Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Philosophische Fakultät
Proseminar Wintersemester 1998/99
Einführung in die Wissenschaftstheorie (vorzugsweise) der empirischen Wissenschaften
Leiter: Prof. Dr. xxxxxx
Referent: Hans-Joachim Heyer
Der (Radikale) Konstruktivismus - Thesenpapier
2.12.2004

(Anm.: 2.12.2004: Das Thesenpapier war als Handzettel für die Studenten gedacht, damit sie bei meinem mündlich vorgetragenen Referat nicht so viel mitschreiben müssen und besser zuhören können)

Beginnen möchte ich mit noch einem Wort zum Wesen der Naturwissenschaft. Ausgangspunkt dieser Disziplin sind die menschlichen Sinnesorgane: Wir schauen hin, und aus dem, was wir sehen, bauen wir unser wissenschaftliches Weltbild auf. Die Naturwissenschaft hat nun gelernt, noch wesentlich genauer hinzuschauen: Sie benutzt Mikroskope, Fernrohre und andere Methoden des genauen Hinschauens. Auf diese Weise bekommt sie ein schärferes Bild von der Welt, eine differenziertere Erscheinungswelt.

Aber es gibt noch eine weitere Methode, mit deren Hilfe man gültiges Wissen erlangen kann. Dazu braucht man bloß die Perspektive zu wechseln: Statt die Sinne in den Mittelpunkt zu stellen, stellen wir nun unsere Gehirne ins Zentrum. Schließlich sitzen wir, also unsere 'ICHs', in unseren Gehirnen und versuchen von hier aus die Welt zu betrachten! Dabei müssen wir feststellen, daß unsere Gehirne von je einer Knochenkapsel eingeschlossen sind! Wie sollen sie da Kontakt zur Außenwelt erhalten? - Natürlich über die Sinnesorgane. Aber von den Sinnesorganen bekommt das Gehirn keineswegs Licht und Geräusche geliefert, sondern bloß Nervenimpulse. Nervenimpulse sind das Einzige, was uns, also unseren Gehirnen, unseren 'Ichs', zur Verfügung steht. Genaugenommen weiß das Gehirn noch nicht einmal, ob es über einen Körper mit Augen und Ohren verfügt. Auch von sich selbst weiß es noch nichts. Es hat nichts als Nervenimpulse. Und diese versucht es dann nach Plausibilitätskriterien zu ordnen. Kommen die Impulse vom Gehirn selbst, vom eigenen Körper oder von einer möglichen Außenwelt? Es stellt sich versuchsweise einem dreidimensionalen Raum vor und bildet sich selbst darin materiell als Gehirn und Körper ab. Nun gibt es ein 'drinnen' und ein 'draußen'. Der Raum dient ausschließlich als Ordnungssystem und die Materie als Darstellung der vermeintlichen Ursachen von Nervenimpulsen. In ständigen Versuchen, alle Nervenimpulse in ein zusammenpassendes Ganzes zu bringen, entsteht im Raum eine materielle Welt, von Gerhard Roth (1) 'kognitive Welt' genannt. Weisen die internen Ordnungsversuche innere Stimmigkeit (Konsistenz) auf, gilt der o.g. Versuch als geglückt und die Konstruktion als der Realität entsprechend. Trotzdem gilt: Alles, was wir zu sehen und zu erleben glauben, ist eine Konstruktion des realen Gehirns - einschließlich der Augen und des Gehirn, selbst. Ja, das Gehirn ist gar nicht das Ding, das denkt, sondern es ist eine materiell gestaltete Vorstellung unseres realen Gehirns von sich selbst. Es ist also gar nicht so, daß unsere Gedanken in unserem Gehirn sind, sondern umgekehrt: Unser Gehirn ist in unseren Gedanken oder besser in unserem realen Gehirn.

