Datum: 18.05.1998
Thema: Popper versus Kuhn: Kritischer Rationalismus versus Wissenschaftsgeschichte
Die
Philosophie Thomas Kuhns
von Hans-Joachim Heyer
8.10.2002
Vorwort (16.3.2001): Ich
erachte Kuhns Philosophie für wichtig, weil durch sie verständlich
gemacht wird,
daß sich die Welt nicht kontinuierlich, sondern schubweise ändert,
daß Veränderungen von der Masse der Bevölkerung (und der Wissenschaft)
als "verrückt" (revolutionär) angesehen wird,
daß die Vergangenheit der Welt wahrscheinlich sehr viel anders ausgesehen
hat, als unsere gegenwärtigen Rückrechnungen und Glauben machen wollen.
Während Popper noch Angriffe gegen den Induktivismus vortrug und seine Schüler Poppers Methodologie weiterzuführen versuchten, erwuchs dem Popperschen Denken plötzlich und unerwartet eine neue Gegnerschaft im Lager der Wissenschaftsgeschichte. Der bedeutendste Vertreter dieser Richtung ist Thomas S. Kuhn. (1/111)
Kuhns Kritik an Poppers Falsifikationismus
hat nicht nur bloße Ernüchterungen, sondern Entsetzen ausgelöst. Danach können naturwissenschaftliche Theorien auch nicht empirisch widerlegt werden. Eine Theorie geht nicht durch Widerlegung zugrunde, sondern dadurch, daß sie von einer neuen Theorie verdrängt wird und daß die Anhänger der alten Theorie allmählich aussterben.(1/112)
Kuhn weist nach, daß jene Beobachtungen, die eine Theorie angeblich zu Fall bringen sollen, selbst theorieabhängig sind. Ohne Theorie 'im Hinterkopf' können überhaupt keine Beobachtungen gemacht werden. Auch bei Prüfbeobachtungen gilt die Deduktion. (1)
Nach Popper kann zum Beispiel die Theorie, alle Schwäne seien weiß, widerlegt werden, indem ein schwarzer Schwan entdeckt wird. Nun ist jedoch die Existenz schwarzer Schwäne insofern wiederum theorieabhängig, daß man den neu entdeckten Vogel als Schwan klassifiziert. Erst nachdem man dies getan hat, kann die Beobachtung des schwarzen Vogels zur Falsifikation herangezogen werden. Nun kann eine bereits falsifizierte Theorie durchaus rehabilitiert werden, zB indem man nachweist, daß jener schwarze Vogel gar kein Schwan ist. Dies bedeutet: Theorien können weder endgültig verifiziert, noch endgültig falsifiziert werden.
Weiterhin weist Kuhn durch wissenschaftsgeschichtliche Analysen nach, daß die Ablösung alter Theorien durch neue nicht nach Poppers Schema verlaufen. Alte Theorien werden nicht falsifiziert, sondern alte Theoretiker werden von neuen Theoretikern verdrängt. Stegmüller schreibt:
Wird ein normaler Wissenschaftler mit seinen Schwierigkeiten nicht fertig, so diskreditiert dies nur ihn selbst, nicht jedoch die Theorie. Die falsifizierenden Erfahrungen im Sinne Poppers sind nicht für die Theorie nachteilig, sondern für die diese Theorie benutzende Person. Wenn ein Forscher das Paradigma mit den Tatsachen nicht in Einklang bringt und dafür die Theorie verantwortlich macht, dann verhält er sich, sagt Kuhn, in den Augen seiner Kollegen wie der schlechte Zimmermann, der seinem Werkzeug die Schuld gibt (1/113)
Theorien sind gebunden an common sense von Wissenschaftlergruppen, die miteinander konkurrieren um gesellschaftliche Dominanz. Wir sehen hier die Nähe Kuhns zur Soziologie oder gar zur Politik, wenn wir bedenken, daß es auch geschehen kann, daß zB Naturwissenschaftler oder Politiker von Ökonomen oder einem "organisierten Verbrechertum" verdrängt werden können. Das sagt auch Paul Feyerabend (sinngemäß) über Kuhn, wie Chalmers auf Seite 111 seines Werkes zeigt:
Das Abgrenzungskriterium von Kuhn wurde ... von FEYERABEND (1974, S. 194f.) (kritisiert) mit der Begründung, daß die Unterscheidung von Kuhn zu der Schlußfolgerung führen würde, daß sowohl das organisierte Verbrechen als auch die "Oxford-Philosophie" die Bezeichnung "Wissenschaft" verdienten.
