Owen Flanagan: Hirnforschung und Träume, Geistestätigkeit und Selbstausdruck im Schlaf [1]

von Hans-Joachim Heyer (2000)

Ich werde hier nicht Flanagans Arbeit nacherzählen; den Text kann jeder selber nachlesen. Ich möchte seine Argumentation nur soweit darstellen, wie ich sie für mein Anliegen brauche.

Flanagan beginnt seinen Aufsatz mit einer Art Rechtfertigung der von ihm unterstützten Hirnforschung. Er beginnt mit den Worten: „Viele glauben, daß neurowissenschaftliche Darstellungen mentaler Phänomene Bedeutung oder Sinnhaftigkeit zerstören“ (491) und gibt zu: „Selbstverständlich verändern neurowissenschaftliche Darstellungen unser Verständnis mentaler Phänomene. Jedoch läßt sich der allgemeine Vorwurf, daß die Hirnforschung inhärent eliminativ, reduktiv oder gar ein Feind der Bedeutung sei, keineswegs stichhaltig erweisen.“ (491)

Ich möchte darauf hinweisen, daß bereits in diesen einleitenden Worten eine Tautologie verborgen liegt, denn die Widerlegung einer Zerstörung der Sinnhaftigkeit soll genau von der Art des Denkens ausgehen, welchem der Vorwurf der Sinnzerstörung gemacht wird, denn unter „erweisen“ ist sicher ein empirisches Erweisen gemeint. (Rationalität und Logik können sich selbst nicht widerlegen; insbesondere kann sie keine Zerstörung von Sinnhaftigkeit aufdecken.)

Außerdem möchte ich hinzufügen, daß neurowissenschaftliche Darstellungen nicht nur unser Verständnis mentaler Zustände verändern, sondern die mentalen Zustände selbst verändern! Das hat weitreichende Folgen.

Ein treffendes Beispiel dafür erlebte ich vor Monaten in meinen Newsgroup - Diskussionen mit Biologen im Internet, mit denen ich über philosophische Aspekte der Evolutionstheorie diskutieren wollte; genauer: über den strukturellen Zusammenhang zwischen Evolutionstheorie und der wissenschaftlichen Methode. Diese Evolutionsexperten besaßen ein ausdifferenziertes Vokabular für biologische und evolutionstheoretische Erwägungen. Sie konnten innerhalb dieses Systems klar denken, aber sie vermochten nicht, ihr System distanziert zu betrachten; sie waren Gefangene des Systems. Der einzige systemsprengende Satz, zu dem sie fähig waren, lautete: „Das ist ja Philosophie!“

Desweiteren erinnere ich noch einmal an meine obigen Ausführungen bezüglich der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Für Menschen, die jahrelang wie selbstverständlich in den Bahnen der Relativitätstheorie zu denken gewöhnt sind, ist es nicht ohne weiteres möglich, diese Gewohnheit zu durchbrechen.

Nun wollen wir einmal zusehen, wie Flanagan Neurowissenschaft und Philosophie verbindet.

Er sieht fünf philosophische Probleme in Bezug auf Träume:

1.        Wie kann ich sicher sein, daß ich nicht immer träume?
2.        Kann ich in meinen Träumen unmoralisch sein?
3.        Sind Träume Erlebnisse?
4.        Hat das Träumen funktionale Bedeutung?
5.        Können Träume weder einer natürlichen Art angehören noch eine adaptionistische, evolutionäre Erklärung besitzen und dennoch einen Sinn ergeben, dennoch die Identität des Träumenden ausdrücken und diese Identität konstituieren?

Die ersten drei Fragen hat Flanagan nur sehr knapp behandelt und meiner Meinung nach zum Teil falsch beantwortet. An meinen Ausführungen über den Radikalen Konstruktivismus wird deutlich, daß wir uns nämlich keineswegs sicher sein können, daß wir nicht immer träumen. Unsere erlebte Welt ist stets geträumt. Daß unsere (mentale) Wachwelt eine gute Simulation einer postulierten realen Außenwelt sei, ist pure Spekulation. Je weiter die Physik fortschreitet, desto deutlicher wird uns die Abweichung unserer erlebten Welt von der Welt, wie sie die Physik erschließt.

Auch die zweite Frage beantworte ich anders, als Flanagan, denn ich behaupte, daß wir in unseren Träumen amoralisch sind. Die Moral taucht in Träumen meist in personifizierter Gestalt auf, zB als Polizist oder Richter, was zeigt, der innere moralische Zensor ist beileibe nicht immer anwesend und ist auch oft nur sehr beschränkt mächtig, sonst könnten wir sie in den Träumen nicht so leicht austricksen.