Da Raum, Zeit, Materie, Form, Bewegung und Vielheit in all ihren Beziehungen, also so, wie sie sich uns als Welt zeigen, deckungsgleich mit dem sein müssen, woraus sie hervorgegangen sind, schließt Gerhard Roth, daß die 'reale Welt', aus der die 'kognitive Welt' hervorgegangen ist, der kognitiven Welt sehr ähnlich sein müsse. Aus diesem Grund spricht er vom "unzugänglichen materiellen realen Gehirn" im Unterschied zum "kognitiven Gehirn". Er sagt, daß auch in der realen Welt Tiere und Menschen, die ein Gehirn besitzen, leben. (2)

In meiner Kritik führe ich an, daß Roth sich durch seine Gleichsetzung von realer und kognitiver Welt um die Früchte seines konstruktivistischen Denkens gebracht hat. Man muß zwar das kognitive Hirn als Teilmenge des realen Gehirns ansehen, nicht jedoch als identisch mit ihm, denn das reale Gehirn existiert nicht in Raum und Zeit. Das heißt, es muß anders sein, als dessen dreidimensionale Vorstellung. Da es Raum produziert, muß es selbst ohne Raum, also alokal, sein. Da es die lineare, physikalische Zeit produziert, muß es selbst zeitlos sein, also ewig. Und es muß kognitive Verknüpfungen herstellen können, die im Raum-Zeit-System des kognitiven Hirns nicht (nach)vollzogen werden können: paraphysikalische Verknüpfungen. Ich sehe mich daher berechtigt, nicht wie Roth von einem "realen Gehirn" zu sprechen, was Ähnlichkeit zum "kognitiven Gehirn" suggeriert, sondern von einer "Seele". Wir sind Seelen ohne Zeit, also ewige Seelen, und Geister ohne Raum, also überall und nirgendwo, unendlich groß und unendlich klein zugleich! Und wir sind kognitiv getrennt von anderen Seelen: also sind wir ontische Wesen. Unsere materiellen Körper sind nur halluzinierte Projektionen unserer Seelen, wie sie sich selbst im selbstgeschaffenen Raum und Zeit vorstellen! Die wahre Welt sähe demnach so aus, daß es nur Seelen gibt, die diese kognitive Welt in einem kollektiven Traum träumen. Die Welt ist ein soziales Konstrukt.

In den Kapiteln über die "Autopoietischen Systeme" (selbsterschaffende Systeme) wird von Systemen gesprochen - nicht über Seelen. Diese Systeme, aus denen Raum, Zeit, Materie, also die Welt samt Menschen und Gehirnen und deren Kognition hervorgegangen sei, organisieren sich selbst, indem sie andere Systeme so beeinflussen, daß jene wiederum sie selbst erhalten. So entsteht Stabilität - Invarianz - durch eine Art Fließgleichgewicht: die Dinge der Welt.

Die Prozesse, die u.a. die lineare physikalische Zeit hervorrufen, werden als zyklische Rückkopplungssysteme beschrieben. Es sind genau diejenigen Prozesse, die ich dem "Seelenleben" zugeschrieben habe. Da auch in autopoietischen Systemen die Zeit zyklisch ist, sind auch diese ewig und alokal.

Schluß: Der Radikale Konstruktivismus ist ein geniales Konzept, das leider von ihren Erfindern und Protagonisten an den Stellen aus Unwissenheit, Furcht oder Mutwillen auf irrationale Weise entstellt worden ist, wo er zur Selbsterkenntnis des Menschen von gewaltigem Nutzen sein könnte: Zur Wiederentdeckung der unsterblichen Seele, des spirituellen Seins - und als fundierte ontologische Position gegen den Solipsismus und gegen den modernen Seins-auflösenden Operationalismus und Strukturalismus.

(1) Gerhard Roth: "Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit". sowie "Autopoiese und Kognition - Die Theorie H. K. Maturanas und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung in: Siegfried Schmidt (Hrsg.) "Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus". stdukamp 1996
(2) Gerhard Roth: "Das Gehirn weiß wenig von der Wirklichkeit" in: bild der wissenschaft" Nr. 10/98

