Urchaos wird die Struktur der Theorie auferlegt, und dann - falls keine Falsifikation erfolgt - wächst die materielle Realität in diese Struktur hinein. Die Abfolge der nicht verifizierten Theorien stellt demnach das her, was wir ‘Zeit’ nennen, denn die Vorgriffe auf die Zukunft, bzw. auf das Urchaos, summieren sich zum Zeitverlauf, wie wir ihn erleben.

Es stellt sich nun die Frage, wie dieser kreative Akt der Mutation oder der Theorienbildung möglich ist. Hier fand ich bei Popper keine befriedigende Antwort. Mangels besserer Theorie hat er sich hier mit Darwins Antwort begnügt: Mutationen (und Theorien) bilden sich zufällig *. Das mag für unbewußte Lebewesen sogar richtig sein, aber bestimmt nicht für bewußte! Bewußte Wesen können Strukturen schaffen, die zwar die bestehenden Strukturen beinhalten, selbst aber über sie hinausgreifen: Ich habe beispielsweise das Wissen (die Struktur) von 1000 weißen Schwänen. Nun erschaffe ich die Struktur von unendlich vielen weißen Schwänen und sage: Alle Schwäne sind weiß. Dann sehe ich einen schwarzen Schwan - neue Struktur. Nun bilde ich eine erweiterte Struktur, die weiße und schwarze Schwäne enthält. Diese erweiterte Struktur ist relativ willkürlich; sie muß nur die Bedingung erfüllen, die bisher nicht falsifizierten Strukturen allesamt zu enthalten (Thomas Kuhns Paradigmensysteme).


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Es ist wie bei einem Puzzle, bei dem mir viele Steinchen fehlen. Ich setze die bestehenden Teile so zueinander in Beziehung, daß es mir gelingt, die Zwischenräume fantasievoll auszumalen. Die ausgemalten (theoretischen) Zwischenstücke kann ich nun mit der Außenwelt vergleichen: Ich kann jetzt gezielt hinschauen und prüfen. Vorher war das nicht möglich. Ohne Theorie kann man nicht hinschauen. All dies entspricht genau dem, was ich über die Erschaffung von Mythen geschrieben habe. Mein Mythos ist zB die von mir erfundene Geschichte, die alle bestehenden Wissens- Puzzlesteine in ein größeres System einbindet. Was Popper Theorie nannte, heißt bei mir Mythos. Und mit Popper (und Sontheimer) stimme ich darin überein, daß Theorien die Tendenz haben, sich zu materialisieren, wenn sie über längere Zeit nicht falsifiziert werden.[48] Es gibt sowas wie ‘richtige’ Theorien. Es sind die, die dem Bestehenden nicht widersprechen, es aber durchaus umdeuten dürfen: Neue Sichtweisen sehen das Alte anders und zusätzlich etwas dazu (neues Paradigmensystem)! Siehe Poppers neue Sichtweise der Evolutionstheorie: Zusätzlich sah er den Vorgriff in die Zukunft, die Deduktion.

Unsere nicht falsifizierten Theorien setzen sich in der Lebenspraxis in Materie’ um: Wir haben Leiber, Bibliotheken, Häuser, Autos und Flugzeuge. Sie sind die Puzzlesteine, die mindestens in unseren Mythen enthalten sein müssen, wenn diese die Chance haben sollen, zu materialisieren.

Zurück zu Popper: Wichtig in Poppers Philosophie ist seine Entdeckung, daß die Welt nicht determiniert ist. Die Welt läuft nicht wie ein Uhrwerk: keine strenge Folge von Ursache und Wirkung! Die Existenz der menschlichen Erfindungen, zB Autos und Flugzeuge, können nach Popper nicht im Urchaos des Weltanfangs vorauskonstruiert gewesen sein. Es hatte vieler Zwischenschritte bedurft. Bei keiner Neukonstruktion lag vorher fest, daß sie den Falsifikationstest bestehen würde. Diese Entdeckung, die Einsteins Auffassung („Gott würfelt nicht!“) widerspricht, ist sehr wichtig, denn sie begründet die Freiheit unseres Willens, die offene Gesellschaft und das offene Universum. Nach Popper ist somit die Deduktion an Indeterminismus gebunden und beinhaltet dadurch das lebendige, kreative Moment, und die Induktion führt zu einem toten Determinismus.

Konsequenzen, die ich aus der Popperschen Philosophie zog: Das „Offene“ der „offenen Gesellschaft“ ergibt sich erst durch die Einbindung der geschlossenen Erscheinungswelt (geschlossen, da frei von inneren Widersprüchen: es gibt keine Verstoße gegen die Gesetze der Physik) in die höhere „Welt an sich“ des Geistes (die offen ist, da sie indeterminiert ist). Der Geist strukturiert sich durch Theorien und bildet mittels dieser die materielle Welt ab. Somit ist die Welt zuerst Wille, dann Vorstellung – Wille der Machtelite, Vorstellung für die Völker.