Erst in der Antwort auf die dritte Frage stimme ich im Ergebnis mit Flanagan überein: Ja, Träume sind Erlebnisse. Es stellt sich nur die Frage: Wessen Erlebnisse? Schließlich ist das Ich im Traum auch nur geträumt. Kann ein geträumtes Ich Erlebnisse haben? Oder hat mein „reales Ich“ diese Erlebnisse? Dann kann ich sie allerdings erst nach dem Aufwachen haben, weil ich dann erst bewußt bin. Man kann natürlich aus den Traumerlebnissen auch schließen, daß man auch ohne Ich Erlebnisse haben kann – ein Gedanke, der vielen Menschen Probleme macht...

Die vierte Frage beantwortet Flanagan so, daß er Träume für Nebenprodukte, für automatische Folgeerscheinungen des Schlafzustandes hält. Diese nichtintendierten Folgen seien nicht selektiert worden; die eigentliche Funktion des Schlafs sei die Auffüllung von Neurotransmittern und Hormonvorräten und dergleichen. Ich halte seinen Ausführungen entgegen, daß er es sich zu einfach macht. Mit gleichem Recht könnte ich dann auch behaupten, die Gene seien nicht selektiert worden, da diese ja nur für die Mutation zuständig sind. Selektiert wird erst der Körper. Ich denke, man muß den Menschen als Ganzes sehen. Traumzustände sind auch Zustände. Ein Mensch, der träumt, kann mehr Zustände einnehmen, als ein nichtträumender. Er kann flexibler mit der Umwelt umgehen. Wesentlich gravierender ist jedoch die Tatsache, daß Flanagan hier die Evolutionstheorie ins Spiel bringt und in diesem Zusammenhang Schlüsse zieht, die nach meinen Erkenntnissen falsch sein müssen. Selbstverständlich werden Träume nicht selektiert, denn sie befinden sich ja überhaupt nicht in der physikalischen, bzw. kognitiven Welt! Dazu weiter unten mehr!

Die fünfte Frage erscheint mir ziemlich unverständlich: Was bedeutet: „Können Träume einer natürlichen Art angehören..“? Desweiteren fragt Flanagan, ob Träume eine evolutionäre Erklärung besitzen können und dennoch Sinn ergeben und die Identität des Träumenden ausdrücken, bzw. konstituieren? Flanagan antwortet mit „ja!“, was meint, daß Träume zwar Abfallprodukte der Evolution sind, aber daß sie trotzdem Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Gehirns und auf unsere internen Zustände zulassen. Hier ist der Begriff „Sinn“ mißverständlich benutzt worden, denn es geht dem Autor darum, mit Hilfe von Träumen einen Mechanismus (Arbeitsweise) zu entschlüsseln. Demnach wird hier unter „Sinn“ nur der Zweck verstanden, Sinnhaftigkeit zu eliminieren. Und nicht zuletzt verfällt Flanagan auch bei dieser Frage wieder in eine für die Bewußtseinsforschung unbrauchbare Denkungsweise.

Die folgenden Abschnitte Flanagans Arbeit sollen hier nur kurz umrissen werden, da sie für meine Arbeit weniger wichtig sind und weil der knappen Zeit des Referat wegen immer Opfer gebracht werden müssen. Ich erachte sie allerdings für erwähnenswert, da reine Beobachtungen selbstverständlich auch von einer Theorie wie der von Gerhard Roth berücksichtigt werden müssen. Die in Flanagans Text geschilderten Beobachtungen sind sicher wertvoll; nur den Interpretationen stehe ich mißtrauisch gegenüber.

So erscheinen mir die Forschungsergebnisse bezüglich des Schlafverhaltens von Spezies unterschiedlicher Evolutionsstufen sehr bemerkenswert. Niedere Tiere, selbst Fische, schlafen überhaupt nicht, sondern ruhen sich nur aus. Etwas höhere Reptilien haben NREM-Schlaf, aber keinen REM-Schlaf. Erst die Säugetiere haben durchweg REM-Schlaf. Man schließt daraus, daß der REM-Schlaf eine modernere Erscheinung der Hirnentwicklung ist. Bei der Entwicklung eines menschlichen Individuums ist es umgekehrt: Der Säugling hat sehr viel REM-Schlaf; der Erwachsene wesentlich weniger.

Der NREM-Schlaf ist seiner inhaltlichen Thematik dem Wachzustand ähnlicher, als der REM-Schlaf. Seine Träume sind leichter zu deuten und weniger bizarr, als die REM-Träume.