Anmerkungen Prof. Dr. xxxxx:

a) zum ersten Absatz: zu simpel! Entspricht nicht den Tatsachen!
b)
zu Abs.2: "gültiges Wissen": Wieso ist die erste gültig?
c)
zu: Anfang der Arbeit bis "Auch von sich selbst weiß es noch nichts": Vorspann versachlichen und von Roth her entwickeln! Durch schrittweisen Aufbau vn Roth's Konzept!
d) Roth's Konzept nur in Spuren! So nicht überzeugend!
e) Die Kritik setzt viel zu früh ein. Die Beweisführung ist unzumutbar schmal!
f)
zu meiner Einführung des Begriffes "Seele": Unwissenschaftlich!
g)
zu "ontische Wesen": Ontophysik! Kaum nachvollziehbar!
h)
zu "sie selbst erhalten" (zweitletzter Absatz): ???
i)
zu "Zyklisch" (zweitletzter Absatz): Wo steht das?
j)
zu "Unwissenheit, Furcht oder Mutwillen": unhaltbar!
k)
Schlußbemerkung: kühne, genauer: abenteuerliche Schlußfolgerung auf einer Mini-Miniatur-Basis von recherchiertem Sachverhalt: Erste Pflicht des ... und Vermitteln des Gedachten: Objektive neutrale Information. Sie wird nicht hier nicht geliefert, nicht ausreichnd geliefert.

Sehr geehrter Herr xxxxx,

leider kann ich Ihrer Bitte, mein Thesenpapier zum Thema ..Konstruktivismus" zu ändern, nicht entsprechen, da mir ihre Kritik daran nicht einleuchtet.

1. Die Naturwissenschaft ist (auch historisch) von der Sinneswelt ausgegangen. Roth nennt dies die "sinnesphysiologische Perspektive.", (1) die ich im ersten Absatz mit einfachen Worten skizziert habe. Der Konstruktivismus ist aus einem Perspektivwechsel hervorgegangen. Dies zu zeigen, ist mein Anliegen.
Obwohl derselbe Gegenstand nur von anderer Perspektive aus betrachtet wird, ergibt sich neues Wissen.

2. Es war mein Anliegen, die Essenz des Konstruktivismus, bzw. die Essenz der beiden Aufsätze Gerhard Roths möglichst knapp - auf einer DIN A4-Seite - wiederzugeben. Absatz 2 und 3 zeien ausschließlich Roths Konzept. Ich denke, daß es mir gelungen ist, sein Konzept klar darzustellen.Ich finde es unangemessen, mir nun diese angestrebte Knappheit (es handelt sich wohlgemerkt um ein Thesenpapier, nicht um die die eigentliche Arbeit!) zum Vorwurf zu machen. Trotzdem: Wo ist auf einer DIN A4-Seite mehr über den Konstruktivismus geschrieben worden? Geschichtliches habe ich mit Absicht weggelassen, da es nichts mit der Theorie zu tun hat.

3. Die im Verhältnis zum Haupttext allzu ausführliche Kritik am Roth'schen Konzept ist Ergebnis meiner Einschätzung, daß ich hier bei den Lesern mit größerem Widerstand rechnen mußte. Meine Einschätzung hat sich als richtig erwiesen, wie Ihre Anmerkungen zeigen. Ich versuchte meiner Vorahnung Rechnung zu tragen, daß der Konstruktivismus besser bekannt ist, als meine Kritik an ihm. Aus diesem Grund stellte ich die Kritik ausführlicher dar.

4. Selbstverständlich ist der Radikale Konstruktivismus unwissenschaftlich, denn er ist eine Philosophie und keine Wissenschaft. Er hinterfragt Wissenschaft. Wenn Sie verlangen, daß Darstellungen von philosophischen Systemen ausschließlich nach wissenschaftlicher Methode zu geschehen haben, erzwingen Sie implizit das Resultat, daß sich am Ende aller Überlegungen sämtliche philosophische Systeme als unbrauchbar und überflüssig erweisen und die Wissenschaft als einzig fruchtbares System übrigbliebe. In diese Falle, in die schon viele Philosophen getappt sind, werde ich mich nicht begeben. Sie verlangen "objektive und neutrale Information". Diesen Anspruch kann man nur von einem "naiv-realistischen" oder "positivistischen" System ausgehend erheben. Der Radikale Konstruktivismus entlarvt diese Art von "Information" als illusorisch: Information ist nie objektiv und nie neutral. Sie ist intersubjektiv und wertend.