Und Stegmüller schreibt angesichts der schwindenden Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Systemen:
Gilt das von Kuhn Gesagte nicht viel eher für politische und religiöse statt für wissenschaftliche Revolutionen? (1/120)
Kuhn entwirft das Szenario, daß jeder Wissenschaftler in eine soziale Gemeinschaft hineingeboren wird und mit all ihren Vorstellungen, Gewohnheiten, Traditionen, Werten, Gedanken usw durchtränkt wird. Mit diesem Gepäck macht er sich auf den Weg, um in die Gemeinde der wissenschaftlichen Society einzutreten. Hier lernt er die gegenwärtig vorherrschende Sichtweise und Methodik, von Kuhn "Normalwissenschaft" genannt. In dieser Phase sind die Wissenschaftler "unkritische Dogmatiker", die ihr Tun zugunsten gesellschaftlichen Erfolgs nicht hinterfragen (1/120).
Diese Normalwissenschaft ist eine Art Großtheorie, von Kuhn vorwiegend "Paradigmensystem" genannt, die die Art der Weltbetrachtung, der Intuition, der Gedanken, Gefühle - also die Welt, in der wir zu leben glauben - vorgibt. Mittels wissenschaftlicher Tätigkeit wird nun dieses System nach und nach ausgebaut und verbessert (Kuhn nennt dies "Konsolidierungsphase") - solange, bis zumindest einem Menschen Anomalien - Unstimmigkeiten, Widersprüche - auffallen. Mit diesem Schritt hat er bereits den Rahmen des vorher Denkmöglichen bereits verlassen. Er tritt nun in das Stadium der 'außerordentlichen Wissenschaft' ein. Das Weltmodell dieses Wissenschaftlers gerät unter Umständen in eine wachsende Krise, die schließlich irgendwann in eine wissenschaftliche Revolution mündet: Ein neues Weltmodell entsteht, das für ihn die Anomalien und Widersprüche ausgeräumt hat. Hier ist entscheidend, daß das neue System keinesfalls logisch aus dem alten folgt. Der Umbruch selbst ist nicht rational/wissenschaftlicher Art, sondern ein metaphysischer Akt. Demnach ist die Wissenschaft kein 'Vernunftgeschäft', sondern eine Sache des 'Willens' der menschlichen Gemeinschaft oder wie Stegmüller formuliert: "Glaube und Hoffnung" (1/120).
Theorien werden stets durch gedankliche Spekulationen gewonnen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Naturwissenschaften nicht von der Metaphysik (1/110).
Nach ihrer Entstehung muß das neue Paradigmensystem sich noch ausbreiten und das alte ablösen. Kuhn schreibt, daß dies nicht durch Überzeugungsarbeit, sondern durch Propaganda und Überredung geschieht. Grund: Das neue Paradigma ist noch unausgereift und verfügt nur über schwache Argumente. Die Reifung geschehe ja erst in der Konsolidierungsphase. Die Paradigmenwechsel kommen so religiösen Bekehrungserlebnissen (1/119) gleich. Die Opponenten reden fortan aneinander vorbei und gebrauchen zirkelhafte Scheinargumente. Chalmers schreibt:
... daß Anhänger rivalisierender Paradigmen im gewissen Sinne "in verschiedenen Welten" leben (2/ 97).