6.    Schluß

Da zwischen den beiden ‘Bühnen’ und der ‘geistigen Dimension dahinter’ eine gewisse Durchlässigkeit besteht und das politische System die Höherentwicklung des Einzelnen und der Gesamtheit nicht wirklich versperrt, kann diese o.g. Inszenierung namens Demokratie durchaus akzeptiert werden.

Auch Le Bon lehnt die Inszenierung der demokratischen Systeme keineswegs ab. Im Gegenteil: Er sieht sie als das beste an, was es im Angebot an möglichen politischen Systemen gibt.:

„Trotz aller Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise bilden die Parlamentsversammlungen die beste Regierungsform, die die Völker bisher gefunden haben, um sich vor allem möglichst aus dem Joch persönlicher Tyrannei zu befreien.“[49]

Zu den eingangs gestellten Fragen („was?, wie?, warum?“) möchte ich nun als Zusammenfassung dieser Arbeit folgende Antwort geben: Politische Kultur gliedert sich in zwei Aspekte: einen normativen und einen aus den Normen resultierenden empirisch deskriptiven. Demnach ist Politische Kultur das gesellschaftliche politische Verhalten aufgrund von Idealen. Politische Kultur entsteht, wie die Ausführungen über Poppers Philosophie zeigen, durch Realisation von Idealen, bzw. Ideen, die aus einem (Modell- tragenden) kreativen, höherdimensionalen, zeitlosen Bereich außerhalb des wissenschaftlichen Systems stammen und sich bei gesellschaftlicher Konsensbildung materialisieren. Warum? - Weil die (Normen setzenden) Kreativsten es (in Kenntnis und Berücksichtigung der bestehenden Strukturen) es so wollen.

Um ihren Willen durchsetzen zu können, versucht die Machtelite den Willen der Bevölkerung zu brechen und ihr ihren Willen mit dem Deckmantel der Vernunft ‚aufzuzwingen’ (was man dann ‚Überzeugungsarbeit’ nennt, denn schließlich gibt man vor, in der Welt der Vernunft und nicht der Macht zu leben). An dieser Stelle setzt meine Kritik und meine von mir gelebte Alternative an. Sollte der o.g. ‚Zwang’ stärker sein, als Überredung, Bestechung und Werbung; sollte er also ein tatsächlicher Zwang sein, ist das System nicht le


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bensfähig und daher abzulehnen. Es ist nicht lebensfähig, weil ein spirituelles Gesetz gebrochen würde: daß Dämonen die Türschwelle des Hauses einer Seele nur dann übertreten dürfen, wenn diese die Tür selbst öffnet. Bisher haben die Mächtigen bei mir dieses Gesetz eingehalten. Es gibt ein weiteres spirituelles Gesetz: Sollten die Herren der Welt es bei der einen oder anderen Seele einmal nicht schaffen, ihren Willen zu brechen, müssen sie es akzeptieren, daß dieser Mensch in die Machtsphäre eingedrungen ist und sich am Bau des großen Mythos als freier Geist beteiligt. Auch dieses Gesetz wurde bisher bei mir eingehalten. Ich kann also meinen Mythos – meine Alternative – leben und damit auch das System der Herren der Welt akzeptieren.

Wir leben also nicht in einer Demokratie, sondern in einer von Magiern[50] geführten Oligarchie, die sich einer Plutokratie bedient, die sich wiederum der Demokratie bedient. Die Völker, die Kapitalisten und die Machtelite leben in verschiedenen Welten: in der Welt des Geistes, des Geldes und der Materie. Zwischen Menschen aus unterschiedlichen Welten ist sprachliche Kommunikation ohne weitreichende Mißverständnisse nicht möglich.

7.    Literaturverzeichnis:

l) Rudzio, Wolfgang: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1996
2) Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen, 1982
3) Berman, Morris: Wiederverzauberung der Welt, deutsch 1985
4) Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft, 1983
5) Sontheimer, Kurt: Deutschlands politische Kultur, München 1990
6) PVS, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 18/1987, Politische Kultur in Deutschland - Bilanz und Perspektiven der Forschung, Hrsg.: Dirk Berg-Schlosser und Jakob Schüssler
7) Penrose, Roger: Computerdenken - Die Debatte um Künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg
8) Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 136: „Extremismus, Terrorismus, Kriminalität“, 1978


Fußnoten


[1] Rudzio, Wolfgang: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Opladen 1996, S. 485