Ich möchte nun an einigen Beispielen aus Flanagans Text zeigen, wie er sich in seiner eigenen Methode verirrt hat. In seinem 8. Kapitel „Natürliche Funktionen“ (510) präzisiert er seine Aufgabenstellung: „Es handelt sich darum, daß der Schlaf und die Phasen des Schlafzyklus – NREM- und REM-Schlaf – evolutionär selektiert wurden und durch den Selektionsdruck erhalten geblieben sind. Sie sind Adaptationen im biologischen Sinne des Wortes. Allerdings sind die mentalen Aspekte und die luziden Träume ... wahrscheinlich Epiphänomene in dem Sinne, daß sie zufallsbedingte Begleiterscheinungen der eigentlichen Funktionen des Schlafes sind.“

An diesem Zitat wird der ganze Irrweg des Autors sichtbar – und der Schlüssel zur wahren Lösung des Problems. Es geht um das Wörtchen „Zufall“.

Die mentalen Aspekte erachtet Flanagan für Epiphänomene, weil sie zufällig sein sollen und daher nicht ins Kausalsystem rückwirken können, denn Zufälle zerstören kausale Mechanismen – materielle, aber auch rationale Erklärungsmechanismen.

Schauen wir einmal nach, was aus dem „Zufall“ wird, wenn wir die Gedanken Flanagans mit Gerhard Roths Modell vergleichen. Dann resultiert nämlich der „Zufall“ aus der Umkehrung der Kausalität. Roth schreibt, daß das reale Gehirn Ursache des materiellen Gehirns sei, und Flanagan meint, das materielle Gehirn sei real und sei Ursache von Kognition. Bei einem ist also das materielle Gehirn Ursache, beim andern ist es Wirkung; bei einem gibt es Zufall; beim Andern nicht. Warum gibt es in Flanagans Modell den Zufall? Weil in einem Abbild nicht alle Aspekte seiner Ursache zu finden sind, wohl aber alle Aspekte des Abbildes in seiner Ursache liegen. Im Baum liegen die Antworten der Fragen, auf die man beim Betrachten seines Schattens kommen kann. Versucht man jedoch vom Schatten eines Baumes auf dessen Seins oder gar Lebendigseins zu schließen, muß man scheitern und letztlich auf den Zufall zurückgreifen, weil man keine Erklärung (Naturgesetze auf der Schattenebene) finden kann.

Der ZUFALL in der Erscheinungswelt weist also immer auf Einflüsse aus einer höheren Sphäre hin, von der aus gesehen es sich durchaus nicht um einen Zufall handelt. Wissenschaftler, für die Träume, Bewußtsein, Wille und dergleichen zufällige Epiphänomene sind, die nicht selektiert sind, weil sie durch das Raster der Evolutionstheorie und aller wissenschaftlichen Modelle überhaupt, durchfallen, mißachten die Begrenztheit ihres Modells und maßen sich Äußerungen außerhalb des Definitionsbereiches ihres Modells an.

Schluß:

Tholey schreibt:[2] „Wertheimer hat in seinem Beitrag 'Über Gestalttheorie' (1925) auf die Möglichkeit einer einheitlichen und umfassenden Feldtheorie hingewiesen. Er sagt, daß zwar jedem von uns nur ein Teil der gesamten Welt gegeben sei, aber er weist auf die Möglichkeit hin, 'an einem Teil des Ganzen zu erfassen, irgendetwas zu ahnen von dem Strukturprinzip des Ganzen, wobei dann die Grundgesetze nicht irgendwelche Stück-Gesetze sind, sondern Charaktergesetze dessen, was geschieht' (S. 120). Das ganzheitlich feldtheoretische Modell wendet Wertheimer auf alle Wissenschaften an; einen Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gibt es in der Gestalttheorie nicht, und es ist von diesem Standpunkt aus nicht einzusehen, warum gerade derjenige Ausschnitt der Natur, den wir am besten kennen, die Erlebniswelt, von den etablierten Naturwissenschaften, einschließlich der vorherrschenden psychologischen Richtungen, ausgeklammert wird.“

Es ist zwar nicht einzusehen, aber es genau dies scheint momentan in der modernen Bewußtseinsforschung stattzufinden: der Versuch, unsere Erlebniswelten aus den Naturwissenschaften auszuklammern. Mit meiner Arbeit kämpfe ich dagegen an.


 

[1] Owen Flanagan: Hirnforschung und Träume – Geistestätigkeit und Selbstausdruck im Schlaf, in Metzinger (Hrsg.): Bewußtsein, 1996

[2] Paul Tholey: die Entfaltung des Bewußtseins als ein Weg zur schöpferischen Freiheit – vom Träumer zum Krieger. In Bewußt Sein, Vol. 1 No. 1, 1989, Kap. 1.6: Zum Leib-Seele-Problem

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