Es wird jetzt deutlich, daß es bei einer solchen Entwicklung der Wissenschaft weder einen geradlinigen, noch kumulativen Wissenszuwachs gibt (1/112). Obwohl Kuhns Theorie aus einem wissenschaftsgeschichtlichen Ansatz entwickelt wurde, ist seine Paradigmentheorie selbst im Grunde geschichtsauflösend! Denn das neue Paradigma wird ja erkauft durch völliges Mißverständnis des alten. Geschichte gibt es nur noch in der sogenannten 'Konsolidierungsphase'. Das Neue geht nicht logisch nachvollziehbar aus dem Alten hervor. Dadurch wird die Geschichtsschreibung zu einer zusammenhanglosen Sammlung mythologischer Geschichten. Stegmüller fragt:
Ist das nicht das Ende der wissenschaftlichen Rationalität überhaupt?" (1/112).
Offensichtlich ist Stegmüllers Paradigmensystem durch Kuhn in eine Krise geraten, denn er bemühte sich anschließend um Reparatur seiner alten Denkgewohnheiten. So fand er in seinem Bemühen, Poppers und Kuhns Philosophien gegeneinander auszuspielen, um eine Resultante herauszufiltern, die durchgängig rational und kausal ist und keine metaphysischen Irrationalitäten mehr enthält, bei Sneed die Idee von einen sogenannten "mathematischen Strukturkern", der bei Paradigmenwechseln stets erhalten bleibt und sogar langsam wächst.
Als Beispiel nannte Stegmüller die Formel "Kraft gleich Masse mal Beschleunigung". Diese Formel sei in jedem System unwiderlegbar. Ich denke jedoch, daß Stegmüller hier irrt. Diese Formel gilt nur in einem raum/zeitlichen Paradigmensystem.
Stegmüller geht in seiner Argumentation davon aus, daß das neue Paradigma mehr leistet, als das alte ("Fortschritt"), daß es also sowohl die Fragen des alten beantworten, als auch dessen Ungereimtheiten klären kann. Er stellt durch diesen Vergleich eine Beziehung zwischen Paradigmensystemen her, nämlich Kontinuität und Kumulation, die Kuhn verneint hat. Wo Kuhn einen logischen Bruch in der Kette von Zuständen sah, konstruiert Stegmüller in seinem Bemühen, die Rationalität zu retten, eine logische Verbindung. Hier fällt Stegmüller genau dem Mißverständnis zum Opfer, das Kuhn zwischen Vertretern unterschiedlicher Paradigmensysteme konstatierte.
Auch glaubt Stegmüller eine Versöhnung beider Theorien hergestellt zu haben, indem er Poppers Falsifikationismus in Kuhns Theorie einbrachte. Ich möchte allerdings anmerken, daß er ihn nur in Kuhns "normaler Wissenschaft" einband. Hier hätte Kuhn auch sicher nichts dagegen einzuwenden gehabt. Aber Falsifikation aus einem Paradigma, geltend für ein anderes, lehnte Kuhn strikt ab. Die Versöhnung beider Theorien und die Rettung einer durchgängigen Rationalität ist Stegmüller also nicht gelungen. Desweiteren ist nicht geklärt, woher der Impuls kommt, der die Menschen über ihr jeweiliges Paradigma hinausführt. Ich persönlich vermute hier eine geistige Elite am Werk, die mittels ihrer finanziellen Möglichkeiten darüber entscheiden kann, was dem Normalwissenschaftler Erfolg bringt: Wirtschaftssponsering!
Benutzte Literatur:
1) Wolfgang Stegmüller:
Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel. Stuttgart 1986,
S. 108 - 130
2) A.F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. 3. Auflage. Berlin u.a. 1994, Kapitel
4, 8
3) Adorno, Theodor W. u.a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie.
Darmstadt, Neuwied 1972