[2] Sontheimer, Kurt: Deutschlands politische Kultur, München 1990, S. 11

[3] ebda, S. 19

[4] Rudzio, a.a.O., S. 208

[5] Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft, 1983, Bd. l, S. 46

[6] zum Beispiel die Partei „Die Grünen“: Gegen Ende der ‘70er Jahre trat zunehmend eine indifferente Protestbewegung in Erscheinung, mit Inhalten, die offensichtlich nicht genügend von den etablierten Parteien abgedeckt waren. Allerorten bildeten sich spontane Aktionsgruppen, die gegen den Rüstungswahn oder umweltzerstörende technische Großprojekte - Landebahnen für Flughäfen, Kernkraftwerke - demonstrierten. Andere kämpften für die Emanzipation der Frau, gegen Tierversuche oder Ölverklappung in der Nordsee. Da die etablierten Parteien aus Rücksicht auf die Industrie diese Protestbewegungen nicht für sich thematisieren und in Anspruch nehmen konnten, förderte die politische Elite die Gründung einer Umweltschutzpartei. Diese Partei - die GRÜNEN - diente als Sammelbecken für fast das gesamte Protestpotential. Die Anpassung der neuen Partei an die Bedingungen, die für eine Zulassung zu Bundestagswahlen gestellt sind und die sich einstellende Routine bei der alltäglichen politischen Arbeit bewirkte, daß sich bei der Personalstruktur die sog „Realisten“ gegen die „Fundamentalisten“ durchsetzten. (Der Verdacht, die Grünen könnten von den „Realos“ auch unterwandert worden sein, ist zwar gegeben, aber nicht zwingend.) Am Ende war die Protestbewegung jedenfalls vom politischen System aufgesogen und neutralisiert. Die Partei der Grünen ist heute auf Seiten derer zu finden, gegen die ursprünglich der Protest gerichtet war.

[7] Rudzio, a.a.O., S. 48

[8] vgl. Sontheimer, a.a.O., S. 55 f: Sontheimer sieht Kritik als destabilisierend an. Er nennt sich „einen Intellektuellen mit einem Hang zur common-sense-Argumentation.... Hier kommt die Verantwortung des Geistes ins Spiel.“ S. 56: „insofern sind die linken Intellektuellen (bes. Habermas)... keineswegs nur die >Boten<,... sondern auch die Gestalter und Schrittmacher eines Bewußtseins, das sich mit den gegebenen Verhältnissen in unserer Gesellschaft nicht arrangieren will.“

[9] Sontheimer, a.a.O., S. 30

[10] Rudzio, a.a.O., S. 66

[11] Neue Zürcher Zeitung v. 31.12.97, S. 27, rechte Spalte: Bundespräsident der Schweiz Flavio Cotti: „Englisch wird zur Weltsprache, das ist eine Tatsache.“

NZZ v. 13.1.98, S. 5, rechte Spalte: Ernst Zahn: „Immer mehr Englisch sprechende Dozenten und Studenten, englisch geschriebene Dissertationen, Lehrbücher und Wirtschaftsberichte, der Tourismus ... illustrieren den Trend.“

[12] Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen, Kröners Taschenausgabe Bd. 99, 15. Auflage, 1982, S. 29

[13] s.u., S. 8: Nach Popper sind Ideen - Mythen - (hier: gemachte Geschichte) Vorgriffe auf die Zukunft

[14] Prof. Dr. Berman, Morris: Wiederverzauberung der Welt, deutsch 1985, rororo TB Nr. 794, S. 35 ff

[15] ebd., S. 44

[16] vgl. ebd., S. 26

[17] Heft 36 der „Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung: Extremismus, Terrorismus, Kriminalität, S. 16

[18] ebda, S. 98

[19] vgl. ebd., S. 46

[20] Prof. Singer, Wolf, Dialog der Gehirne, in: Bild der Wissenschaft, Nr. 7/1997, S. 68

[21] Morris Berman schreibt: „Die mechanistische Philosophie und die Trennung zwischen Ding und Wert fanden ihren unmittelbaren Platz in den Richtlinien der Royal Society.“ Nach diesem Vorbild wurde die französische Akademie der Wissenschaften gegründet, und auch bei ihr „war der Begriff der wertfreien Wissenschaft Teil einer politischen und religiösen Kampagne zur Aufrechterhaltung der bestehenden gesellschaftlichen und kirchlichen Struktur Europas.... Die Durchschlagskraft der mechanistischen Weltauffassung kann keinem ihr möglicherweise innewohnenden Sinn zugeschrieben werden, sondern ist (teilweise) das Ergebnis eines mächtigen Angriffs von Seiten der Politik und Religion auf die hermetische Tradition, ausgeführt von den herrschenden europäischen Eliten.“ (S. 119 ff) „... Aber aus politischen Gründen sah es Newton als notwendig an, diesen Teil seiner Persönlichkeit und seiner Philosophie (okkulte, alchemistische Überzeugungen, ein Glied in der Kette der Magier zu sein (S. 126) zu unterdrücken und die nüchterne Fassade eines Positivisten zur Schau zu tragen. (S. 125) „Man könnte sagen, daß Europa, nachdem es die Newton’sche Sicht der Welt übernommen hatte, geschlossen den Verstand verlor.“ (S. 129)