5. Wenn meine Aussagen teilweise metaphysisch sind, müssen sie nicht falsch sein. Jede Philosophie ist weiter als die Physik gefaßt und hat deshalb notwendig metaphysische Anteile - ja, ist metaphysisch!) Welcher Grund soll mich hindern, Roths 'reales Gehirn' 'Seele' zu nennen, um deutlich zu machen, daß das 'reale Gehirn' völlig anders 'aussieht', als das kognitive, da es weder Größe noch Dauer hat? Ich habe einen Begriff definiert und eingeführt. Das ist nicht unwissenschaftlich! Ich wollte Roths Fehler, das "reale Hirn" dem "kognitiven Hirn" am Schluß seiner Argumentation wieder gleichzusetzen, entlarven und für die Zukunft vermeiden helfen, indem ich einen Begriff für das "reale Hirn" wählte, den ich für den angemessensten erachtete.

6. Im Konstruktivismus mußte die Frage geklärt werden, wie System a System b informieren kann, ohne die Grenzschichten zwischen Innen und Außen beider Systeme passieren zu müssen. (So fordert es die Autopoiese.) Man kam auf die Idee der Resonanzen. In diesem Szenario hat eine physikalische Außenwelt
keinen Platz. Es ist deshalb berechtigt, daß ich den Konstruktivismus auf meine Weise weiter entwickelte. Schon seit 4 Semestern versuchen Sie mir alle eigenen Gedanken auszureden. Warum? - Dies führt zu 7.

7. Unwissenheit, Furcht und Mutwillen von MENSCHEN - nicht bloß die reine Logik - bestimmen über philosophische Theorien und/oder deren Ablehnung. Alle phil. Systeme sind Ausdruck der Persönlichkeit ihrer Protagonisten. Das ist anders, als bei der Wissenschaft. Wissenschaft ist unpersönlich und macht Menschen zu Unpersonen.

8. Die physikalische 'Zeit' ist nach konstruktivistischer Theorie ein kognitives Produkt ('kognitive Zeit') und muß aus Prozessen (nämlich autopoietischen) hervorgehen, die einer anderen Zeit unterworfen sind. Lt. Relativitätstheorie ist die Zeit ans Licht gekoppelt. Da Licht Produkt von Kognition ist, ist es die Zeit ebenfalls. Die der physikalischen Zeit übergeordnete 'reale Zeit' muß innerhalb der autopoietischen Strukturen ablaufen. Sie bildet für diese keinen Rahmen. Roth und andere Konstruktivisten sind diesen Fragen ausgewichen. Das können Sie mir nicht zum Vorwurf machen. Was ich geschrieben habe, ist jedoch logisch zwingend (wenn auch im Thesenpapier nur sehr knapp dargestellt).

9. Leider weiß ich immer noch nicht recht, was Sie mit ihrer Kritik bezwecken. Immer, wenn ich eigene Ideen äußere, werden Sie nervös. Man kann sich nicht zuerst zu Objektivität und Neutralität disziplinieren und dann, wenn man sein Handwerkszeug beherrscht, Kreativität und Phantasie walten lassen. Man muß immer beides gleichzeitig schulen.

10. Operationalismus und Strukturalismus (He, 2.12.04: die vom Prof. favorisierten Systeme) berücksichtigen nicht die Geschlossenheit des kognitiven Systems (der Seele). Deshalb entwickeln sie andere Strukturen als der Konstruktivismus.

11. Trotz allem waren und sind unsere immer wieder neu aufflammenden Mißverständnisse sehr fruchtbar für mich. Ich will nicht ausschließen, daß ich mich irgendwann einmal Ihrem Standpunkt anschließen werde, aber noch ist es nicht so weit. Ich bitte Sie deshalb, mir meinen Dickkopf zu entschuldigen.

Herzliche Grüße ihr

1 Siegfried 7. Schmidt: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, 1996, S. 231

Nachtrag 2.12.2004: Ich hatte in meinem Brief vergessen, auf die Anmerkung Prof. xxxxxx "Wieso ist die erste gültig?" einzugehen. Das möchte ich hier nachtragen: Die naturwissenschaftliche Methodik erschließt sich ein Wissen, welches für technische Berufe als gültig, als erfolgreich anwendbar, gilt. Es ist gültig bei der Einnahme eines objektiven, neutralen Standpunktes. Der Konstruktivismus in seiner von mir korrigierten Fassung ist gültig für den subjektiven Standpunkt eines Menschen.

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