[22] Le Bon, Psychologie der Massen, S. 235

[23] ebd., S. 135

[24] ebd., S. 134

[25] ebd., S. 144

[26] ebd., S. 141

[27] ebd., S. 142

[28] Meyer, Thomas, Ein höfisches Zeremoniell, in DER SPIEGEL Nr. 46/1997, S. 152 ff

[29] Rudzio, a.a.O., S. 228

[30] Sontheimer, a.a.O., S. 132

[31] ebda, S. 56

[32] Sontheimer, a.a.O., S. 54ff

[33] ebda, S. 56: „Hier kommt die Verantwortung des Geistes für das Leben ins Spiel.“

[34] ebda, S. 54

[35] Ursula Hoffmann Lange: „Eliten als Hüter der Demokratie“, in PVS Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 18/1987: Politische Kultur in Deutschland - Bilanz und Perspektiven der Forschung. Hrsg.: Dirk Berg-Schlosser und Jakob Schüssler, S. 381

[36] Sloterdijk, a.a.O., S. 45

[37] Im falsch verstandenen Darwinismus wird vom Überleben des Stärkeren - Survival ofthe fittest - ausgegangen. In Wahrheit sterben jedoch jene Spezies aus, die sich vom vernetzten System des Weltganzen isolieren, und das sind häufig gerade jene o.g. „fittesten“! Da das EGO des Menschen Produkt seiner Abgrenzung vom Andern ist, kann gefolgert werden, daß das, worauf die „Fittesten“ so stolz sind - Ihr EGO - den Keim ihres Untergangs enthält.

[38] Sloterdijk, a.a.O., S. 54

[39] Le Roy Ladurie, Nichts gelernt, nichts vergessen, in DER SPIEGEL Nr. 44, v 27.10.1997, S. 186

[40] ebd., vgl. S. 186 - 193

[41] Prof. Dr. Vester, Frederic, Das vemetzte System,

[42] vgl Sontheimer, a.a.O., S. 56 oder diese Arbeit Fußnoten 8 und 31

[43] Popper, Karl. Kreuzer, Franz: Offene Gesellschaft - Offenes Universuni, München 1986, S. 32: „Die Wissenschaft stammt vom Mythos.“

[44] Ebda, S. 22

[45] ‘Popper, a.a.O. S. 55: „Weiße Schwäne - schwarze Schwäne“

[46] vgl. Roger Penrose: Computerdenken: die Debatte um künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg 1991, S. 327

[47] ebda, S. 331ff, 357f

[48] vgl. Popper, a.a.O., S. 67: „Organe sind Hypothesen“

[49] Le Bon, a.a.O., S. 147

[50] Darunter verstehe ich jene praktischen* Philosophen, die unerkannt hinter den Bergen aus Scharlatanerie und Desinformation, wo die vertauschten Werte gelten, wo Unwichtiges wichtig und Wichtiges lächerlich gilt, leben. Unsichtbar im Mantel der Lächerlichkeit tun sie ihr Werk. Sie wissen, wie man inkognito lebt: Man fördert die Schwätzer, Quacksalber, Schwindler und Gaukler, bis alle Welt weiß: Religion, Esoterik und Magie sind lächerlich. Magier sind Menschen, die das, was die Verwirrten ‚Zufall’ nennen, außerhalb der Kausalität mittels einer zweiten Kausalität, die mit der Erschaffung eines Mythos in Gang gesetzt wird, zu steuern vermögen. (vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, These der dritten Antinomie.)

* Wenn Denken und Handeln, Geist und Materie, Wille und Vernunft jeweils gleichgewichtig in einem Menschen zusammengefunden haben, dann ist dieser ein handelnder, praktischer Philosoph.


* 20.8.2003: Mit diesem Schritt "falsifiziert" Popper seine eigene Philosophie! Wenn er Theoriebildung (und Pläne) als Vorausgriff auf die Zukunft deklariert und dann genau diese Theoriebildung als der Evolution, die keine Zukunft, keine Pläne, kennt, unterworfen ansieht, so widerspricht er seinen eigenen Wissenschaftsphilosophie. Pläne, die durch Zufall entstehen, sind keine Pläne! Ebenso Poppers Staatstheorie: Wenn er von der Demokratie Ideologiefreiheit verlangt ("Weg der kleinen Verbesserungen: Hinschauen, wo der Schuh drückt, dann das Problem beseitigen.") verlangt er genaugenommen, daß man sich nicht an seine Lehre halten soll.

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